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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Zur Charakteristik der italienischen Hochrenaissance

herauswächst. Den David findet er "grundhäßlich." An verschiednen Stellen
des Buchs wird auch Andrea Sansovino zweckmäßig mit zu dem Stilbilde der
Cinquecentoplastik verwandt: großwirkende Einzelfigur, gemessene Haltung,
passende architektonische Umrahmung. Seine "Taufe Christi" entspricht in der
Anordnung der Figuren ganz dem Gemälde Verrocchios; wie entgegengesetzt
sie im Stil sind, lehrt ein Blick auf die neben einander gestellten Abbildungen.
Andrea Sansovinos Statuen haben bisweilen ganz den freien Fluß seines
Freundes Andrea del Sarto. Aber der Bildhauer bleibt doch ein Meister des
Übergangs, im Stil unausgeglichen, und weil er noch soviel quattrocentistisches
an sich hat, ist er ein geeignetes Paradigma für die Übung im Unterscheiden
der Stile. In der Skulptur ist das leichter als in der Malerei, weil wir
dort gewohnt sind auf die Formen zu achten, während uns hier das Gegen¬
ständliche so hinzunehmen Pflegt, daß wir den Inhalt immer gewissermaßen
erst außer Kraft setzen müssen, um die Formen für die Stilbetrachtung frei¬
zulegen. Darum wird dem Leser in dem, was er über Lionardo, Naffael,
Fra Bartolommeo und Andrea del Sarto erfährt, noch viel mehr als dort
bei Michelangelo neu sein, und er wird diesen, wie man insgemein annimmt,
bekanntesten Teil der italienischen Kunst fortan mit andern Augen ansehen.
Wölsflin hat im Ausdruck viel von der Treffsicherheit Jakob Burckhardts,
dazu hat er vielleicht auch manches in der grammatischen Anatomie seines
Vaters gelernt, jedenfalls greift er das Formproblem noch eindringlicher an
als Burckhardt, und man darf ihm das hohe Lob zusprechen, daß seine stil¬
kritische Methode einen Fortschritt über seinen berühmten Lehrer hinaus
darstellt.

Versuchen wir nun die Kennzeichen der klassischen italienischen Malerei so
kurz wie möglich zusammenzustellen. Die Szenerie wird vereinfacht, die ge¬
drängte Versammlung durch eine Auswahl der bedeutendern Figuren ersetzt,
alles entbehrliche Detail wird weggelassen, das Beiwerk ermäßigt: die Schiffe
auf Raffaels Tapete mit dem Fischzuge sind absichtlich verkleinert, damit die
Menschen um so mehr hervortreten, und auf Lionardos Abendmahl ist die
Tafel so kurz, daß die Apostel sitzend nicht alle daran Platz finden könnten.
Die menschlichen Figuren wirken mächtiger in der Fläche als auf den Bildern
des Quattrocento, sie sind besser in den Linien komponiert, nicht gepreßt,
sondern bequem in den Raum eingeordnet. Der freibleibende Raum wird zu
einem selbständigen Darstellungsmittel, und er wirkt nicht nur als Fläche,
sondern auch in der Tiefe, wovon im Quattrocento noch wenig zu merken ist.
Dazu kommt nnn das Ruhige und Gemessene der Figuren, der gedämpfte
Affekt, die große Gebärde, worin Fra Bartolommeo der klassische Meister ist,
während sein Schüler Andrea del Sarto die weichere, anmutige Schönheit hin¬
zuthut. Der neue Formcharakter giebt sich in den einzelnen Stellungen, in
der Haltung der Hände, im Anfassen der Gegenstände zu erkennen; alles das


Zur Charakteristik der italienischen Hochrenaissance

herauswächst. Den David findet er „grundhäßlich." An verschiednen Stellen
des Buchs wird auch Andrea Sansovino zweckmäßig mit zu dem Stilbilde der
Cinquecentoplastik verwandt: großwirkende Einzelfigur, gemessene Haltung,
passende architektonische Umrahmung. Seine „Taufe Christi" entspricht in der
Anordnung der Figuren ganz dem Gemälde Verrocchios; wie entgegengesetzt
sie im Stil sind, lehrt ein Blick auf die neben einander gestellten Abbildungen.
Andrea Sansovinos Statuen haben bisweilen ganz den freien Fluß seines
Freundes Andrea del Sarto. Aber der Bildhauer bleibt doch ein Meister des
Übergangs, im Stil unausgeglichen, und weil er noch soviel quattrocentistisches
an sich hat, ist er ein geeignetes Paradigma für die Übung im Unterscheiden
der Stile. In der Skulptur ist das leichter als in der Malerei, weil wir
dort gewohnt sind auf die Formen zu achten, während uns hier das Gegen¬
ständliche so hinzunehmen Pflegt, daß wir den Inhalt immer gewissermaßen
erst außer Kraft setzen müssen, um die Formen für die Stilbetrachtung frei¬
zulegen. Darum wird dem Leser in dem, was er über Lionardo, Naffael,
Fra Bartolommeo und Andrea del Sarto erfährt, noch viel mehr als dort
bei Michelangelo neu sein, und er wird diesen, wie man insgemein annimmt,
bekanntesten Teil der italienischen Kunst fortan mit andern Augen ansehen.
Wölsflin hat im Ausdruck viel von der Treffsicherheit Jakob Burckhardts,
dazu hat er vielleicht auch manches in der grammatischen Anatomie seines
Vaters gelernt, jedenfalls greift er das Formproblem noch eindringlicher an
als Burckhardt, und man darf ihm das hohe Lob zusprechen, daß seine stil¬
kritische Methode einen Fortschritt über seinen berühmten Lehrer hinaus
darstellt.

