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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Zur "Charakteristik der italienischen Hochrenaissance

ist ungezwungner, leichter, müheloser. Denn der klassische Stil vereinfacht
zwar die individuelle Mannigfaltigkeit des Quattrocento, aber er verflacht
darum doch nicht das Naturbild, wie es manchmal für den ersten oberfläch¬
lichen Blick den Anschein hat. Man wird im Gegenteil finden, daß die Ana¬
tomie der Formen und die Funktion der Gliedmaßen im Cinquecento, z. B.
bei dem vermeintlich idealisierenden Raffael naturwahrer und schärfer gegeben
sind als bei den frühern. Außerdem aber haben wir bei aller Ruhe doch auch
wieder viel mehr Bewegung im engsten Raume, nur geregelte und zweckmäßige
Bewegung anstatt des ziellosen Hin- und Herfcchrens der Motive im Quattro¬
cento, von denen das eine das andre in seiner Wirkung aufhebt. Nehmen
wir endlich noch die Vereinfachung der Hintergründe, wobei aber an sich große
Erscheinungen in Landschaft und Architektur gewonnen werden und ein besseres
Zusammenwirken aller Bildteile als früher erreicht wird: so haben wir etwa
das Wesentliche des großen Stils, soweit er auf der Zeichnung beruht, bei¬
sammen. Nach der Seite des Malerischen aber, in Luft und Licht und Farbe,
sind die Fortschritte gegenüber dem Quattrocento unendlich, auch wenn wir
die Venezianer, die eigentlichen Herrscher auf diesem Gebiete, uoch gar nicht
mit in die Rechnung aufnehmen.

Wieviel von dem neuen Stil auf des einen Lionardos Anteil kommt, sieht
man am besten, wenn man neben seine Werke annähernd gleichzeitige und den
Gegenständen nach ähnliche andrer stellt, z. B. Bilder von Sandro Botticelli,
Lorenzo ti Credi oder Ghirlandajo; man meint dann, diese müßten viel älter,
und der Zeitabstand von Lionardo müßte größer sein. Selbst Naffael erscheint
in seiner Disputa noch gebunden und steif, wenn man sich vorstellt, was wohl
aus demselben Gegenstande Lionardo gemacht haben würde, der mit seinem
ältern Abendmahle dem Naffael des ersten Stanzenbildes schon viele Schritte
voraus war. Die Disputa hat eine, gegen das Quattrocento gehalten, geklärte
Anordnung, aber noch nicht viel neue Bewegung, sondern eine Einfachheit, die
an Perugino erinnert. In Florenz suchten die Maler auf der Grenze der
beiden Jahrhunderte zweierlei: Plastik und Bewegung. Das lernte auch
Naffael dort. Nun ist aber beachtenswert, wie Perugino, der jetzt stark unter¬
schätzte, bei Wölfflin wieder zu Ehren kommt. Von ihm konnten die Floren¬
tiner nicht nur die Beseelung der Köpfe lernen, wenn sie seine weiche" und
zarten Gesichter ansahen, sondern mich die schöne Linie, das würdevolle und
dabei gefüllige Thronen der Madonna, endlich die Einpassung weniger Figuren
in eine einfache, aber wirksame Architektur oder Landschaft. Unser Eindruck
von Perugino wird leicht durch die Nachlässigkeiten seines Alters bestimmt;
dem gegenüber war es richtig, hervorzuheben, was Raffael an seinem Lehrer
in dessen bessern Tagen haben konnte. "Mit seinem Prinzip der Vereinfachung
und Gesetzlichkeit ist Perugino ein wichtiges Element am Vorabend der klas¬
sischen Kunst, und man begreift, wie sehr durch ihn der Weg sür Raffael ab-


Zur «Charakteristik der italienischen Hochrenaissance

ist ungezwungner, leichter, müheloser. Denn der klassische Stil vereinfacht
zwar die individuelle Mannigfaltigkeit des Quattrocento, aber er verflacht
darum doch nicht das Naturbild, wie es manchmal für den ersten oberfläch¬
lichen Blick den Anschein hat. Man wird im Gegenteil finden, daß die Ana¬
tomie der Formen und die Funktion der Gliedmaßen im Cinquecento, z. B.
bei dem vermeintlich idealisierenden Raffael naturwahrer und schärfer gegeben
sind als bei den frühern. Außerdem aber haben wir bei aller Ruhe doch auch
wieder viel mehr Bewegung im engsten Raume, nur geregelte und zweckmäßige
Bewegung anstatt des ziellosen Hin- und Herfcchrens der Motive im Quattro¬
cento, von denen das eine das andre in seiner Wirkung aufhebt. Nehmen
wir endlich noch die Vereinfachung der Hintergründe, wobei aber an sich große
Erscheinungen in Landschaft und Architektur gewonnen werden und ein besseres
Zusammenwirken aller Bildteile als früher erreicht wird: so haben wir etwa
das Wesentliche des großen Stils, soweit er auf der Zeichnung beruht, bei¬
sammen. Nach der Seite des Malerischen aber, in Luft und Licht und Farbe,
sind die Fortschritte gegenüber dem Quattrocento unendlich, auch wenn wir
die Venezianer, die eigentlichen Herrscher auf diesem Gebiete, uoch gar nicht
mit in die Rechnung aufnehmen.

