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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur

erscheinen zu lassen. Gemeinsam ist ihnen ferner der trotzige Anspruch, das
wahre Verhältnis der Poesie zum Leben und des Lebens zur Poesie (die Jung¬
deutschen sagten freilich nur zur Litteratur, da ihnen die Poesie einmal für
allemal gleichgiltig war) erst entdeckt zu haben. Gemeinsam ist ihnen endlich
die ganz eigentümliche Thatsache, daß, während das Verlangen, der Anspruch
und die vernichtende Kritik gegen frühere Entwicklungsperioden dieselben bleiben,
das ursprünglich ins Auge gefaßte Ziel nach Verlauf eines Jahrzehnts so
überraschend wechselt, wie die Dekoration in irgend einem abwechslungsreichen
Drama.

Hält man den Vergleich einer litterarischen Revolution mit einer welt¬
geschichtlichen fest, so kann man sagen, daß sich die schärfere, extremere Partei,
so lange die revolutionäre Stimmung und Spannung dauert, regelmäßig an
die Stelle der zuerst führenden und vorwärts drängenden setzt. So ver¬
wandelte sich in der Periode der Romantik um 1808 und 1809 die ursprüng¬
liche freie Dichtung, die als obersten Grundsatz verkündet hatte, daß der Dichter
kein andres Gesetz über sich leide, als die Willkür seiner Phantasie und Em¬
pfindung, in eine der alten Kirche, ihren Dogmen und Überlieferungen gläubig
untergeordnete Hingebung an den Weltbeherrschungsgedanken des Katholizismus
und in eine strenge Dienstbarkeit der Litteratur und Kunst. So mußte um
1840 das junge Deutschland den ursprünglich gepriesenen und verfochtneu
Liberalismus mit dem Radikalismus vertauschen, und an die Stelle der eifrigen
Apostel des modernen Stils und der alleinseligmachenden Prosa eine in Platens
Spuren wandelnde Vers- und klangfrohe politische Lyrik treten sehen, gegen
die auch der bitterste Spott Heinrich Heines im "Atta Troll" zunächst nichts
ausrichten konnte. So hat es auch in der jüngsten litterarischen Revolution
etwa nur ein Jahrzehnt bedurft, um an die Stelle des zuversichtlich drein-
fahrenden Naturalismus, mit dem die Bewegung anhob, die symbolistische
Schule oder Gruppe jüngerer Dichter in den Vordergrund zu stelle", sodaß
selbst alte Häupter der verwegnen und herausfordernden Wirklichkeitsschilderung
und Elendspoesie anfangen, sich und ihre Bewundrer mit erquälten Märchen,
die eine tiefere und tiefste Deutung einschließen, zu verwirren.

Man kann in allen drei Fällen zugeben, daß die Keime zu der zweiten,
die erste ablösende und für einen Irrtum erklärende Entwicklung immerhin
schon in den Anfängen der jedesmaligen Gärung und Bewegung vorhanden
waren. Und man wird vor allen Dingen nicht vergessen dürfen, daß in der
romantischen wie in der jungdeutschen und jüngstdeutschen Revolution immer
nur ein Bruchteil der ursprünglichen Führer die zweite, aus der ersten hervor¬
springende Partei angefeuert und gelenkt hat. Von den ersten Häuptern der
Romantik unterwarf sich im Grunde nur Friedrich Schlegel der katholischen
Kirche und dem neu emporstrebenden Ultramontanismus vollständig, sein
Bruder August Wilhelm und Ludwig Tieck folgten nur zögernd, halb wider-


Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur

erscheinen zu lassen. Gemeinsam ist ihnen ferner der trotzige Anspruch, das
wahre Verhältnis der Poesie zum Leben und des Lebens zur Poesie (die Jung¬
deutschen sagten freilich nur zur Litteratur, da ihnen die Poesie einmal für
allemal gleichgiltig war) erst entdeckt zu haben. Gemeinsam ist ihnen endlich
die ganz eigentümliche Thatsache, daß, während das Verlangen, der Anspruch
und die vernichtende Kritik gegen frühere Entwicklungsperioden dieselben bleiben,
das ursprünglich ins Auge gefaßte Ziel nach Verlauf eines Jahrzehnts so
überraschend wechselt, wie die Dekoration in irgend einem abwechslungsreichen
Drama.

