Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur

dem ihre Vorgänger huldigten, sie können die Natur nicht über die Kunst
vergessen machen; sie können nicht mehr so zart und ätherisch dahinschweben,
die Wahrheit und Wirklichkeit hat sich ihnen zu gewaltig aufgedrungen, und
mit dieser, das ist ihre Schicksalsaufgabe, müssen sie so lange ringen, bis das
Wirkliche nicht mehr das Gemeine, das dem Ideellen feindlich Entgegen¬
gesetzte ist."

Und wiederum, zum drittenmal, erhebt sich der Anspruch der Jüngsten
in den Worten Otto Brechens, des Herausgebers der "Freien Bühne sür
modernes Leben": "Wir schwören auf keine Formel und wollen nicht wagen,
was in ewiger Bewegung ist, Leben und Kunst an starren Zwang der Regel
anzuketten. Dem Werdenden gilt unser Streben, und aufmerksamer richtet
sich der Blick auf das, was kommen will, als auf jenes ewig Gestrige, das
sich vermißt, in Konventionen und Satzungen unendliche Möglichkeiten der
Menschheit einmal für immer festzuhalten. Nur wer die Forderungen der
gegenwärtigen Stunde im Innern frei empfindet, wird die bewegenden geistigen
Mächte der Zeit durchdringen als ein moderner Mensch."

Das durchgehende Prinzip in diesen Aussprüchen ist dasselbe: der Litteratur
der Vergangenheit, des "ewig Gestrigen" jede fortwirkende Macht und Be¬
deutung abzusprechen und an die Produktion des Augenblicks die eigentliche
Erfüllung des höchsten Zweckes aller poetischen Litteratur überhaupt zu
knüpfen. Natürlich liegt der Gedanke, daß auch das Heute zum Gestern
werden muß, selbst für einen Quartaner nahe genug, aber wie in Revolutionen
keine die andern verdrängende und mordende Partei nach dem Morgen fragt,
so hat es den Wortführern unsrer litterarische" Revolutionen jedesmal genügt,
die Herrschaft über den Tag und die Stunde zu gewinnen, ja auch nur den
Schein zu erwecken, als ob diese Herrschaft gewonnen wäre. Das ungesunde
Verhältnis zu den Schöpfungen der seitherigen Litteraturentwicklnng hat An¬
schauung und Kritik in allen drei Bewegungen um so mehr vergiftet, als es
ja nie gelingen konnte und in der That keiner der drei revolutionären Schulen
gelungen ist, Seelen und Sinne der Menschen ausschließlich an das eigne
Wollen und Können zu ketten, als die ingrimmigste Fehde gegen die Ver¬
gangenheit in der That immer nur der jüngsten oder vielmehr der Vergangenheit
galt, von der man bestimmt empfand, daß sie auch noch als Gegenwart und
daher als ein Hemmnis erschien für die Alleinherrschaft oder Schreckens¬
herrschaft der zur Spitze strebenden, sich selbst und mir sich verkündenden
Partei. Klique, Gruppe, Schule oder wie man es sonst nennen will.

Gemeinsam ist den drei litterarischen Revolutionen, die wir im neun¬
zehnten Jahrhundert gesehen haben, das bald im Geheimen wirkende, bald
offen hervorbrechende leidenschaftliche und einseitige Verlangen, die Litteratur
erst bei sich beginnen und deren ganze seitherige Entwicklung in den Augen
des deutschen Volkes als eine untergeordnete und halb verächtliche Vorstufe


Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur

dem ihre Vorgänger huldigten, sie können die Natur nicht über die Kunst
vergessen machen; sie können nicht mehr so zart und ätherisch dahinschweben,
die Wahrheit und Wirklichkeit hat sich ihnen zu gewaltig aufgedrungen, und
mit dieser, das ist ihre Schicksalsaufgabe, müssen sie so lange ringen, bis das
Wirkliche nicht mehr das Gemeine, das dem Ideellen feindlich Entgegen¬
gesetzte ist."

Und wiederum, zum drittenmal, erhebt sich der Anspruch der Jüngsten
in den Worten Otto Brechens, des Herausgebers der „Freien Bühne sür
modernes Leben": „Wir schwören auf keine Formel und wollen nicht wagen,
was in ewiger Bewegung ist, Leben und Kunst an starren Zwang der Regel
anzuketten. Dem Werdenden gilt unser Streben, und aufmerksamer richtet
sich der Blick auf das, was kommen will, als auf jenes ewig Gestrige, das
sich vermißt, in Konventionen und Satzungen unendliche Möglichkeiten der
Menschheit einmal für immer festzuhalten. Nur wer die Forderungen der
gegenwärtigen Stunde im Innern frei empfindet, wird die bewegenden geistigen
Mächte der Zeit durchdringen als ein moderner Mensch."

