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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Zur Charakteristik der italienischen Hochrenaissance

Ausdrucksweise organisch aus der alten entwickelt hat, teils durch eine andre,
der neuen Zeit eigne "Gesinnung," eine andre Art des Auftretens, des Sich-
zeigens und Sichgebens und eine andre Auffassung und Schützung des uns
umgebenden äußern Lebens, teils durch die geänderte Art des künstlerischen
Sehens. "Mathematisch sauber ist die Abrechnung nicht zu machen." Die
gehaltvolle, feine Darlegung enthält kein überflüssiges Wort, sie läßt sich darum
nicht gut ausziehn. Sie muß als Ganzes wirken. Das Thema ist etwa: das
"klassische" sechzehnte Jahrhundert sei nicht unreal, denn das fünfzehnte sei
nicht realistisch und modernisierend, nur reich sinnlich; das sechzehnte wähle nur
das Wirkliche aus, aber das "große Sehen" sei kein äußeres Verschönern des
Modells und auch keine Nachahmung der Antike.

Dieses, das Verhältnis des Cinquecento zum klassischen Altertum, ist der
einzige Punkt, der sich aus dem Zusammenhange herausnehmen läßt. Die
Frage ist von Wichtigkeit. Bisher hat man gemeiniglich angenommen, daß
das sechzehnte Jahrhundert mehr antikisiere als das fünfzehnte, und daß es
auch antiker habe sein wollen. Wölfflin meint dagegen, die Absichten beider
Zeitalter in Bezug auf die Antike seien dieselben gewesen, der Unterschied in
der Wirkung beruhe allein auf einem verschiednen Sehen. Mit den farblosen
Statuen z. B- habe man nicht die Antike imitieren wollen, die Renaissance
habe vielmehr farbig gesehen, solange sie selbst farbig war, und sie habe darum
die antiken Denkmäler auf ihren Bildern polychrom gegeben. Jedoch "von dem
Moment an, wo das Farbenbedürfnis aufhört, ist dann auch die Antike weiß
gesehen worden, aber man wird nicht sagen dürfen, daß sie den Anstoß gegeben
habe." Weiterhin heißt es, wenn uns das Cinquecento im Ausdruck antiker
vorkomme, so müsse das daran liegen, daß es innerlich der Antike ähnlicher
geworden sei. Und einige Seiten später in einer Aufzählung der an die Antike
erinnernden Eigenschaften der Ciqnecentokunst lesen wir den Satz: "Das mo¬
derne Linien- und Massengefühl hat sich dahin entwickelt, daß man sich über
die Jahrhunderte hinüber wieder versteht." Ebenso drückt sich Justi aus in
einem Zusatze der neuen Auflage seines Winckelmann über die Kunst Raffaels
und seiner Zeit: "da wo sie auf eignem Wege zu einer Höhe des Formengefühls
gekommen war, die über die Kluft der Zeiten die Alten als Verwandte er¬
kannte" (3, 222). Ganz zu Ende gedacht, müßte diese Auffassung zu der Folge¬
rung gelangen, daß es auch ohne die Antike ebenso gekommen sein würde, und
ähnlich liest man es wenigstens zwischen den Zeilen bei Wölfflin. Die Antike
verliert ihre Stelle als Muster oder Beispiel, und das ursächliche Verhältnis
wird umgekehrt. "Die Zeit war zu einem statuarischen Empfinden gekommen,
und diese Neigung, das plastische Motiv vor allem zu sehen, mußte sie vollends
disponieren, sich jetzt mit antiker Kunst vollzusaugcn." Ich will gern zugeben,
daß auch ein Quattrocentist, also Sandro Botticelli mit seinen Mythologien,
einen antiken Eindruck habe machen wollen, aber es ging ihm mit der Antike,


Zur Charakteristik der italienischen Hochrenaissance

Ausdrucksweise organisch aus der alten entwickelt hat, teils durch eine andre,
der neuen Zeit eigne „Gesinnung," eine andre Art des Auftretens, des Sich-
zeigens und Sichgebens und eine andre Auffassung und Schützung des uns
umgebenden äußern Lebens, teils durch die geänderte Art des künstlerischen
Sehens. „Mathematisch sauber ist die Abrechnung nicht zu machen." Die
gehaltvolle, feine Darlegung enthält kein überflüssiges Wort, sie läßt sich darum
nicht gut ausziehn. Sie muß als Ganzes wirken. Das Thema ist etwa: das
„klassische" sechzehnte Jahrhundert sei nicht unreal, denn das fünfzehnte sei
nicht realistisch und modernisierend, nur reich sinnlich; das sechzehnte wähle nur
das Wirkliche aus, aber das „große Sehen" sei kein äußeres Verschönern des
Modells und auch keine Nachahmung der Antike.

