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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Eduard Bernstein und die deutsche Sozialdemokratie

leicht Wäre. Bernstein eignet sich die von Oppenhcimer aufgestellte Unter¬
scheidung der Genossenschaften in Käufer- und Verknufergenossenschaften an,
sowie auch die von dem genannten entwickelten Gründe, warum wohl die Ge¬
sellschaften von Käufern, nicht aber die von Verkäufern gedeihen iber haupt¬
sächlichste ist, daß durch die Vermehrung der Mitgliederzahl die Mitglieder
der Konsumvereine gewinnen, die der Produktivgenossenschaften verlieren). Er
hält die Produktivgenossenschaften nicht für absolut unmöglich, glaubt im
Gegenteil, daß dem genossenschaftlichen Betriebe die Zukunft gehöre, hebt aber
hervor, daß die Gegenwart noch unendlich weit entfernt sei von dieser Pro-
dnktionsform. Wie die Erfahrung beweise, seien vor der Hand weder Arbeiter¬
genossenschaften, noch der Staat, noch die Kommunen befähigt, alle Produk¬
tionsbetriebe zu übernehmen. Aber auf dem Wege, der sich bisher als gang¬
bar erwiesen habe, müsse fortgefahren werden, d. h. die Konsumvereine mit
ihren produktiven Unternehmungen müßten weiter gepflegt werden, und die
Kommunen müßten mehr und mehr die sozialen Aufgaben übernehmen, denen
sie gewachsen seien. So werde man sich, wenn auch sehr langsam, dem
Ideal des Sozialismus allmählich nähern. Einen ganz ähnlichen Gedanken-
gang fanden wir dieser Tage in der 8g,t,uräa^ lisvisv (Ur. vom 8. April).
Die Untersuchungen der Sozialisten, sagt der Verfasser, "leisten den Regie¬
renden wichtige Dienste. Die Sozialisten flößen uus keine Furcht mehr ein,
seitdem wir entdeckt haben, daß nicht sie uns unser Eigentum, sondern wir
ihnen ihre Ideen rauben. Die Torhgesetzgebung der letzten Jahrzehnte ist mit
sozialistischen Ideen durchtränkt, und sogar die Radikalen haben sich dem Ein¬
fluß dieser Ideen nicht entziehen können: wir sind jetzt alle Sozialisten. Dieser
Erfolg des Sozialismus ist hauptsächlich dem Umstände zu verdanken, daß die
Fabler ein gemäßigtes sozialistisches Programm aufgestellt haben. Wir hören jetzt
nichts mehr davon, daß die Grundbesitzer mit einer Steuer von zwanzig Schilling
auf das Pfund belegt werden sollen. Solange die Sozialisten sagten, sie wollten
die industriellen Unternehmungen verstaatlichen, wies der britische Mutterwitz
solchen Unsinn zurück. Aber als ihm dann erörtert wurde, daß eine Stadt,
ein Grafschaftsrat die Straßen besser und wohlfeiler mit Licht und Wasser
versorgen werde als eine Privatgesellschaft, nahm er das als einen diskutnbeln
geschäftlichen Vorschlag auf." Der Verfasser bemerkt dann noch, es sei ein
Glück für die englischen Sozialisten, daß sie es zu keiner parlamentarischen
Fraktion gebracht hätten; eine solche würde verhängnisvoll für ihre Tugend
werden und sie ihrem Beruf entfremden, der darin bestehe, die Leute zu eiuer
ernsthaften Auffassung ihrer Bürgerpflichten zu erziehen.

Bernstein sieht die politische Aufgabe der Sozialdemokratie hauptsächlich
in der Förderung der Demokratie. Demokratie aber ist ihm die Abwesenheit
jeder Klassenherrschaft, also nicht die "Diktatur des Proletariats," die ja auch
nur eine neue Art Klassenherrschaft sein würde. Er ermahnt seine Partei-


Eduard Bernstein und die deutsche Sozialdemokratie

leicht Wäre. Bernstein eignet sich die von Oppenhcimer aufgestellte Unter¬
scheidung der Genossenschaften in Käufer- und Verknufergenossenschaften an,
sowie auch die von dem genannten entwickelten Gründe, warum wohl die Ge¬
sellschaften von Käufern, nicht aber die von Verkäufern gedeihen iber haupt¬
sächlichste ist, daß durch die Vermehrung der Mitgliederzahl die Mitglieder
der Konsumvereine gewinnen, die der Produktivgenossenschaften verlieren). Er
hält die Produktivgenossenschaften nicht für absolut unmöglich, glaubt im
Gegenteil, daß dem genossenschaftlichen Betriebe die Zukunft gehöre, hebt aber
hervor, daß die Gegenwart noch unendlich weit entfernt sei von dieser Pro-
dnktionsform. Wie die Erfahrung beweise, seien vor der Hand weder Arbeiter¬
genossenschaften, noch der Staat, noch die Kommunen befähigt, alle Produk¬
tionsbetriebe zu übernehmen. Aber auf dem Wege, der sich bisher als gang¬
bar erwiesen habe, müsse fortgefahren werden, d. h. die Konsumvereine mit
ihren produktiven Unternehmungen müßten weiter gepflegt werden, und die
Kommunen müßten mehr und mehr die sozialen Aufgaben übernehmen, denen
sie gewachsen seien. So werde man sich, wenn auch sehr langsam, dem
Ideal des Sozialismus allmählich nähern. Einen ganz ähnlichen Gedanken-
gang fanden wir dieser Tage in der 8g,t,uräa^ lisvisv (Ur. vom 8. April).
Die Untersuchungen der Sozialisten, sagt der Verfasser, „leisten den Regie¬
renden wichtige Dienste. Die Sozialisten flößen uus keine Furcht mehr ein,
seitdem wir entdeckt haben, daß nicht sie uns unser Eigentum, sondern wir
ihnen ihre Ideen rauben. Die Torhgesetzgebung der letzten Jahrzehnte ist mit
sozialistischen Ideen durchtränkt, und sogar die Radikalen haben sich dem Ein¬
fluß dieser Ideen nicht entziehen können: wir sind jetzt alle Sozialisten. Dieser
Erfolg des Sozialismus ist hauptsächlich dem Umstände zu verdanken, daß die
Fabler ein gemäßigtes sozialistisches Programm aufgestellt haben. Wir hören jetzt
nichts mehr davon, daß die Grundbesitzer mit einer Steuer von zwanzig Schilling
auf das Pfund belegt werden sollen. Solange die Sozialisten sagten, sie wollten
die industriellen Unternehmungen verstaatlichen, wies der britische Mutterwitz
solchen Unsinn zurück. Aber als ihm dann erörtert wurde, daß eine Stadt,
ein Grafschaftsrat die Straßen besser und wohlfeiler mit Licht und Wasser
versorgen werde als eine Privatgesellschaft, nahm er das als einen diskutnbeln
geschäftlichen Vorschlag auf." Der Verfasser bemerkt dann noch, es sei ein
Glück für die englischen Sozialisten, daß sie es zu keiner parlamentarischen
Fraktion gebracht hätten; eine solche würde verhängnisvoll für ihre Tugend
werden und sie ihrem Beruf entfremden, der darin bestehe, die Leute zu eiuer
ernsthaften Auffassung ihrer Bürgerpflichten zu erziehen.

