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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Zur Charakteristik der italienischen Hochrenaissance

gekürzt worden ist." Anregend und reich an neuen Einzelbeobachtungen ist
die Behandlung Raffaels. Hinsichtlich der Handzeichnungen zu den Stanzen
und Teppichen steht Wölsflin auf dem kritischen Standpunkt Dollmayrs. Die
Würdigung der Teppichkompositionen gehört zu dem Besten, was über einen
Stil gesagt worden ist. Ich will daraus nur ein Beispiel geben. Bekannter¬
maßen ist ja der Ausdruck der Köpfe im Verhältnis zu den Stanzenbildern
hier sehr gesteigert, es tritt viel leidenschaftliche Augenblicksbewegung hervor
und wenig bleibender, individueller Charakter, und dies giebt dann die Grund¬
lage für die Art, wie die Maler des Barock das Physiognomische zu behandeln
pflegen. "Es sind, bemerkt der Verfasser, Typen des großen staunenden Er¬
schreckens, wie sie die Kunst der nächsten Jahrhunderte zu ungezählten malen
wiederholt hat. Sie sind akademische Ausdrucksschemata geworden. Man hat
unendlich viel Unfug getrieben durch Übertragung dieser italienischen Gebärden¬
sprache auf nordischen Boden. Auch die Italiener aber haben das Gefühl für
den natürlichen Ausdruck zeitweise völlig verloren und sind ins Konstruieren
verfallen. Wie weit die Bewegungen hier noch natürlich sind, wollen wir als
Ausländer nicht beurteilen." Gut wird auch an einer besondern Gattung, am
Porträt, entwickelt, auf welchen Mitteln der neue Stil beruht, wie Lionardos
Mona Lisa noch halb im Quattrocento steckt, und wie sich dann in Raffaels
und Sebasticmos römischen Bildnissen zuerst der freie und große Ausdruck
aller Hauptformen und der volle Gegensatz zeigt gegen das befangne und über¬
mäßig ausgeführte Porträt der florentinischen Frührenaissance.

Manchmal überschlügt sich auch die Charakteristik des Verfassers ein wenig
in dem Bestreben nach möglichst scharfem Ausdruck. So wenn im Vergleich
zu der Ruhe und Größe Lionardos seinen florentinischen Vorgängern alles
"Adliche" abgesprochen wird: "bei keinem Quattrocentisten stellt sich einem das
Wort ein." Für mich sind die Versammlungen der Cittadini auf den Fresken
Filippo Lippis in Prato oder Ghirlcmdajos in der Sixtina und in der Maria
Novella adlich genug. Ebenso wenig möchte ich zugeben, daß auf Lionardos
Madonna in der Grotte im Louvre das Fingerzeichen des Engels eine "echt
quattrocentistische" Gebärde wäre, wenn ich auch mit dem Verfasser glaube,
daß das Pariser Exemplar des Bildes früher ist als das Londoner. Übrigens
ist man nach den vielen zweifelhaften Bereicherungen des Lionardoschen Werkes
in jüngster Zeit, wie es scheint, wieder stark kritisch geworden, sodaß Wölfslin
ebenso wie Burckhardt die dslls ^örronniöiö des Louvre dem Boltraffio geben
möchte, weil sie "nicht in das Werk Lionardos hineinpaßt." Doch das nebenbei.

Auf den historischen Teil des Buches folgt nun die systematische Betrach¬
tung, eine Ästhetik des klassischen Stils. Bisher sind wir auf die Unterschiede
des fünfzehnten und des sechzehnten Jahrhunderts durch entgegengesetzte Bei¬
spiele aufmerksam gemacht worden. Jetzt sollen wir davor behütet werden,
daß wir die Gegensätze überspannen, wir sollen erkennen, daß sich die neue


Zur Charakteristik der italienischen Hochrenaissance

gekürzt worden ist." Anregend und reich an neuen Einzelbeobachtungen ist
die Behandlung Raffaels. Hinsichtlich der Handzeichnungen zu den Stanzen
und Teppichen steht Wölsflin auf dem kritischen Standpunkt Dollmayrs. Die
Würdigung der Teppichkompositionen gehört zu dem Besten, was über einen
Stil gesagt worden ist. Ich will daraus nur ein Beispiel geben. Bekannter¬
maßen ist ja der Ausdruck der Köpfe im Verhältnis zu den Stanzenbildern
hier sehr gesteigert, es tritt viel leidenschaftliche Augenblicksbewegung hervor
und wenig bleibender, individueller Charakter, und dies giebt dann die Grund¬
lage für die Art, wie die Maler des Barock das Physiognomische zu behandeln
pflegen. „Es sind, bemerkt der Verfasser, Typen des großen staunenden Er¬
schreckens, wie sie die Kunst der nächsten Jahrhunderte zu ungezählten malen
wiederholt hat. Sie sind akademische Ausdrucksschemata geworden. Man hat
unendlich viel Unfug getrieben durch Übertragung dieser italienischen Gebärden¬
sprache auf nordischen Boden. Auch die Italiener aber haben das Gefühl für
den natürlichen Ausdruck zeitweise völlig verloren und sind ins Konstruieren
verfallen. Wie weit die Bewegungen hier noch natürlich sind, wollen wir als
Ausländer nicht beurteilen." Gut wird auch an einer besondern Gattung, am
Porträt, entwickelt, auf welchen Mitteln der neue Stil beruht, wie Lionardos
Mona Lisa noch halb im Quattrocento steckt, und wie sich dann in Raffaels
und Sebasticmos römischen Bildnissen zuerst der freie und große Ausdruck
aller Hauptformen und der volle Gegensatz zeigt gegen das befangne und über¬
mäßig ausgeführte Porträt der florentinischen Frührenaissance.