Wieviel von dem neuen Stil auf des einen Lionardos Anteil kommt, sieht
man am besten, wenn man neben seine Werke annähernd gleichzeitige und den
Gegenständen nach ähnliche andrer stellt, z. B. Bilder von Sandro Botticelli,
Lorenzo ti Credi oder Ghirlandajo; man meint dann, diese müßten viel älter,
und der Zeitabstand von Lionardo müßte größer sein. Selbst Naffael erscheint
in seiner Disputa noch gebunden und steif, wenn man sich vorstellt, was wohl
aus demselben Gegenstande Lionardo gemacht haben würde, der mit seinem
ältern Abendmahle dem Naffael des ersten Stanzenbildes schon viele Schritte
voraus war. Die Disputa hat eine, gegen das Quattrocento gehalten, geklärte
Anordnung, aber noch nicht viel neue Bewegung, sondern eine Einfachheit, die
an Perugino erinnert. In Florenz suchten die Maler auf der Grenze der
beiden Jahrhunderte zweierlei: Plastik und Bewegung. Das lernte auch
Naffael dort. Nun ist aber beachtenswert, wie Perugino, der jetzt stark unter¬
schätzte, bei Wölfflin wieder zu Ehren kommt. Von ihm konnten die Floren¬
tiner nicht nur die Beseelung der Köpfe lernen, wenn sie seine weiche» und
zarten Gesichter ansahen, sondern mich die schöne Linie, das würdevolle und
dabei gefüllige Thronen der Madonna, endlich die Einpassung weniger Figuren
in eine einfache, aber wirksame Architektur oder Landschaft. Unser Eindruck
von Perugino wird leicht durch die Nachlässigkeiten seines Alters bestimmt;
dem gegenüber war es richtig, hervorzuheben, was Raffael an seinem Lehrer
in dessen bessern Tagen haben konnte. „Mit seinem Prinzip der Vereinfachung
und Gesetzlichkeit ist Perugino ein wichtiges Element am Vorabend der klas¬
sischen Kunst, und man begreift, wie sehr durch ihn der Weg sür Raffael ab-


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[0373] Zur «Charakteristik der italienischen Hochrenaissance ist ungezwungner, leichter, müheloser. Denn der klassische Stil vereinfacht zwar die individuelle Mannigfaltigkeit des Quattrocento, aber er verflacht darum doch nicht das Naturbild, wie es manchmal für den ersten oberfläch¬ lichen Blick den Anschein hat. Man wird im Gegenteil finden, daß die Ana¬ tomie der Formen und die Funktion der Gliedmaßen im Cinquecento, z. B. bei dem vermeintlich idealisierenden Raffael naturwahrer und schärfer gegeben sind als bei den frühern. Außerdem aber haben wir bei aller Ruhe doch auch wieder viel mehr Bewegung im engsten Raume, nur geregelte und zweckmäßige Bewegung anstatt des ziellosen Hin- und Herfcchrens der Motive im Quattro¬ cento, von denen das eine das andre in seiner Wirkung aufhebt. Nehmen wir endlich noch die Vereinfachung der Hintergründe, wobei aber an sich große Erscheinungen in Landschaft und Architektur gewonnen werden und ein besseres Zusammenwirken aller Bildteile als früher erreicht wird: so haben wir etwa das Wesentliche des großen Stils, soweit er auf der Zeichnung beruht, bei¬ sammen. Nach der Seite des Malerischen aber, in Luft und Licht und Farbe, sind die Fortschritte gegenüber dem Quattrocento unendlich, auch wenn wir die Venezianer, die eigentlichen Herrscher auf diesem Gebiete, uoch gar nicht mit in die Rechnung aufnehmen. Wieviel von dem neuen Stil auf des einen Lionardos Anteil kommt, sieht man am besten, wenn man neben seine Werke annähernd gleichzeitige und den Gegenständen nach ähnliche andrer stellt, z. B. Bilder von Sandro Botticelli, Lorenzo ti Credi oder Ghirlandajo; man meint dann, diese müßten viel älter, und der Zeitabstand von Lionardo müßte größer sein. Selbst Naffael erscheint in seiner Disputa noch gebunden und steif, wenn man sich vorstellt, was wohl aus demselben Gegenstande Lionardo gemacht haben würde, der mit seinem ältern Abendmahle dem Naffael des ersten Stanzenbildes schon viele Schritte voraus war. Die Disputa hat eine, gegen das Quattrocento gehalten, geklärte Anordnung, aber noch nicht viel neue Bewegung, sondern eine Einfachheit, die an Perugino erinnert. In Florenz suchten die Maler auf der Grenze der beiden Jahrhunderte zweierlei: Plastik und Bewegung. Das lernte auch Naffael dort. Nun ist aber beachtenswert, wie Perugino, der jetzt stark unter¬ schätzte, bei Wölfflin wieder zu Ehren kommt. Von ihm konnten die Floren¬ tiner nicht nur die Beseelung der Köpfe lernen, wenn sie seine weiche» und zarten Gesichter ansahen, sondern mich die schöne Linie, das würdevolle und dabei gefüllige Thronen der Madonna, endlich die Einpassung weniger Figuren in eine einfache, aber wirksame Architektur oder Landschaft. Unser Eindruck von Perugino wird leicht durch die Nachlässigkeiten seines Alters bestimmt; dem gegenüber war es richtig, hervorzuheben, was Raffael an seinem Lehrer in dessen bessern Tagen haben konnte. „Mit seinem Prinzip der Vereinfachung und Gesetzlichkeit ist Perugino ein wichtiges Element am Vorabend der klas¬ sischen Kunst, und man begreift, wie sehr durch ihn der Weg sür Raffael ab-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/373>, abgerufen am 28.09.2024.