Das durchgehende Prinzip in diesen Aussprüchen ist dasselbe: der Litteratur
der Vergangenheit, des „ewig Gestrigen" jede fortwirkende Macht und Be¬
deutung abzusprechen und an die Produktion des Augenblicks die eigentliche
Erfüllung des höchsten Zweckes aller poetischen Litteratur überhaupt zu
knüpfen. Natürlich liegt der Gedanke, daß auch das Heute zum Gestern
werden muß, selbst für einen Quartaner nahe genug, aber wie in Revolutionen
keine die andern verdrängende und mordende Partei nach dem Morgen fragt,
so hat es den Wortführern unsrer litterarische» Revolutionen jedesmal genügt,
die Herrschaft über den Tag und die Stunde zu gewinnen, ja auch nur den
Schein zu erwecken, als ob diese Herrschaft gewonnen wäre. Das ungesunde
Verhältnis zu den Schöpfungen der seitherigen Litteraturentwicklnng hat An¬
schauung und Kritik in allen drei Bewegungen um so mehr vergiftet, als es
ja nie gelingen konnte und in der That keiner der drei revolutionären Schulen
gelungen ist, Seelen und Sinne der Menschen ausschließlich an das eigne
Wollen und Können zu ketten, als die ingrimmigste Fehde gegen die Ver¬
gangenheit in der That immer nur der jüngsten oder vielmehr der Vergangenheit
galt, von der man bestimmt empfand, daß sie auch noch als Gegenwart und
daher als ein Hemmnis erschien für die Alleinherrschaft oder Schreckens¬
herrschaft der zur Spitze strebenden, sich selbst und mir sich verkündenden
Partei. Klique, Gruppe, Schule oder wie man es sonst nennen will.

Gemeinsam ist den drei litterarischen Revolutionen, die wir im neun¬
zehnten Jahrhundert gesehen haben, das bald im Geheimen wirkende, bald
offen hervorbrechende leidenschaftliche und einseitige Verlangen, die Litteratur
erst bei sich beginnen und deren ganze seitherige Entwicklung in den Augen
des deutschen Volkes als eine untergeordnete und halb verächtliche Vorstufe


