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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Die Streitkräfte Italiens

Falle umjubelt, im andern von allen verlassen. Feige gab das Heer das
Königtum dem Pöbel preis und begleitete singend und tanzend den edelsten
aller französischen Könige auf das Schafott; feige hatte es dessen Verteidigung
den Schweizern, den Fremden, überlassen- Dann verriet die glorreiche Armee
die Republik an den Korsen, diesen an das legitime Königtum, dann wurde
noch einmal gewechselt und wieder gewechselt, um von den Bourbonen zu den
Orleans, von diesen zur Republik, wieder zum Kaiser und wieder zur Republik
zu laufen. Und wer kann wissen, wohin es jetzt geht? Zu wundern braucht
man sich aber unter solchen Umständen nicht, daß Frankreich, einst die erste
Militärmacht Europas, so lange gänzlich isoliert geblieben ist, bis der Mächtige
an der Newa das erlösende Wort von der russisch-französischen Allianz, die
ihre Probe erst bestehn muß, gesprochen hat; die Vündnisfähigkcit Frankreichs
ist eben bisher nicht besonders einleuchtend gewesen.

Ganz anders Österreich und Italien. Das italienische Heer, vor allem
dessen Offizierkorps, ist durchaus königstreu und treibt keinerlei Politik; darin
liegt das ganze Geheimnis der riesenhaften Fortschritte, die das seit 1870 voll¬
ständig neu geschaffne Heer gemacht hat. Alle die alten Kontingente mußten
gänzlich aufgelöst werden. Der Keim, aus dem die heutige Armee heraus¬
gewachsen, das piemontesische, im Vergleiche zur gegenwärtigen Streitmacht des
Landes doch recht kleine Kontingent, bot keineswegs eine ähnlich unerschütter¬
liche Grundlage, wie Preußens Heer den 1867 und 1871 hinzugetretnen
Truppen. Um so mehr muß man Italiens militärische Fortschritte, die, wie
wir nachher hören werden, auch in andrer mehrfacher Richtung von wohl¬
thätigen Einwirkungen auf Land und Volk begleitet sind, anerkennen. Hätten
die italienischen Armeeorganisationen, hätte das gesamte Offizierkorps das be¬
währte preußische Beispiel nicht nachgeahmt -- nicht nur nach seinen Formen,
sondern mich nach seinem Geiste --, dann hätte das junge Königreich auf alle
Vorteile einer kräftigen Politik nicht nur verzichten müssen, sondern es wäre
längst wieder aus einander gefallen und Hütte zu unberechenbaren Verwicklungen
Anlaß geboten.

Der Ausspruch: Das Heer ist die Schule des Volkes, hat in Italien seine
ganz besondre Bedeutung. Die sozialen Verhältnisse dieses von der Natur so
reich gesegneten Landes mit seiner unvergleichlichen geographischen Lage lassen
gewiß sehr viel zu wünschen übrig. Daran trägt aber nicht immer die teil¬
weise vorhandne, sehr häufig auch nur angebliche Not die Schuld. Nicht daß
die untern Klassen in allen Fällen nicht besser leben könnten, nein, sehr oft
wollen sie nicht anders leben. Ihre Bedürfnislosigkeit spottet allen unsern
nordischen Begriffen- Der italienische Arbeiter sieht des Lebens Glück nicht
im Genusse, sondern im Bewußtsein des Besitzes. Nur Geld einnehmen, an¬
legen, aber gar keins unter die kleinen Leute bringen, ist an der Tagesordnung.
Ein Stück trocknes Brot, eine Handvoll Polenta, ein auf der Straße aufge-


Grenzboten II 1899 3
Die Streitkräfte Italiens

Falle umjubelt, im andern von allen verlassen. Feige gab das Heer das
Königtum dem Pöbel preis und begleitete singend und tanzend den edelsten
aller französischen Könige auf das Schafott; feige hatte es dessen Verteidigung
den Schweizern, den Fremden, überlassen- Dann verriet die glorreiche Armee
die Republik an den Korsen, diesen an das legitime Königtum, dann wurde
noch einmal gewechselt und wieder gewechselt, um von den Bourbonen zu den
Orleans, von diesen zur Republik, wieder zum Kaiser und wieder zur Republik
zu laufen. Und wer kann wissen, wohin es jetzt geht? Zu wundern braucht
man sich aber unter solchen Umständen nicht, daß Frankreich, einst die erste
Militärmacht Europas, so lange gänzlich isoliert geblieben ist, bis der Mächtige
an der Newa das erlösende Wort von der russisch-französischen Allianz, die
ihre Probe erst bestehn muß, gesprochen hat; die Vündnisfähigkcit Frankreichs
ist eben bisher nicht besonders einleuchtend gewesen.

Ganz anders Österreich und Italien. Das italienische Heer, vor allem
dessen Offizierkorps, ist durchaus königstreu und treibt keinerlei Politik; darin
liegt das ganze Geheimnis der riesenhaften Fortschritte, die das seit 1870 voll¬
ständig neu geschaffne Heer gemacht hat. Alle die alten Kontingente mußten
gänzlich aufgelöst werden. Der Keim, aus dem die heutige Armee heraus¬
gewachsen, das piemontesische, im Vergleiche zur gegenwärtigen Streitmacht des
Landes doch recht kleine Kontingent, bot keineswegs eine ähnlich unerschütter¬
liche Grundlage, wie Preußens Heer den 1867 und 1871 hinzugetretnen
Truppen. Um so mehr muß man Italiens militärische Fortschritte, die, wie
wir nachher hören werden, auch in andrer mehrfacher Richtung von wohl¬
thätigen Einwirkungen auf Land und Volk begleitet sind, anerkennen. Hätten
die italienischen Armeeorganisationen, hätte das gesamte Offizierkorps das be¬
währte preußische Beispiel nicht nachgeahmt — nicht nur nach seinen Formen,
sondern mich nach seinem Geiste —, dann hätte das junge Königreich auf alle
Vorteile einer kräftigen Politik nicht nur verzichten müssen, sondern es wäre
längst wieder aus einander gefallen und Hütte zu unberechenbaren Verwicklungen
Anlaß geboten.

Der Ausspruch: Das Heer ist die Schule des Volkes, hat in Italien seine
ganz besondre Bedeutung. Die sozialen Verhältnisse dieses von der Natur so
reich gesegneten Landes mit seiner unvergleichlichen geographischen Lage lassen
gewiß sehr viel zu wünschen übrig. Daran trägt aber nicht immer die teil¬
weise vorhandne, sehr häufig auch nur angebliche Not die Schuld. Nicht daß
die untern Klassen in allen Fällen nicht besser leben könnten, nein, sehr oft
wollen sie nicht anders leben. Ihre Bedürfnislosigkeit spottet allen unsern
nordischen Begriffen- Der italienische Arbeiter sieht des Lebens Glück nicht
im Genusse, sondern im Bewußtsein des Besitzes. Nur Geld einnehmen, an¬
legen, aber gar keins unter die kleinen Leute bringen, ist an der Tagesordnung.
Ein Stück trocknes Brot, eine Handvoll Polenta, ein auf der Straße aufge-


Grenzboten II 1899 3
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/25>, abgerufen am 28.09.2024.