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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Poesie des Reimes jetzt weit weniger gepflegt und beliebt ist, als die in pro¬
saischer Form auftretende, wo das schone Jneinanderspiel von Kunst und
Leben anschaulicher wiedergegeben werden kann." Also immer wieder die Vor¬
stellung, daß das Neue auch das Ganze, der Augenblick mit seinen zufälligen
Interessen das Leben und die Welt sei.

Dem entsprechend zeigt sich anch die vorkämpfende Kritik der "Moderne"
von der erhitzten Stimmung erfüllt, die "dem kommenden Nervenmenschcn, der
nur mit den Nerven erlebt, mit den Sinnen, mit dem Gehirn, der nichts
empfindet, der weder leidenschaftliche" Elem noch Pathos kennt" (H. Bahr),
alle Vorzüge und Eigenschaften der Vergangenheit und natürlich viel neue
dazu zuweist. Die ingrimmigste Fehde der einzelnen Gruppen und Kliqnen
innerhalb der revolutionären Partei hebt deren gemeinsamen Anspruch nicht
ans, daß die Besonderheit jeder einzelnen Gruppe oder Klique alles einschließe,
was überhaupt poetisch darstellbar und noch darstellenswert sei. Die Zu¬
versicht der Theoretiker der jüngsten litterarischen Revolution kommt jener der
Vertreter der romantischen und jungdeutschen Revolution völlig gleich, ja über¬
trifft sie noch in dem Maße, als sich das naturwissenschaftliche Selbstbewußtsein
des gegenwärtigen Geschlechts über das historisch-ästhetische vergangner Tage
erhebt. "Im Angesicht von Gesetzen -- heißt es in W. Bölsches "Naturwissen¬
schaftlichen Grundlagen der Poesie. Prolegomena einer realistischen Ästhetik" --
können wir die Frage aufwerfen: Wie wird der Held meiner Dichtung unter
diesen und jenen Umständen handeln? Wir fragen zuerst: Wie wird er
denken? Hier habe ich die äußere Ursache, was findet sie in ihm vor? Was
liegt als Erbe in seinem Geistesapparat, was hat die Bildung und Übung
des Lebens darin angebahnt, welche fertigen Gedankenlinien wird jene äußere
Thatsache erregen, wie werden diese sich hemmen oder befördern, welche wird
siegen und den Willen schaffen, der die Handlung macht? -- Eine derartige
Dichtung wäre in der That eine Art von Mathematik, und indem sie es wäre,
hätte sie ein Recht, ihr Phantasiewerk mit dem stolzen Namen eines psycho¬
logischen Experiments zu bezeichnen. -- -- Wenn die Litteraturgeschichte der¬
einst mit dem Werkzeuge einer geläuterten darwinistischen Methode die Wurzeln
dessen aufdecken wird, was wir jetzt Realismus in der Poesie nennen, so wird
der Haß der gereizten Parteien sich versöhnen müssen in der Erkenntnis ihres
gemeinsamen Ursprungs. -- -- Indem wir scheinbar neue Wege wandeln
werden, werden wir unbewußt doch nur das bessere Teil unsrer großen litte¬
rarischen Vergangenheit aufbauen." Die Überlegenheit der Moderne gegen¬
über aller Vergangenheit bleibt dem Ästhetiker (der nebenbei gesagt das Geist¬
vollste und Sachlichste zu Tage fördert, was bisher zu Gunsten der jüngsten
Revolution geltend gemacht worden ist) gleichwohl unzweifelhaft: "denn hohe
Ideen aus der Sonne zu lesen, ist unverhältnismäßig viel leichter als aus
einem Sandkorn."


Grenzboten II 1899 Ü5>

Poesie des Reimes jetzt weit weniger gepflegt und beliebt ist, als die in pro¬
saischer Form auftretende, wo das schone Jneinanderspiel von Kunst und
Leben anschaulicher wiedergegeben werden kann." Also immer wieder die Vor¬
stellung, daß das Neue auch das Ganze, der Augenblick mit seinen zufälligen
Interessen das Leben und die Welt sei.

