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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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sich unbestreitbaren Vordersätzen falsche Schlüsse gezogen und als Wahrheiten
verbreitet werden. Es ist ja gewiß, daß im guten oder schlimmen Sinne jede
Generation wirklich schöpferischer Talente der Natur und dem Leben neue Ge¬
stalten, Stimmungen und Schilderungen abgewinnt, es ist natürlich und
wenigstens begreiflich, daß in revolutionären Perioden gerade dieser Neugewinn
überschätzt und einseitig bevorzugt wird, es ist ferner unleugbar, daß auch
längst bekannte Erscheinungen der Welt und der Menschheit durch die Gesamt¬
anschauung einer neuen Schule wie einzelner großer Dichter in eine neue Be¬
leuchtung gerückt werden können.

Weil dies so ist und immer so sein wird, unterliegt die revolutionäre
Parteikritik nur allzu oft, und vorzugsweise in den litterarischen Revolutionen,
die wir hier im Ange haben, der Versuchung, die Hauptsache zu vergessen und zu
verschweigen, daß nämlich auch die größte Summe dessen, was neue Dichter und
Künstler neu zum Bilde der Welt hinzubringen, was sie in neuer Auffassung,
größerer Schärfe der Wirklichkeit, mit tieferen Eindringen als seither schauen
und darstellen, doch nur ein Teil, meist ein verschwindender Teil der gesamten
Natur und des gesamten Lebens ist. Das Kunstgigerl aller Zeiten, der
dilettantische Tropf, der die jedesmalige Mode für die normale Tracht hält
lind gerade Empfänglichkeit und Urteil genug hat, das äußerlich Neue vom
Überlieferten unterscheiden zu können, bildet sich immer aufs neue ein, daß
Shakespeare und Goethe Welt und Leben falsch gesehen und unzulänglich
wiedergegeben hätten. Dieser Gesell sah in den Tagen Tiecks und Hardenbergs
nur in deren Gebilden Natur und Seele, schwor in den Tagen der Jung¬
deutschen nur auf Heines Gefühl und Witz, auf Bornes politischen Zorn und
Freisinn und schwört heute wieder, je nachdem, auf die erschütternde Wirklich¬
keitsschilderung von Hauptmanns "Webern" und "Fuhrmann Henschel" oder
auf die symbolische Tiefe der "Versunknen Glocke" und des "Mitmenschen"
von Richard Dehmel. Und alle dreimal stellte und stellt er sich an, als ob
das gesamte Leben in den kleinen neugewonnenen Teilen aufgegangen sei, als
ob der heute zum erstenmal erblickte oder dem Felsen entschlagne Quell den
Strom und das Weltmeer ausgetrunken habe.

Schlimmer als dieser Kunstfreund wirkt in allen litterarischen und künstle¬
rischen Revolutionen der Ästhetiker und Kritiker, der den Glauben verbreiten
hilft, daß gerade die neuste Entwicklung alle vorangegangnen überflüssig mache,
weil sie die vorangegangnen einschließe. Dem schaffenden Dichter und Künstler,
der einen neuen Brunnen des Lebens erschlossen, neue Erscheinungen des Da¬
seins erfaßt hat, ist es leicht zu verzeihen, wenn er sich über das Verhältnis
seines Neuen zum Ganzen der Welt täuscht, auch wird der Schaffende, sofern
er der echte ist, in allen Perioden der Kunst, nach rasch verfliegender revolu¬
tionärer Glut, den zerrissenen Zusammenhang mit der Natur und dem Leben,
die vor ihm waren und nach ihm sein werden, um so rascher wieder gewinnen,
je tiefer, natürlicher und wertvoller das Besondre ist, das er zuerst geschaut


sich unbestreitbaren Vordersätzen falsche Schlüsse gezogen und als Wahrheiten
verbreitet werden. Es ist ja gewiß, daß im guten oder schlimmen Sinne jede
Generation wirklich schöpferischer Talente der Natur und dem Leben neue Ge¬
stalten, Stimmungen und Schilderungen abgewinnt, es ist natürlich und
wenigstens begreiflich, daß in revolutionären Perioden gerade dieser Neugewinn
überschätzt und einseitig bevorzugt wird, es ist ferner unleugbar, daß auch
längst bekannte Erscheinungen der Welt und der Menschheit durch die Gesamt¬
anschauung einer neuen Schule wie einzelner großer Dichter in eine neue Be¬
leuchtung gerückt werden können.

Weil dies so ist und immer so sein wird, unterliegt die revolutionäre
Parteikritik nur allzu oft, und vorzugsweise in den litterarischen Revolutionen,
die wir hier im Ange haben, der Versuchung, die Hauptsache zu vergessen und zu
verschweigen, daß nämlich auch die größte Summe dessen, was neue Dichter und
Künstler neu zum Bilde der Welt hinzubringen, was sie in neuer Auffassung,
größerer Schärfe der Wirklichkeit, mit tieferen Eindringen als seither schauen
und darstellen, doch nur ein Teil, meist ein verschwindender Teil der gesamten
Natur und des gesamten Lebens ist. Das Kunstgigerl aller Zeiten, der
dilettantische Tropf, der die jedesmalige Mode für die normale Tracht hält
lind gerade Empfänglichkeit und Urteil genug hat, das äußerlich Neue vom
Überlieferten unterscheiden zu können, bildet sich immer aufs neue ein, daß
Shakespeare und Goethe Welt und Leben falsch gesehen und unzulänglich
wiedergegeben hätten. Dieser Gesell sah in den Tagen Tiecks und Hardenbergs
nur in deren Gebilden Natur und Seele, schwor in den Tagen der Jung¬
deutschen nur auf Heines Gefühl und Witz, auf Bornes politischen Zorn und
Freisinn und schwört heute wieder, je nachdem, auf die erschütternde Wirklich¬
keitsschilderung von Hauptmanns „Webern" und „Fuhrmann Henschel" oder
auf die symbolische Tiefe der „Versunknen Glocke" und des „Mitmenschen"
von Richard Dehmel. Und alle dreimal stellte und stellt er sich an, als ob
das gesamte Leben in den kleinen neugewonnenen Teilen aufgegangen sei, als
ob der heute zum erstenmal erblickte oder dem Felsen entschlagne Quell den
Strom und das Weltmeer ausgetrunken habe.

