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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Eduard Bernstein und die deutsche Sozialdemokratie

genossen, die Vorstellung von der einen reaktionären Masse und das Geschimpf
auf die "bürgerlichen Klassen," ja auch schon eine Redeweise aufzugeben, die
einen feindseligen Gegensatz zwischen Arbeitern und Bürgern voraussetzt. Das
Ziel der sozialistischen Bewegung sei nicht, die Bürger zu proletarisieren,
sondern so viel wie möglich Arbeiter zu Bürgern, zu Spießbürgern zu machen.
Die "eine reaktionäre Masse" sei so wenig einheitlich wie das Proletariat; sie
werde bloß durch die Furcht vor diesem zusammengehalten. Diese Furcht
müsse beseitigt und die Demokratie als Bundesgenossin für die Arbeiter ge¬
wonnen werden. "Viele Elemente des Bürgertums fühlen sich von andrer
Seite her bedrückt und würden lieber gegen diese, deren Druck auch auf der
Arbeiterklasse lastet, als gegen die Arbeiter Front machen. Sie mögen un¬
sichre Kantonisten sein, aber man erzieht schlechte Bundesgenossen, wenn man
ihnen erklärt, wir wollen euch helfen den Feind fressen, aber gleich hinterher
fressen wir euch. Da es sich unter keinen Umständen um eine allgemeine,
gleichzeitige und gewaltthätige Expropriation, sondern um die allmähliche Ab¬
lösung durch Organisation und Gesetz handelt, so würde es der demokratischen
Entwicklung sicher keinen Abbruch thun, wenn man der thatsächlich veralteten
Freßlegende auch in der Phrase den Abschied gäbe."

Das Programm, das er dann unter der Überschrift: Die nächsten Auf¬
gaben der Sozialdemokratie, entwickelt, ist denn auch mehr demokratisch oder
liberal als sozialdemokratisch zu nennen, nur daß er der konservativen Seite
in manchen Stücken weiter entgegenkommt, als z. B. die Deutschfreisinnigen.
So z. V. ist er nicht im mindesten international, will die Nationalitäten er¬
halten wissen und verpflichtet auch den Arbeiter, für den militärischen Schutz
seines Vaterlands zu sorgen. Vom Proletarier früherer Jahrzehnte habe man
sagen können, er habe kein Vaterland, jetzt, wo der Arbeiter mehr und mehr
zum Bürger werde, sei das anders. Tropische Kolonien hätten nicht die Be¬
deutung, die ihnen die Kolonialschwärmer zuschrieben, aber sie seien auch nicht
zu verachten, da es seine Vorteile habe, wenn eine Nation ihren Bedarf an
Kolonialwaren aus ihrem eignen Gebiet decken könne. Vom Standpunkte der
Verelendungstheorie habe die Sozialdemokratie das Streben nach Kolonien be¬
kämpft, weil sie von ihnen eine Milderung der sozialen Spannung und daher
eine Hinausschiebung der Katastrophe gefürchtet habe, aber selbst wenn die
Verelendungstheorie nicht abgethan wäre, würde sie keinen Grund gegen den
Erwerb von Kolonien abgeben, weil diese sich viel zu langsam entwickelten,
als daß sie eine bedeutende Rückwirkung auf die sozialen Zustände der Heimat
ausüben könnten. Für den Export kämen sie überhaupt nicht in Betracht,
sondern, wie die Ausfuhrstatistik beweise, nur die Länder alter Kultur. Selbst
gegen Kiautschou hat er nichts einzuwenden, denn wenn auch in China nicht viel
zu holen sei, so müsse Deutschland wenigstens festen Fuß dort fassen, um die
Schädigungen abzuwehren, die ihm aus der Aufteilung jenes Landes dnrch


Eduard Bernstein und die deutsche Sozialdemokratie

genossen, die Vorstellung von der einen reaktionären Masse und das Geschimpf
auf die „bürgerlichen Klassen," ja auch schon eine Redeweise aufzugeben, die
einen feindseligen Gegensatz zwischen Arbeitern und Bürgern voraussetzt. Das
Ziel der sozialistischen Bewegung sei nicht, die Bürger zu proletarisieren,
sondern so viel wie möglich Arbeiter zu Bürgern, zu Spießbürgern zu machen.
Die „eine reaktionäre Masse" sei so wenig einheitlich wie das Proletariat; sie
werde bloß durch die Furcht vor diesem zusammengehalten. Diese Furcht
müsse beseitigt und die Demokratie als Bundesgenossin für die Arbeiter ge¬
wonnen werden. „Viele Elemente des Bürgertums fühlen sich von andrer
Seite her bedrückt und würden lieber gegen diese, deren Druck auch auf der
Arbeiterklasse lastet, als gegen die Arbeiter Front machen. Sie mögen un¬
sichre Kantonisten sein, aber man erzieht schlechte Bundesgenossen, wenn man
ihnen erklärt, wir wollen euch helfen den Feind fressen, aber gleich hinterher
fressen wir euch. Da es sich unter keinen Umständen um eine allgemeine,
gleichzeitige und gewaltthätige Expropriation, sondern um die allmähliche Ab¬
lösung durch Organisation und Gesetz handelt, so würde es der demokratischen
Entwicklung sicher keinen Abbruch thun, wenn man der thatsächlich veralteten
Freßlegende auch in der Phrase den Abschied gäbe."