Dem entsprechend zeigt sich anch die vorkämpfende Kritik der „Moderne"
von der erhitzten Stimmung erfüllt, die „dem kommenden Nervenmenschcn, der
nur mit den Nerven erlebt, mit den Sinnen, mit dem Gehirn, der nichts
empfindet, der weder leidenschaftliche» Elem noch Pathos kennt" (H. Bahr),
alle Vorzüge und Eigenschaften der Vergangenheit und natürlich viel neue
dazu zuweist. Die ingrimmigste Fehde der einzelnen Gruppen und Kliqnen
innerhalb der revolutionären Partei hebt deren gemeinsamen Anspruch nicht
ans, daß die Besonderheit jeder einzelnen Gruppe oder Klique alles einschließe,
was überhaupt poetisch darstellbar und noch darstellenswert sei. Die Zu¬
versicht der Theoretiker der jüngsten litterarischen Revolution kommt jener der
Vertreter der romantischen und jungdeutschen Revolution völlig gleich, ja über¬
trifft sie noch in dem Maße, als sich das naturwissenschaftliche Selbstbewußtsein
des gegenwärtigen Geschlechts über das historisch-ästhetische vergangner Tage
erhebt. „Im Angesicht von Gesetzen — heißt es in W. Bölsches »Naturwissen¬
schaftlichen Grundlagen der Poesie. Prolegomena einer realistischen Ästhetik« —
können wir die Frage aufwerfen: Wie wird der Held meiner Dichtung unter
diesen und jenen Umständen handeln? Wir fragen zuerst: Wie wird er
denken? Hier habe ich die äußere Ursache, was findet sie in ihm vor? Was
liegt als Erbe in seinem Geistesapparat, was hat die Bildung und Übung
des Lebens darin angebahnt, welche fertigen Gedankenlinien wird jene äußere
Thatsache erregen, wie werden diese sich hemmen oder befördern, welche wird
siegen und den Willen schaffen, der die Handlung macht? — Eine derartige
Dichtung wäre in der That eine Art von Mathematik, und indem sie es wäre,
hätte sie ein Recht, ihr Phantasiewerk mit dem stolzen Namen eines psycho¬
logischen Experiments zu bezeichnen. — — Wenn die Litteraturgeschichte der¬
einst mit dem Werkzeuge einer geläuterten darwinistischen Methode die Wurzeln
dessen aufdecken wird, was wir jetzt Realismus in der Poesie nennen, so wird
der Haß der gereizten Parteien sich versöhnen müssen in der Erkenntnis ihres
gemeinsamen Ursprungs. — — Indem wir scheinbar neue Wege wandeln
werden, werden wir unbewußt doch nur das bessere Teil unsrer großen litte¬
rarischen Vergangenheit aufbauen." Die Überlegenheit der Moderne gegen¬
über aller Vergangenheit bleibt dem Ästhetiker (der nebenbei gesagt das Geist¬
vollste und Sachlichste zu Tage fördert, was bisher zu Gunsten der jüngsten
Revolution geltend gemacht worden ist) gleichwohl unzweifelhaft: „denn hohe
Ideen aus der Sonne zu lesen, ist unverhältnismäßig viel leichter als aus
einem Sandkorn."


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[0281] Poesie des Reimes jetzt weit weniger gepflegt und beliebt ist, als die in pro¬ saischer Form auftretende, wo das schone Jneinanderspiel von Kunst und Leben anschaulicher wiedergegeben werden kann." Also immer wieder die Vor¬ stellung, daß das Neue auch das Ganze, der Augenblick mit seinen zufälligen Interessen das Leben und die Welt sei. Dem entsprechend zeigt sich anch die vorkämpfende Kritik der „Moderne" von der erhitzten Stimmung erfüllt, die „dem kommenden Nervenmenschcn, der nur mit den Nerven erlebt, mit den Sinnen, mit dem Gehirn, der nichts empfindet, der weder leidenschaftliche» Elem noch Pathos kennt" (H. Bahr), alle Vorzüge und Eigenschaften der Vergangenheit und natürlich viel neue dazu zuweist. Die ingrimmigste Fehde der einzelnen Gruppen und Kliqnen innerhalb der revolutionären Partei hebt deren gemeinsamen Anspruch nicht ans, daß die Besonderheit jeder einzelnen Gruppe oder Klique alles einschließe, was überhaupt poetisch darstellbar und noch darstellenswert sei. Die Zu¬ versicht der Theoretiker der jüngsten litterarischen Revolution kommt jener der Vertreter der romantischen und jungdeutschen Revolution völlig gleich, ja über¬ trifft sie noch in dem Maße, als sich das naturwissenschaftliche Selbstbewußtsein des gegenwärtigen Geschlechts über das historisch-ästhetische vergangner Tage erhebt. „Im Angesicht von Gesetzen — heißt es in W. Bölsches »Naturwissen¬ schaftlichen Grundlagen der Poesie. Prolegomena einer realistischen Ästhetik« — können wir die Frage aufwerfen: Wie wird der Held meiner Dichtung unter diesen und jenen Umständen handeln? Wir fragen zuerst: Wie wird er denken? Hier habe ich die äußere Ursache, was findet sie in ihm vor? Was liegt als Erbe in seinem Geistesapparat, was hat die Bildung und Übung des Lebens darin angebahnt, welche fertigen Gedankenlinien wird jene äußere Thatsache erregen, wie werden diese sich hemmen oder befördern, welche wird siegen und den Willen schaffen, der die Handlung macht? — Eine derartige Dichtung wäre in der That eine Art von Mathematik, und indem sie es wäre, hätte sie ein Recht, ihr Phantasiewerk mit dem stolzen Namen eines psycho¬ logischen Experiments zu bezeichnen. — — Wenn die Litteraturgeschichte der¬ einst mit dem Werkzeuge einer geläuterten darwinistischen Methode die Wurzeln dessen aufdecken wird, was wir jetzt Realismus in der Poesie nennen, so wird der Haß der gereizten Parteien sich versöhnen müssen in der Erkenntnis ihres gemeinsamen Ursprungs. — — Indem wir scheinbar neue Wege wandeln werden, werden wir unbewußt doch nur das bessere Teil unsrer großen litte¬ rarischen Vergangenheit aufbauen." Die Überlegenheit der Moderne gegen¬ über aller Vergangenheit bleibt dem Ästhetiker (der nebenbei gesagt das Geist¬ vollste und Sachlichste zu Tage fördert, was bisher zu Gunsten der jüngsten Revolution geltend gemacht worden ist) gleichwohl unzweifelhaft: „denn hohe Ideen aus der Sonne zu lesen, ist unverhältnismäßig viel leichter als aus einem Sandkorn." Grenzboten II 1899 Ü5>

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/281>, abgerufen am 20.10.2024.