Dieses, das Verhältnis des Cinquecento zum klassischen Altertum, ist der
einzige Punkt, der sich aus dem Zusammenhange herausnehmen läßt. Die
Frage ist von Wichtigkeit. Bisher hat man gemeiniglich angenommen, daß
das sechzehnte Jahrhundert mehr antikisiere als das fünfzehnte, und daß es
auch antiker habe sein wollen. Wölfflin meint dagegen, die Absichten beider
Zeitalter in Bezug auf die Antike seien dieselben gewesen, der Unterschied in
der Wirkung beruhe allein auf einem verschiednen Sehen. Mit den farblosen
Statuen z. B- habe man nicht die Antike imitieren wollen, die Renaissance
habe vielmehr farbig gesehen, solange sie selbst farbig war, und sie habe darum
die antiken Denkmäler auf ihren Bildern polychrom gegeben. Jedoch „von dem
Moment an, wo das Farbenbedürfnis aufhört, ist dann auch die Antike weiß
gesehen worden, aber man wird nicht sagen dürfen, daß sie den Anstoß gegeben
habe." Weiterhin heißt es, wenn uns das Cinquecento im Ausdruck antiker
vorkomme, so müsse das daran liegen, daß es innerlich der Antike ähnlicher
geworden sei. Und einige Seiten später in einer Aufzählung der an die Antike
erinnernden Eigenschaften der Ciqnecentokunst lesen wir den Satz: „Das mo¬
derne Linien- und Massengefühl hat sich dahin entwickelt, daß man sich über
die Jahrhunderte hinüber wieder versteht." Ebenso drückt sich Justi aus in
einem Zusatze der neuen Auflage seines Winckelmann über die Kunst Raffaels
und seiner Zeit: „da wo sie auf eignem Wege zu einer Höhe des Formengefühls
gekommen war, die über die Kluft der Zeiten die Alten als Verwandte er¬
kannte" (3, 222). Ganz zu Ende gedacht, müßte diese Auffassung zu der Folge¬
rung gelangen, daß es auch ohne die Antike ebenso gekommen sein würde, und
ähnlich liest man es wenigstens zwischen den Zeilen bei Wölfflin. Die Antike
verliert ihre Stelle als Muster oder Beispiel, und das ursächliche Verhältnis
wird umgekehrt. „Die Zeit war zu einem statuarischen Empfinden gekommen,
und diese Neigung, das plastische Motiv vor allem zu sehen, mußte sie vollends
disponieren, sich jetzt mit antiker Kunst vollzusaugcn." Ich will gern zugeben,
daß auch ein Quattrocentist, also Sandro Botticelli mit seinen Mythologien,
einen antiken Eindruck habe machen wollen, aber es ging ihm mit der Antike,


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[0375] Zur Charakteristik der italienischen Hochrenaissance Ausdrucksweise organisch aus der alten entwickelt hat, teils durch eine andre, der neuen Zeit eigne „Gesinnung," eine andre Art des Auftretens, des Sich- zeigens und Sichgebens und eine andre Auffassung und Schützung des uns umgebenden äußern Lebens, teils durch die geänderte Art des künstlerischen Sehens. „Mathematisch sauber ist die Abrechnung nicht zu machen." Die gehaltvolle, feine Darlegung enthält kein überflüssiges Wort, sie läßt sich darum nicht gut ausziehn. Sie muß als Ganzes wirken. Das Thema ist etwa: das „klassische" sechzehnte Jahrhundert sei nicht unreal, denn das fünfzehnte sei nicht realistisch und modernisierend, nur reich sinnlich; das sechzehnte wähle nur das Wirkliche aus, aber das „große Sehen" sei kein äußeres Verschönern des Modells und auch keine Nachahmung der Antike. Dieses, das Verhältnis des Cinquecento zum klassischen Altertum, ist der einzige Punkt, der sich aus dem Zusammenhange herausnehmen läßt. Die Frage ist von Wichtigkeit. Bisher hat man gemeiniglich angenommen, daß das sechzehnte Jahrhundert mehr antikisiere als das fünfzehnte, und daß es auch antiker habe sein wollen. Wölfflin meint dagegen, die Absichten beider Zeitalter in Bezug auf die Antike seien dieselben gewesen, der Unterschied in der Wirkung beruhe allein auf einem verschiednen Sehen. Mit den farblosen Statuen z. B- habe man nicht die Antike imitieren wollen, die Renaissance habe vielmehr farbig gesehen, solange sie selbst farbig war, und sie habe darum die antiken Denkmäler auf ihren Bildern polychrom gegeben. Jedoch „von dem Moment an, wo das Farbenbedürfnis aufhört, ist dann auch die Antike weiß gesehen worden, aber man wird nicht sagen dürfen, daß sie den Anstoß gegeben habe." Weiterhin heißt es, wenn uns das Cinquecento im Ausdruck antiker vorkomme, so müsse das daran liegen, daß es innerlich der Antike ähnlicher geworden sei. Und einige Seiten später in einer Aufzählung der an die Antike erinnernden Eigenschaften der Ciqnecentokunst lesen wir den Satz: „Das mo¬ derne Linien- und Massengefühl hat sich dahin entwickelt, daß man sich über die Jahrhunderte hinüber wieder versteht." Ebenso drückt sich Justi aus in einem Zusatze der neuen Auflage seines Winckelmann über die Kunst Raffaels und seiner Zeit: „da wo sie auf eignem Wege zu einer Höhe des Formengefühls gekommen war, die über die Kluft der Zeiten die Alten als Verwandte er¬ kannte" (3, 222). Ganz zu Ende gedacht, müßte diese Auffassung zu der Folge¬ rung gelangen, daß es auch ohne die Antike ebenso gekommen sein würde, und ähnlich liest man es wenigstens zwischen den Zeilen bei Wölfflin. Die Antike verliert ihre Stelle als Muster oder Beispiel, und das ursächliche Verhältnis wird umgekehrt. „Die Zeit war zu einem statuarischen Empfinden gekommen, und diese Neigung, das plastische Motiv vor allem zu sehen, mußte sie vollends disponieren, sich jetzt mit antiker Kunst vollzusaugcn." Ich will gern zugeben, daß auch ein Quattrocentist, also Sandro Botticelli mit seinen Mythologien, einen antiken Eindruck habe machen wollen, aber es ging ihm mit der Antike,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/375>, abgerufen am 28.09.2024.