Manchmal überschlügt sich auch die Charakteristik des Verfassers ein wenig
in dem Bestreben nach möglichst scharfem Ausdruck. So wenn im Vergleich
zu der Ruhe und Größe Lionardos seinen florentinischen Vorgängern alles
„Adliche" abgesprochen wird: „bei keinem Quattrocentisten stellt sich einem das
Wort ein." Für mich sind die Versammlungen der Cittadini auf den Fresken
Filippo Lippis in Prato oder Ghirlcmdajos in der Sixtina und in der Maria
Novella adlich genug. Ebenso wenig möchte ich zugeben, daß auf Lionardos
Madonna in der Grotte im Louvre das Fingerzeichen des Engels eine „echt
quattrocentistische" Gebärde wäre, wenn ich auch mit dem Verfasser glaube,
daß das Pariser Exemplar des Bildes früher ist als das Londoner. Übrigens
ist man nach den vielen zweifelhaften Bereicherungen des Lionardoschen Werkes
in jüngster Zeit, wie es scheint, wieder stark kritisch geworden, sodaß Wölfslin
ebenso wie Burckhardt die dslls ^örronniöiö des Louvre dem Boltraffio geben
möchte, weil sie „nicht in das Werk Lionardos hineinpaßt." Doch das nebenbei.

Auf den historischen Teil des Buches folgt nun die systematische Betrach¬
tung, eine Ästhetik des klassischen Stils. Bisher sind wir auf die Unterschiede
des fünfzehnten und des sechzehnten Jahrhunderts durch entgegengesetzte Bei¬
spiele aufmerksam gemacht worden. Jetzt sollen wir davor behütet werden,
daß wir die Gegensätze überspannen, wir sollen erkennen, daß sich die neue


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[0374] Zur Charakteristik der italienischen Hochrenaissance gekürzt worden ist." Anregend und reich an neuen Einzelbeobachtungen ist die Behandlung Raffaels. Hinsichtlich der Handzeichnungen zu den Stanzen und Teppichen steht Wölsflin auf dem kritischen Standpunkt Dollmayrs. Die Würdigung der Teppichkompositionen gehört zu dem Besten, was über einen Stil gesagt worden ist. Ich will daraus nur ein Beispiel geben. Bekannter¬ maßen ist ja der Ausdruck der Köpfe im Verhältnis zu den Stanzenbildern hier sehr gesteigert, es tritt viel leidenschaftliche Augenblicksbewegung hervor und wenig bleibender, individueller Charakter, und dies giebt dann die Grund¬ lage für die Art, wie die Maler des Barock das Physiognomische zu behandeln pflegen. „Es sind, bemerkt der Verfasser, Typen des großen staunenden Er¬ schreckens, wie sie die Kunst der nächsten Jahrhunderte zu ungezählten malen wiederholt hat. Sie sind akademische Ausdrucksschemata geworden. Man hat unendlich viel Unfug getrieben durch Übertragung dieser italienischen Gebärden¬ sprache auf nordischen Boden. Auch die Italiener aber haben das Gefühl für den natürlichen Ausdruck zeitweise völlig verloren und sind ins Konstruieren verfallen. Wie weit die Bewegungen hier noch natürlich sind, wollen wir als Ausländer nicht beurteilen." Gut wird auch an einer besondern Gattung, am Porträt, entwickelt, auf welchen Mitteln der neue Stil beruht, wie Lionardos Mona Lisa noch halb im Quattrocento steckt, und wie sich dann in Raffaels und Sebasticmos römischen Bildnissen zuerst der freie und große Ausdruck aller Hauptformen und der volle Gegensatz zeigt gegen das befangne und über¬ mäßig ausgeführte Porträt der florentinischen Frührenaissance. Manchmal überschlügt sich auch die Charakteristik des Verfassers ein wenig in dem Bestreben nach möglichst scharfem Ausdruck. So wenn im Vergleich zu der Ruhe und Größe Lionardos seinen florentinischen Vorgängern alles „Adliche" abgesprochen wird: „bei keinem Quattrocentisten stellt sich einem das Wort ein." Für mich sind die Versammlungen der Cittadini auf den Fresken Filippo Lippis in Prato oder Ghirlcmdajos in der Sixtina und in der Maria Novella adlich genug. Ebenso wenig möchte ich zugeben, daß auf Lionardos Madonna in der Grotte im Louvre das Fingerzeichen des Engels eine „echt quattrocentistische" Gebärde wäre, wenn ich auch mit dem Verfasser glaube, daß das Pariser Exemplar des Bildes früher ist als das Londoner. Übrigens ist man nach den vielen zweifelhaften Bereicherungen des Lionardoschen Werkes in jüngster Zeit, wie es scheint, wieder stark kritisch geworden, sodaß Wölfslin ebenso wie Burckhardt die dslls ^örronniöiö des Louvre dem Boltraffio geben möchte, weil sie „nicht in das Werk Lionardos hineinpaßt." Doch das nebenbei. Auf den historischen Teil des Buches folgt nun die systematische Betrach¬ tung, eine Ästhetik des klassischen Stils. Bisher sind wir auf die Unterschiede des fünfzehnten und des sechzehnten Jahrhunderts durch entgegengesetzte Bei¬ spiele aufmerksam gemacht worden. Jetzt sollen wir davor behütet werden, daß wir die Gegensätze überspannen, wir sollen erkennen, daß sich die neue

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/374>, abgerufen am 28.09.2024.