Bernstein sieht die politische Aufgabe der Sozialdemokratie hauptsächlich
in der Förderung der Demokratie. Demokratie aber ist ihm die Abwesenheit
jeder Klassenherrschaft, also nicht die „Diktatur des Proletariats," die ja auch
nur eine neue Art Klassenherrschaft sein würde. Er ermahnt seine Partei-


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[0407] Eduard Bernstein und die deutsche Sozialdemokratie leicht Wäre. Bernstein eignet sich die von Oppenhcimer aufgestellte Unter¬ scheidung der Genossenschaften in Käufer- und Verknufergenossenschaften an, sowie auch die von dem genannten entwickelten Gründe, warum wohl die Ge¬ sellschaften von Käufern, nicht aber die von Verkäufern gedeihen iber haupt¬ sächlichste ist, daß durch die Vermehrung der Mitgliederzahl die Mitglieder der Konsumvereine gewinnen, die der Produktivgenossenschaften verlieren). Er hält die Produktivgenossenschaften nicht für absolut unmöglich, glaubt im Gegenteil, daß dem genossenschaftlichen Betriebe die Zukunft gehöre, hebt aber hervor, daß die Gegenwart noch unendlich weit entfernt sei von dieser Pro- dnktionsform. Wie die Erfahrung beweise, seien vor der Hand weder Arbeiter¬ genossenschaften, noch der Staat, noch die Kommunen befähigt, alle Produk¬ tionsbetriebe zu übernehmen. Aber auf dem Wege, der sich bisher als gang¬ bar erwiesen habe, müsse fortgefahren werden, d. h. die Konsumvereine mit ihren produktiven Unternehmungen müßten weiter gepflegt werden, und die Kommunen müßten mehr und mehr die sozialen Aufgaben übernehmen, denen sie gewachsen seien. So werde man sich, wenn auch sehr langsam, dem Ideal des Sozialismus allmählich nähern. Einen ganz ähnlichen Gedanken- gang fanden wir dieser Tage in der 8g,t,uräa^ lisvisv (Ur. vom 8. April). Die Untersuchungen der Sozialisten, sagt der Verfasser, „leisten den Regie¬ renden wichtige Dienste. Die Sozialisten flößen uus keine Furcht mehr ein, seitdem wir entdeckt haben, daß nicht sie uns unser Eigentum, sondern wir ihnen ihre Ideen rauben. Die Torhgesetzgebung der letzten Jahrzehnte ist mit sozialistischen Ideen durchtränkt, und sogar die Radikalen haben sich dem Ein¬ fluß dieser Ideen nicht entziehen können: wir sind jetzt alle Sozialisten. Dieser Erfolg des Sozialismus ist hauptsächlich dem Umstände zu verdanken, daß die Fabler ein gemäßigtes sozialistisches Programm aufgestellt haben. Wir hören jetzt nichts mehr davon, daß die Grundbesitzer mit einer Steuer von zwanzig Schilling auf das Pfund belegt werden sollen. Solange die Sozialisten sagten, sie wollten die industriellen Unternehmungen verstaatlichen, wies der britische Mutterwitz solchen Unsinn zurück. Aber als ihm dann erörtert wurde, daß eine Stadt, ein Grafschaftsrat die Straßen besser und wohlfeiler mit Licht und Wasser versorgen werde als eine Privatgesellschaft, nahm er das als einen diskutnbeln geschäftlichen Vorschlag auf." Der Verfasser bemerkt dann noch, es sei ein Glück für die englischen Sozialisten, daß sie es zu keiner parlamentarischen Fraktion gebracht hätten; eine solche würde verhängnisvoll für ihre Tugend werden und sie ihrem Beruf entfremden, der darin bestehe, die Leute zu eiuer ernsthaften Auffassung ihrer Bürgerpflichten zu erziehen. Bernstein sieht die politische Aufgabe der Sozialdemokratie hauptsächlich in der Förderung der Demokratie. Demokratie aber ist ihm die Abwesenheit jeder Klassenherrschaft, also nicht die „Diktatur des Proletariats," die ja auch nur eine neue Art Klassenherrschaft sein würde. Er ermahnt seine Partei-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/407>, abgerufen am 28.09.2024.