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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur

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ordentlich in Form Rechtens in ihre Theorien und Systeme aufzunehmen. Die
Zeit befindet sich ans Reisen, sie hat große Wanderungen vor und holt aus,
als wollte sie noch unermeßliche Berge überschreiten, ehe sie wieder Hütten
bauen wird in der Ruhe eines glücklichen Thales. Noch gar nicht absehen
lassen sich die Schritte ihrer befriedigungslosen Bewegung, wohin sie dieselben
endlich tragen wird, und wir alle setzen unser Leben ein, an ihre Bewegung,
die von Zukunft trunken scheint. Und daher das Unvollendete dieser Be-
wcguugsbücher, weil sie noch blos; von Zukunft trunken sind und keiner
Gegenwart voll." Obgleich Gutzkow wußte, daß die Tendenz in ihrer All¬
gemeinheit der Wahrheit des Individuums wie der Schönheit der Form er¬
mangelte, orakelte er dennoch: "Wüßten wir nicht, daß das neunzehnte Jahr¬
hundert um so viel poetischer ist, als das achtzehnte prosaisch war, so würden
wir nicht begreifen, wie in so kurzer Zeit sich alle Gesichtspunkte der Litte¬
ratur umwerfen konnten. Früher hielt man es für genialisch, der Zeit auf
den Fuß zu treten, ihr den Sand aus dem Stnndenglase zu verschütten, sie
zu ignorieren im gelindesten Falle, jetzt dagegen wird es für die Weihe des
Genius gehalten, die Freundschaft der Zeit zu besitzen, ihr junger Vertrauter,
ihr Herold und Apostel sein. -- -- Die Litteratur ist die Zuflucht geworden
für die Hoffnungen und Interessen, die eigentlich der Staat zu befriedigen
hat. In Zeiten der Tyrannei sucht man in der Poesie die Garantie seiner
natürlichen Freiheit. Die Strahlungen der Überzeugung und des freien Ge¬
dankens finden dann in der Litteratur ein Medium, das ihr Licht in das
milde Farbenspiel einer gebrochnen Reflexion leitet, welches eher Duldung
findet. -- Die Tendenz ist kein Spiel, sie muß siegen oder besiegt werden,
weil sie auf Interessen beruht."

In einer Besprechung von Laubes "Reisenovellen" heißt es: "Der volle
Augenblick schließt alles Wertvolle der Vergangenheit mit ein. In dem freudigen
Lebensgenuß, dem politischen Hochgefühl des freien Menschen liegt alles --
Laubes goldner Sonnenschimmer des Tags birgt Hölthschen Mondschein mit
obligater Wehmut, Goethischen Morgenglanz und Liebesseligkeit in sich." Diese
überschwängliche Kritik könnte man allenfalls für eine bloße Trompetenfanfare
halten, aber es ist offenbar bitter ernst gemeint, wenn Gutzkow erklärt: "So
ist mit einem Worte die neuere Poesie trotz ihrer Anknüpfungen an frühere
Zustände immer in unmittelbarer Nähe des Moments; sie bekämpft denselben,
sie unterwühlt oder sie verachtet ihn, indem sie ihn ignoriert. Es liegt in
all den beliebigen Richtungen, welche neuere Dichter genommen haben, doch
immer wieder eine Straße, wo sie auf die Gegenwart zurückkommen. -- Zu
allen Zeiten hat es für eine Gattung der Poesie mehr Gunst der Umstände
gegeben, als für die andre. Im Roman hauptsächlich sprechen sich alle An¬
forderungen aus, welche die Menschen heut an die Poesie machen. Wie in
alten Zeiten das Drama alle Gattungen der Poesie in sich vereinigte, so soll
jetzt der Roman vom Wesen aller derselben einen Anklang geben, sodaß die


Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur

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ordentlich in Form Rechtens in ihre Theorien und Systeme aufzunehmen. Die
Zeit befindet sich ans Reisen, sie hat große Wanderungen vor und holt aus,
als wollte sie noch unermeßliche Berge überschreiten, ehe sie wieder Hütten
bauen wird in der Ruhe eines glücklichen Thales. Noch gar nicht absehen
lassen sich die Schritte ihrer befriedigungslosen Bewegung, wohin sie dieselben
endlich tragen wird, und wir alle setzen unser Leben ein, an ihre Bewegung,
die von Zukunft trunken scheint. Und daher das Unvollendete dieser Be-
wcguugsbücher, weil sie noch blos; von Zukunft trunken sind und keiner
Gegenwart voll." Obgleich Gutzkow wußte, daß die Tendenz in ihrer All¬
gemeinheit der Wahrheit des Individuums wie der Schönheit der Form er¬
mangelte, orakelte er dennoch: „Wüßten wir nicht, daß das neunzehnte Jahr¬
hundert um so viel poetischer ist, als das achtzehnte prosaisch war, so würden
wir nicht begreifen, wie in so kurzer Zeit sich alle Gesichtspunkte der Litte¬
ratur umwerfen konnten. Früher hielt man es für genialisch, der Zeit auf
den Fuß zu treten, ihr den Sand aus dem Stnndenglase zu verschütten, sie
zu ignorieren im gelindesten Falle, jetzt dagegen wird es für die Weihe des
Genius gehalten, die Freundschaft der Zeit zu besitzen, ihr junger Vertrauter,
ihr Herold und Apostel sein. — — Die Litteratur ist die Zuflucht geworden
für die Hoffnungen und Interessen, die eigentlich der Staat zu befriedigen
hat. In Zeiten der Tyrannei sucht man in der Poesie die Garantie seiner
natürlichen Freiheit. Die Strahlungen der Überzeugung und des freien Ge¬
dankens finden dann in der Litteratur ein Medium, das ihr Licht in das
milde Farbenspiel einer gebrochnen Reflexion leitet, welches eher Duldung
findet. — Die Tendenz ist kein Spiel, sie muß siegen oder besiegt werden,
weil sie auf Interessen beruht."

In einer Besprechung von Laubes „Reisenovellen" heißt es: „Der volle
Augenblick schließt alles Wertvolle der Vergangenheit mit ein. In dem freudigen
Lebensgenuß, dem politischen Hochgefühl des freien Menschen liegt alles —
Laubes goldner Sonnenschimmer des Tags birgt Hölthschen Mondschein mit
obligater Wehmut, Goethischen Morgenglanz und Liebesseligkeit in sich." Diese
überschwängliche Kritik könnte man allenfalls für eine bloße Trompetenfanfare
halten, aber es ist offenbar bitter ernst gemeint, wenn Gutzkow erklärt: „So
ist mit einem Worte die neuere Poesie trotz ihrer Anknüpfungen an frühere
Zustände immer in unmittelbarer Nähe des Moments; sie bekämpft denselben,
sie unterwühlt oder sie verachtet ihn, indem sie ihn ignoriert. Es liegt in
all den beliebigen Richtungen, welche neuere Dichter genommen haben, doch
immer wieder eine Straße, wo sie auf die Gegenwart zurückkommen. — Zu
allen Zeiten hat es für eine Gattung der Poesie mehr Gunst der Umstände
gegeben, als für die andre. Im Roman hauptsächlich sprechen sich alle An¬
forderungen aus, welche die Menschen heut an die Poesie machen. Wie in
alten Zeiten das Drama alle Gattungen der Poesie in sich vereinigte, so soll
jetzt der Roman vom Wesen aller derselben einen Anklang geben, sodaß die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/280>, abgerufen am 28.09.2024.