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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur

und gestaltet hat. Der Kritiker hingegen, der ganz wohl weiß, daß die Ge¬
schichte der Dichtung eine Kette von Entwicklungen ist, in der die Glieder so
wenig wie irgend welche Zeiten der Geschichte, nicht bloß um der folgenden
Glieder, sondern um ihrer selbst willen da sind, der aber die Miene annimmt,
als ob das letzte im Augenblick angefügte Glied der Kette ein Zauberring sei,
der alle Entwicklungen mit umspannt, hilft jedesmal nur die Verwirrung des
Augenblicks vermehren.

Dieser Zug, die sophistische Täuschung, die irgend einen Teil für das
Ganze ausgiebt, ist den kritischen Vorkämpfern revolutionärer litterarischer Be¬
wegungen besonders eigentümlich. Wir haben schon daran erinnert, daß Friedrich
Schlegel die romantische Dichtart "allein" für "unendlich" erklärte. Und energisch
sagte er mit bestimmter Beziehung auf die Romantik: "In allem, was der
Künstler macht, kann nichts Unnatürliches sein, denn wenn er als Mensch
auch auf den allertollsten Gedanken verfällt, so ist er doch schon gerade darum
natürlich. Was auch der Künstler thut, es ist wohlgethan." Der "wahre
Dichter" allein, der ihm mit dem "echten Romantiker" identisch ist, "führt
das Leben aus der Verwirrung der Gegenwart heraus und durch diese hin¬
durch bis zur letzten Entwicklung und endlichen Entscheidung. Dadurch greift
seine Darstellung in die Zukunft ein und stellt uns die Geheimnisse des innern
Menschen vor Augen." Gegen die Anschuldigung, der Klarheit zu ermangeln,
schleuderte Görres den Satz: "Nicht helle Klarheit soll von dem Kunstgebilde
strahle", nicht durchsichtig soll sich sein Innerstes dem Blick erschließen: eine
liebliche Dämmerung, ein gefälliger Schein soll um seine Oberflüche spielen
und uns in seine unergründliche Tiefe laden. Das Tiefverborgne, das Un¬
aussprechliche ist der wesentliche Reiz der Kunst, sie bedarf der Wahrheit nicht,
denn Psyches Lampe macht den Amor fliehn, das Licht thut dem Gemüte
nicht not." Und die naheliegende Anschuldigung, daß die romantische Poesie
vielfach ins spielerisch Nichtige, Kleinliche hinüberschwanke, suchte August Wil¬
helm Schlegel bei Gelegenheit seiner Anzeige von Tiecks Volksmärchen mit dem
Satze zu entkräften: "Die Unschuld einer Muse, welche weder ein bloß leiden¬
schaftliches Interesse zu erregen sucht, noch dem gröbern Sinne schmeichelt,
noch moralischen Zwecken front, kann leicht als Unbedeutendheit mißverstanden
werden." Überall liegt diesen kritischen Aussprüchen die Forderung oder viel¬
mehr die Zumutung zu Grunde, das neue Einzelne für das große Ganze der
Poesie, die jüngste Erscheinung für die Totalität der Welt zu halten.

Noch fanatischer und anspruchsvoller zeigen sich die kritischen Vorkämpfer
des jungen Deutschlands. Über die Unzulänglichkeit des Mischstils von Poesie
und Publizistik half nur die freche Zuversicht hinweg, daß in ihm weder Ver¬
gangenheit noch Gegenwart, souderu lauter Zukunft enthalten sei. "Alle
Schriften, die unter der Atmosphäre dieser Zeit geboren werden, sehen aus
wie Reisebücher, Wanderbücher, Bewegungsbücher," ruft Theodor Munde.
"Die neuste Ästhetik wird sich daran gewöhnen müssen, diesen Terminus


Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur

und gestaltet hat. Der Kritiker hingegen, der ganz wohl weiß, daß die Ge¬
schichte der Dichtung eine Kette von Entwicklungen ist, in der die Glieder so
wenig wie irgend welche Zeiten der Geschichte, nicht bloß um der folgenden
Glieder, sondern um ihrer selbst willen da sind, der aber die Miene annimmt,
als ob das letzte im Augenblick angefügte Glied der Kette ein Zauberring sei,
der alle Entwicklungen mit umspannt, hilft jedesmal nur die Verwirrung des
Augenblicks vermehren.

Dieser Zug, die sophistische Täuschung, die irgend einen Teil für das
Ganze ausgiebt, ist den kritischen Vorkämpfern revolutionärer litterarischer Be¬
wegungen besonders eigentümlich. Wir haben schon daran erinnert, daß Friedrich
Schlegel die romantische Dichtart „allein" für „unendlich" erklärte. Und energisch
sagte er mit bestimmter Beziehung auf die Romantik: „In allem, was der
Künstler macht, kann nichts Unnatürliches sein, denn wenn er als Mensch
auch auf den allertollsten Gedanken verfällt, so ist er doch schon gerade darum
natürlich. Was auch der Künstler thut, es ist wohlgethan." Der „wahre
Dichter" allein, der ihm mit dem „echten Romantiker" identisch ist, „führt
das Leben aus der Verwirrung der Gegenwart heraus und durch diese hin¬
durch bis zur letzten Entwicklung und endlichen Entscheidung. Dadurch greift
seine Darstellung in die Zukunft ein und stellt uns die Geheimnisse des innern
Menschen vor Augen." Gegen die Anschuldigung, der Klarheit zu ermangeln,
schleuderte Görres den Satz: „Nicht helle Klarheit soll von dem Kunstgebilde
strahle», nicht durchsichtig soll sich sein Innerstes dem Blick erschließen: eine
liebliche Dämmerung, ein gefälliger Schein soll um seine Oberflüche spielen
und uns in seine unergründliche Tiefe laden. Das Tiefverborgne, das Un¬
aussprechliche ist der wesentliche Reiz der Kunst, sie bedarf der Wahrheit nicht,
denn Psyches Lampe macht den Amor fliehn, das Licht thut dem Gemüte
nicht not." Und die naheliegende Anschuldigung, daß die romantische Poesie
vielfach ins spielerisch Nichtige, Kleinliche hinüberschwanke, suchte August Wil¬
helm Schlegel bei Gelegenheit seiner Anzeige von Tiecks Volksmärchen mit dem
Satze zu entkräften: „Die Unschuld einer Muse, welche weder ein bloß leiden¬
schaftliches Interesse zu erregen sucht, noch dem gröbern Sinne schmeichelt,
noch moralischen Zwecken front, kann leicht als Unbedeutendheit mißverstanden
werden." Überall liegt diesen kritischen Aussprüchen die Forderung oder viel¬
mehr die Zumutung zu Grunde, das neue Einzelne für das große Ganze der
Poesie, die jüngste Erscheinung für die Totalität der Welt zu halten.