Versuchen wir nun die Kennzeichen der klassischen italienischen Malerei so
kurz wie möglich zusammenzustellen. Die Szenerie wird vereinfacht, die ge¬
drängte Versammlung durch eine Auswahl der bedeutendern Figuren ersetzt,
alles entbehrliche Detail wird weggelassen, das Beiwerk ermäßigt: die Schiffe
auf Raffaels Tapete mit dem Fischzuge sind absichtlich verkleinert, damit die
Menschen um so mehr hervortreten, und auf Lionardos Abendmahl ist die
Tafel so kurz, daß die Apostel sitzend nicht alle daran Platz finden könnten.
Die menschlichen Figuren wirken mächtiger in der Fläche als auf den Bildern
des Quattrocento, sie sind besser in den Linien komponiert, nicht gepreßt,
sondern bequem in den Raum eingeordnet. Der freibleibende Raum wird zu
einem selbständigen Darstellungsmittel, und er wirkt nicht nur als Fläche,
sondern auch in der Tiefe, wovon im Quattrocento noch wenig zu merken ist.
Dazu kommt nnn das Ruhige und Gemessene der Figuren, der gedämpfte
Affekt, die große Gebärde, worin Fra Bartolommeo der klassische Meister ist,
während sein Schüler Andrea del Sarto die weichere, anmutige Schönheit hin¬
zuthut. Der neue Formcharakter giebt sich in den einzelnen Stellungen, in
der Haltung der Hände, im Anfassen der Gegenstände zu erkennen; alles das


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[0372] Zur Charakteristik der italienischen Hochrenaissance herauswächst. Den David findet er „grundhäßlich." An verschiednen Stellen des Buchs wird auch Andrea Sansovino zweckmäßig mit zu dem Stilbilde der Cinquecentoplastik verwandt: großwirkende Einzelfigur, gemessene Haltung, passende architektonische Umrahmung. Seine „Taufe Christi" entspricht in der Anordnung der Figuren ganz dem Gemälde Verrocchios; wie entgegengesetzt sie im Stil sind, lehrt ein Blick auf die neben einander gestellten Abbildungen. Andrea Sansovinos Statuen haben bisweilen ganz den freien Fluß seines Freundes Andrea del Sarto. Aber der Bildhauer bleibt doch ein Meister des Übergangs, im Stil unausgeglichen, und weil er noch soviel quattrocentistisches an sich hat, ist er ein geeignetes Paradigma für die Übung im Unterscheiden der Stile. In der Skulptur ist das leichter als in der Malerei, weil wir dort gewohnt sind auf die Formen zu achten, während uns hier das Gegen¬ ständliche so hinzunehmen Pflegt, daß wir den Inhalt immer gewissermaßen erst außer Kraft setzen müssen, um die Formen für die Stilbetrachtung frei¬ zulegen. Darum wird dem Leser in dem, was er über Lionardo, Naffael, Fra Bartolommeo und Andrea del Sarto erfährt, noch viel mehr als dort bei Michelangelo neu sein, und er wird diesen, wie man insgemein annimmt, bekanntesten Teil der italienischen Kunst fortan mit andern Augen ansehen. Wölsflin hat im Ausdruck viel von der Treffsicherheit Jakob Burckhardts, dazu hat er vielleicht auch manches in der grammatischen Anatomie seines Vaters gelernt, jedenfalls greift er das Formproblem noch eindringlicher an als Burckhardt, und man darf ihm das hohe Lob zusprechen, daß seine stil¬ kritische Methode einen Fortschritt über seinen berühmten Lehrer hinaus darstellt. Versuchen wir nun die Kennzeichen der klassischen italienischen Malerei so kurz wie möglich zusammenzustellen. Die Szenerie wird vereinfacht, die ge¬ drängte Versammlung durch eine Auswahl der bedeutendern Figuren ersetzt, alles entbehrliche Detail wird weggelassen, das Beiwerk ermäßigt: die Schiffe auf Raffaels Tapete mit dem Fischzuge sind absichtlich verkleinert, damit die Menschen um so mehr hervortreten, und auf Lionardos Abendmahl ist die Tafel so kurz, daß die Apostel sitzend nicht alle daran Platz finden könnten. Die menschlichen Figuren wirken mächtiger in der Fläche als auf den Bildern des Quattrocento, sie sind besser in den Linien komponiert, nicht gepreßt, sondern bequem in den Raum eingeordnet. Der freibleibende Raum wird zu einem selbständigen Darstellungsmittel, und er wirkt nicht nur als Fläche, sondern auch in der Tiefe, wovon im Quattrocento noch wenig zu merken ist. Dazu kommt nnn das Ruhige und Gemessene der Figuren, der gedämpfte Affekt, die große Gebärde, worin Fra Bartolommeo der klassische Meister ist, während sein Schüler Andrea del Sarto die weichere, anmutige Schönheit hin¬ zuthut. Der neue Formcharakter giebt sich in den einzelnen Stellungen, in der Haltung der Hände, im Anfassen der Gegenstände zu erkennen; alles das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/372>, abgerufen am 28.09.2024.