Schlimmer als dieser Kunstfreund wirkt in allen litterarischen und künstle¬
rischen Revolutionen der Ästhetiker und Kritiker, der den Glauben verbreiten
hilft, daß gerade die neuste Entwicklung alle vorangegangnen überflüssig mache,
weil sie die vorangegangnen einschließe. Dem schaffenden Dichter und Künstler,
der einen neuen Brunnen des Lebens erschlossen, neue Erscheinungen des Da¬
seins erfaßt hat, ist es leicht zu verzeihen, wenn er sich über das Verhältnis
seines Neuen zum Ganzen der Welt täuscht, auch wird der Schaffende, sofern
er der echte ist, in allen Perioden der Kunst, nach rasch verfliegender revolu¬
tionärer Glut, den zerrissenen Zusammenhang mit der Natur und dem Leben,
die vor ihm waren und nach ihm sein werden, um so rascher wieder gewinnen,
je tiefer, natürlicher und wertvoller das Besondre ist, das er zuerst geschaut


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[0278] sich unbestreitbaren Vordersätzen falsche Schlüsse gezogen und als Wahrheiten verbreitet werden. Es ist ja gewiß, daß im guten oder schlimmen Sinne jede Generation wirklich schöpferischer Talente der Natur und dem Leben neue Ge¬ stalten, Stimmungen und Schilderungen abgewinnt, es ist natürlich und wenigstens begreiflich, daß in revolutionären Perioden gerade dieser Neugewinn überschätzt und einseitig bevorzugt wird, es ist ferner unleugbar, daß auch längst bekannte Erscheinungen der Welt und der Menschheit durch die Gesamt¬ anschauung einer neuen Schule wie einzelner großer Dichter in eine neue Be¬ leuchtung gerückt werden können. Weil dies so ist und immer so sein wird, unterliegt die revolutionäre Parteikritik nur allzu oft, und vorzugsweise in den litterarischen Revolutionen, die wir hier im Ange haben, der Versuchung, die Hauptsache zu vergessen und zu verschweigen, daß nämlich auch die größte Summe dessen, was neue Dichter und Künstler neu zum Bilde der Welt hinzubringen, was sie in neuer Auffassung, größerer Schärfe der Wirklichkeit, mit tieferen Eindringen als seither schauen und darstellen, doch nur ein Teil, meist ein verschwindender Teil der gesamten Natur und des gesamten Lebens ist. Das Kunstgigerl aller Zeiten, der dilettantische Tropf, der die jedesmalige Mode für die normale Tracht hält lind gerade Empfänglichkeit und Urteil genug hat, das äußerlich Neue vom Überlieferten unterscheiden zu können, bildet sich immer aufs neue ein, daß Shakespeare und Goethe Welt und Leben falsch gesehen und unzulänglich wiedergegeben hätten. Dieser Gesell sah in den Tagen Tiecks und Hardenbergs nur in deren Gebilden Natur und Seele, schwor in den Tagen der Jung¬ deutschen nur auf Heines Gefühl und Witz, auf Bornes politischen Zorn und Freisinn und schwört heute wieder, je nachdem, auf die erschütternde Wirklich¬ keitsschilderung von Hauptmanns „Webern" und „Fuhrmann Henschel" oder auf die symbolische Tiefe der „Versunknen Glocke" und des „Mitmenschen" von Richard Dehmel. Und alle dreimal stellte und stellt er sich an, als ob das gesamte Leben in den kleinen neugewonnenen Teilen aufgegangen sei, als ob der heute zum erstenmal erblickte oder dem Felsen entschlagne Quell den Strom und das Weltmeer ausgetrunken habe. Schlimmer als dieser Kunstfreund wirkt in allen litterarischen und künstle¬ rischen Revolutionen der Ästhetiker und Kritiker, der den Glauben verbreiten hilft, daß gerade die neuste Entwicklung alle vorangegangnen überflüssig mache, weil sie die vorangegangnen einschließe. Dem schaffenden Dichter und Künstler, der einen neuen Brunnen des Lebens erschlossen, neue Erscheinungen des Da¬ seins erfaßt hat, ist es leicht zu verzeihen, wenn er sich über das Verhältnis seines Neuen zum Ganzen der Welt täuscht, auch wird der Schaffende, sofern er der echte ist, in allen Perioden der Kunst, nach rasch verfliegender revolu¬ tionärer Glut, den zerrissenen Zusammenhang mit der Natur und dem Leben, die vor ihm waren und nach ihm sein werden, um so rascher wieder gewinnen, je tiefer, natürlicher und wertvoller das Besondre ist, das er zuerst geschaut

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/278>, abgerufen am 28.09.2024.