Noch fanatischer und anspruchsvoller zeigen sich die kritischen Vorkämpfer
des jungen Deutschlands. Über die Unzulänglichkeit des Mischstils von Poesie
und Publizistik half nur die freche Zuversicht hinweg, daß in ihm weder Ver¬
gangenheit noch Gegenwart, souderu lauter Zukunft enthalten sei. „Alle
Schriften, die unter der Atmosphäre dieser Zeit geboren werden, sehen aus
wie Reisebücher, Wanderbücher, Bewegungsbücher," ruft Theodor Munde.
„Die neuste Ästhetik wird sich daran gewöhnen müssen, diesen Terminus


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[0279] Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur und gestaltet hat. Der Kritiker hingegen, der ganz wohl weiß, daß die Ge¬ schichte der Dichtung eine Kette von Entwicklungen ist, in der die Glieder so wenig wie irgend welche Zeiten der Geschichte, nicht bloß um der folgenden Glieder, sondern um ihrer selbst willen da sind, der aber die Miene annimmt, als ob das letzte im Augenblick angefügte Glied der Kette ein Zauberring sei, der alle Entwicklungen mit umspannt, hilft jedesmal nur die Verwirrung des Augenblicks vermehren. Dieser Zug, die sophistische Täuschung, die irgend einen Teil für das Ganze ausgiebt, ist den kritischen Vorkämpfern revolutionärer litterarischer Be¬ wegungen besonders eigentümlich. Wir haben schon daran erinnert, daß Friedrich Schlegel die romantische Dichtart „allein" für „unendlich" erklärte. Und energisch sagte er mit bestimmter Beziehung auf die Romantik: „In allem, was der Künstler macht, kann nichts Unnatürliches sein, denn wenn er als Mensch auch auf den allertollsten Gedanken verfällt, so ist er doch schon gerade darum natürlich. Was auch der Künstler thut, es ist wohlgethan." Der „wahre Dichter" allein, der ihm mit dem „echten Romantiker" identisch ist, „führt das Leben aus der Verwirrung der Gegenwart heraus und durch diese hin¬ durch bis zur letzten Entwicklung und endlichen Entscheidung. Dadurch greift seine Darstellung in die Zukunft ein und stellt uns die Geheimnisse des innern Menschen vor Augen." Gegen die Anschuldigung, der Klarheit zu ermangeln, schleuderte Görres den Satz: „Nicht helle Klarheit soll von dem Kunstgebilde strahle», nicht durchsichtig soll sich sein Innerstes dem Blick erschließen: eine liebliche Dämmerung, ein gefälliger Schein soll um seine Oberflüche spielen und uns in seine unergründliche Tiefe laden. Das Tiefverborgne, das Un¬ aussprechliche ist der wesentliche Reiz der Kunst, sie bedarf der Wahrheit nicht, denn Psyches Lampe macht den Amor fliehn, das Licht thut dem Gemüte nicht not." Und die naheliegende Anschuldigung, daß die romantische Poesie vielfach ins spielerisch Nichtige, Kleinliche hinüberschwanke, suchte August Wil¬ helm Schlegel bei Gelegenheit seiner Anzeige von Tiecks Volksmärchen mit dem Satze zu entkräften: „Die Unschuld einer Muse, welche weder ein bloß leiden¬ schaftliches Interesse zu erregen sucht, noch dem gröbern Sinne schmeichelt, noch moralischen Zwecken front, kann leicht als Unbedeutendheit mißverstanden werden." Überall liegt diesen kritischen Aussprüchen die Forderung oder viel¬ mehr die Zumutung zu Grunde, das neue Einzelne für das große Ganze der Poesie, die jüngste Erscheinung für die Totalität der Welt zu halten. Noch fanatischer und anspruchsvoller zeigen sich die kritischen Vorkämpfer des jungen Deutschlands. Über die Unzulänglichkeit des Mischstils von Poesie und Publizistik half nur die freche Zuversicht hinweg, daß in ihm weder Ver¬ gangenheit noch Gegenwart, souderu lauter Zukunft enthalten sei. „Alle Schriften, die unter der Atmosphäre dieser Zeit geboren werden, sehen aus wie Reisebücher, Wanderbücher, Bewegungsbücher," ruft Theodor Munde. „Die neuste Ästhetik wird sich daran gewöhnen müssen, diesen Terminus

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/279>, abgerufen am 28.09.2024.