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0149" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/230581"/>
          <fw type="header" place="top"> Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_464" prev="#ID_463"> dem ihre Vorgänger huldigten, sie können die Natur nicht über die Kunst<lb/>
vergessen machen; sie können nicht mehr so zart und ätherisch dahinschweben,<lb/>
die Wahrheit und Wirklichkeit hat sich ihnen zu gewaltig aufgedrungen, und<lb/>
mit dieser, das ist ihre Schicksalsaufgabe, müssen sie so lange ringen, bis das<lb/>
Wirkliche nicht mehr das Gemeine, das dem Ideellen feindlich Entgegen¬<lb/>
gesetzte ist."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_465"> Und wiederum, zum drittenmal, erhebt sich der Anspruch der Jüngsten<lb/>
in den Worten Otto Brechens, des Herausgebers der &#x201E;Freien Bühne sür<lb/>
modernes Leben": &#x201E;Wir schwören auf keine Formel und wollen nicht wagen,<lb/>
was in ewiger Bewegung ist, Leben und Kunst an starren Zwang der Regel<lb/>
anzuketten. Dem Werdenden gilt unser Streben, und aufmerksamer richtet<lb/>
sich der Blick auf das, was kommen will, als auf jenes ewig Gestrige, das<lb/>
sich vermißt, in Konventionen und Satzungen unendliche Möglichkeiten der<lb/>
Menschheit einmal für immer festzuhalten. Nur wer die Forderungen der<lb/>
gegenwärtigen Stunde im Innern frei empfindet, wird die bewegenden geistigen<lb/>
Mächte der Zeit durchdringen als ein moderner Mensch."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_466"> Das durchgehende Prinzip in diesen Aussprüchen ist dasselbe: der Litteratur<lb/>
der Vergangenheit, des &#x201E;ewig Gestrigen" jede fortwirkende Macht und Be¬<lb/>
deutung abzusprechen und an die Produktion des Augenblicks die eigentliche<lb/>
Erfüllung des höchsten Zweckes aller poetischen Litteratur überhaupt zu<lb/>
knüpfen. Natürlich liegt der Gedanke, daß auch das Heute zum Gestern<lb/>
werden muß, selbst für einen Quartaner nahe genug, aber wie in Revolutionen<lb/>
keine die andern verdrängende und mordende Partei nach dem Morgen fragt,<lb/>
so hat es den Wortführern unsrer litterarische» Revolutionen jedesmal genügt,<lb/>
die Herrschaft über den Tag und die Stunde zu gewinnen, ja auch nur den<lb/>
Schein zu erwecken, als ob diese Herrschaft gewonnen wäre. Das ungesunde<lb/>
Verhältnis zu den Schöpfungen der seitherigen Litteraturentwicklnng hat An¬<lb/>
schauung und Kritik in allen drei Bewegungen um so mehr vergiftet, als es<lb/>
ja nie gelingen konnte und in der That keiner der drei revolutionären Schulen<lb/>
gelungen ist, Seelen und Sinne der Menschen ausschließlich an das eigne<lb/>
Wollen und Können zu ketten, als die ingrimmigste Fehde gegen die Ver¬<lb/>
gangenheit in der That immer nur der jüngsten oder vielmehr der Vergangenheit<lb/>
galt, von der man bestimmt empfand, daß sie auch noch als Gegenwart und<lb/>
daher als ein Hemmnis erschien für die Alleinherrschaft oder Schreckens¬<lb/>
herrschaft der zur Spitze strebenden, sich selbst und mir sich verkündenden<lb/>
Partei. Klique, Gruppe, Schule oder wie man es sonst nennen will.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_467" next="#ID_468"> Gemeinsam ist den drei litterarischen Revolutionen, die wir im neun¬<lb/>
zehnten Jahrhundert gesehen haben, das bald im Geheimen wirkende, bald<lb/>
offen hervorbrechende leidenschaftliche und einseitige Verlangen, die Litteratur<lb/>
erst bei sich beginnen und deren ganze seitherige Entwicklung in den Augen<lb/>
des deutschen Volkes als eine untergeordnete und halb verächtliche Vorstufe</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0149] Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur dem ihre Vorgänger huldigten, sie können die Natur nicht über die Kunst vergessen machen; sie können nicht mehr so zart und ätherisch dahinschweben, die Wahrheit und Wirklichkeit hat sich ihnen zu gewaltig aufgedrungen, und mit dieser, das ist ihre Schicksalsaufgabe, müssen sie so lange ringen, bis das Wirkliche nicht mehr das Gemeine, das dem Ideellen feindlich Entgegen¬ gesetzte ist." Und wiederum, zum drittenmal, erhebt sich der Anspruch der Jüngsten in den Worten Otto Brechens, des Herausgebers der „Freien Bühne sür modernes Leben": „Wir schwören auf keine Formel und wollen nicht wagen, was in ewiger Bewegung ist, Leben und Kunst an starren Zwang der Regel anzuketten. Dem Werdenden gilt unser Streben, und aufmerksamer richtet sich der Blick auf das, was kommen will, als auf jenes ewig Gestrige, das sich vermißt, in Konventionen und Satzungen unendliche Möglichkeiten der Menschheit einmal für immer festzuhalten. Nur wer die Forderungen der gegenwärtigen Stunde im Innern frei empfindet, wird die bewegenden geistigen Mächte der Zeit durchdringen als ein moderner Mensch." Das durchgehende Prinzip in diesen Aussprüchen ist dasselbe: der Litteratur der Vergangenheit, des „ewig Gestrigen" jede fortwirkende Macht und Be¬ deutung abzusprechen und an die Produktion des Augenblicks die eigentliche Erfüllung des höchsten Zweckes aller poetischen Litteratur überhaupt zu knüpfen. Natürlich liegt der Gedanke, daß auch das Heute zum Gestern werden muß, selbst für einen Quartaner nahe genug, aber wie in Revolutionen keine die andern verdrängende und mordende Partei nach dem Morgen fragt, so hat es den Wortführern unsrer litterarische» Revolutionen jedesmal genügt, die Herrschaft über den Tag und die Stunde zu gewinnen, ja auch nur den Schein zu erwecken, als ob diese Herrschaft gewonnen wäre. Das ungesunde Verhältnis zu den Schöpfungen der seitherigen Litteraturentwicklnng hat An¬ schauung und Kritik in allen drei Bewegungen um so mehr vergiftet, als es ja nie gelingen konnte und in der That keiner der drei revolutionären Schulen gelungen ist, Seelen und Sinne der Menschen ausschließlich an das eigne Wollen und Können zu ketten, als die ingrimmigste Fehde gegen die Ver¬ gangenheit in der That immer nur der jüngsten oder vielmehr der Vergangenheit galt, von der man bestimmt empfand, daß sie auch noch als Gegenwart und daher als ein Hemmnis erschien für die Alleinherrschaft oder Schreckens¬ herrschaft der zur Spitze strebenden, sich selbst und mir sich verkündenden Partei. Klique, Gruppe, Schule oder wie man es sonst nennen will. Gemeinsam ist den drei litterarischen Revolutionen, die wir im neun¬ zehnten Jahrhundert gesehen haben, das bald im Geheimen wirkende, bald offen hervorbrechende leidenschaftliche und einseitige Verlangen, die Litteratur erst bei sich beginnen und deren ganze seitherige Entwicklung in den Augen des deutschen Volkes als eine untergeordnete und halb verächtliche Vorstufe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/149
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/149>, abgerufen am 28.09.2024.