Das Programm, das er dann unter der Überschrift: Die nächsten Auf¬
gaben der Sozialdemokratie, entwickelt, ist denn auch mehr demokratisch oder
liberal als sozialdemokratisch zu nennen, nur daß er der konservativen Seite
in manchen Stücken weiter entgegenkommt, als z. B. die Deutschfreisinnigen.
So z. V. ist er nicht im mindesten international, will die Nationalitäten er¬
halten wissen und verpflichtet auch den Arbeiter, für den militärischen Schutz
seines Vaterlands zu sorgen. Vom Proletarier früherer Jahrzehnte habe man
sagen können, er habe kein Vaterland, jetzt, wo der Arbeiter mehr und mehr
zum Bürger werde, sei das anders. Tropische Kolonien hätten nicht die Be¬
deutung, die ihnen die Kolonialschwärmer zuschrieben, aber sie seien auch nicht
zu verachten, da es seine Vorteile habe, wenn eine Nation ihren Bedarf an
Kolonialwaren aus ihrem eignen Gebiet decken könne. Vom Standpunkte der
Verelendungstheorie habe die Sozialdemokratie das Streben nach Kolonien be¬
kämpft, weil sie von ihnen eine Milderung der sozialen Spannung und daher
eine Hinausschiebung der Katastrophe gefürchtet habe, aber selbst wenn die
Verelendungstheorie nicht abgethan wäre, würde sie keinen Grund gegen den
Erwerb von Kolonien abgeben, weil diese sich viel zu langsam entwickelten,
als daß sie eine bedeutende Rückwirkung auf die sozialen Zustände der Heimat
ausüben könnten. Für den Export kämen sie überhaupt nicht in Betracht,
sondern, wie die Ausfuhrstatistik beweise, nur die Länder alter Kultur. Selbst
gegen Kiautschou hat er nichts einzuwenden, denn wenn auch in China nicht viel
zu holen sei, so müsse Deutschland wenigstens festen Fuß dort fassen, um die
Schädigungen abzuwehren, die ihm aus der Aufteilung jenes Landes dnrch


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[0408] Eduard Bernstein und die deutsche Sozialdemokratie genossen, die Vorstellung von der einen reaktionären Masse und das Geschimpf auf die „bürgerlichen Klassen," ja auch schon eine Redeweise aufzugeben, die einen feindseligen Gegensatz zwischen Arbeitern und Bürgern voraussetzt. Das Ziel der sozialistischen Bewegung sei nicht, die Bürger zu proletarisieren, sondern so viel wie möglich Arbeiter zu Bürgern, zu Spießbürgern zu machen. Die „eine reaktionäre Masse" sei so wenig einheitlich wie das Proletariat; sie werde bloß durch die Furcht vor diesem zusammengehalten. Diese Furcht müsse beseitigt und die Demokratie als Bundesgenossin für die Arbeiter ge¬ wonnen werden. „Viele Elemente des Bürgertums fühlen sich von andrer Seite her bedrückt und würden lieber gegen diese, deren Druck auch auf der Arbeiterklasse lastet, als gegen die Arbeiter Front machen. Sie mögen un¬ sichre Kantonisten sein, aber man erzieht schlechte Bundesgenossen, wenn man ihnen erklärt, wir wollen euch helfen den Feind fressen, aber gleich hinterher fressen wir euch. Da es sich unter keinen Umständen um eine allgemeine, gleichzeitige und gewaltthätige Expropriation, sondern um die allmähliche Ab¬ lösung durch Organisation und Gesetz handelt, so würde es der demokratischen Entwicklung sicher keinen Abbruch thun, wenn man der thatsächlich veralteten Freßlegende auch in der Phrase den Abschied gäbe." Das Programm, das er dann unter der Überschrift: Die nächsten Auf¬ gaben der Sozialdemokratie, entwickelt, ist denn auch mehr demokratisch oder liberal als sozialdemokratisch zu nennen, nur daß er der konservativen Seite in manchen Stücken weiter entgegenkommt, als z. B. die Deutschfreisinnigen. So z. V. ist er nicht im mindesten international, will die Nationalitäten er¬ halten wissen und verpflichtet auch den Arbeiter, für den militärischen Schutz seines Vaterlands zu sorgen. Vom Proletarier früherer Jahrzehnte habe man sagen können, er habe kein Vaterland, jetzt, wo der Arbeiter mehr und mehr zum Bürger werde, sei das anders. Tropische Kolonien hätten nicht die Be¬ deutung, die ihnen die Kolonialschwärmer zuschrieben, aber sie seien auch nicht zu verachten, da es seine Vorteile habe, wenn eine Nation ihren Bedarf an Kolonialwaren aus ihrem eignen Gebiet decken könne. Vom Standpunkte der Verelendungstheorie habe die Sozialdemokratie das Streben nach Kolonien be¬ kämpft, weil sie von ihnen eine Milderung der sozialen Spannung und daher eine Hinausschiebung der Katastrophe gefürchtet habe, aber selbst wenn die Verelendungstheorie nicht abgethan wäre, würde sie keinen Grund gegen den Erwerb von Kolonien abgeben, weil diese sich viel zu langsam entwickelten, als daß sie eine bedeutende Rückwirkung auf die sozialen Zustände der Heimat ausüben könnten. Für den Export kämen sie überhaupt nicht in Betracht, sondern, wie die Ausfuhrstatistik beweise, nur die Länder alter Kultur. Selbst gegen Kiautschou hat er nichts einzuwenden, denn wenn auch in China nicht viel zu holen sei, so müsse Deutschland wenigstens festen Fuß dort fassen, um die Schädigungen abzuwehren, die ihm aus der Aufteilung jenes Landes dnrch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/408>, abgerufen am 28.09.2024.