Hält man den Vergleich einer litterarischen Revolution mit einer welt¬
geschichtlichen fest, so kann man sagen, daß sich die schärfere, extremere Partei,
so lange die revolutionäre Stimmung und Spannung dauert, regelmäßig an
die Stelle der zuerst führenden und vorwärts drängenden setzt. So ver¬
wandelte sich in der Periode der Romantik um 1808 und 1809 die ursprüng¬
liche freie Dichtung, die als obersten Grundsatz verkündet hatte, daß der Dichter
kein andres Gesetz über sich leide, als die Willkür seiner Phantasie und Em¬
pfindung, in eine der alten Kirche, ihren Dogmen und Überlieferungen gläubig
untergeordnete Hingebung an den Weltbeherrschungsgedanken des Katholizismus
und in eine strenge Dienstbarkeit der Litteratur und Kunst. So mußte um
1840 das junge Deutschland den ursprünglich gepriesenen und verfochtneu
Liberalismus mit dem Radikalismus vertauschen, und an die Stelle der eifrigen
Apostel des modernen Stils und der alleinseligmachenden Prosa eine in Platens
Spuren wandelnde Vers- und klangfrohe politische Lyrik treten sehen, gegen
die auch der bitterste Spott Heinrich Heines im „Atta Troll" zunächst nichts
ausrichten konnte. So hat es auch in der jüngsten litterarischen Revolution
etwa nur ein Jahrzehnt bedurft, um an die Stelle des zuversichtlich drein-
fahrenden Naturalismus, mit dem die Bewegung anhob, die symbolistische
Schule oder Gruppe jüngerer Dichter in den Vordergrund zu stelle», sodaß
selbst alte Häupter der verwegnen und herausfordernden Wirklichkeitsschilderung
und Elendspoesie anfangen, sich und ihre Bewundrer mit erquälten Märchen,
die eine tiefere und tiefste Deutung einschließen, zu verwirren.

Man kann in allen drei Fällen zugeben, daß die Keime zu der zweiten,
die erste ablösende und für einen Irrtum erklärende Entwicklung immerhin
schon in den Anfängen der jedesmaligen Gärung und Bewegung vorhanden
waren. Und man wird vor allen Dingen nicht vergessen dürfen, daß in der
romantischen wie in der jungdeutschen und jüngstdeutschen Revolution immer
nur ein Bruchteil der ursprünglichen Führer die zweite, aus der ersten hervor¬
springende Partei angefeuert und gelenkt hat. Von den ersten Häuptern der
Romantik unterwarf sich im Grunde nur Friedrich Schlegel der katholischen
Kirche und dem neu emporstrebenden Ultramontanismus vollständig, sein
Bruder August Wilhelm und Ludwig Tieck folgten nur zögernd, halb wider-


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[0150] Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur erscheinen zu lassen. Gemeinsam ist ihnen ferner der trotzige Anspruch, das wahre Verhältnis der Poesie zum Leben und des Lebens zur Poesie (die Jung¬ deutschen sagten freilich nur zur Litteratur, da ihnen die Poesie einmal für allemal gleichgiltig war) erst entdeckt zu haben. Gemeinsam ist ihnen endlich die ganz eigentümliche Thatsache, daß, während das Verlangen, der Anspruch und die vernichtende Kritik gegen frühere Entwicklungsperioden dieselben bleiben, das ursprünglich ins Auge gefaßte Ziel nach Verlauf eines Jahrzehnts so überraschend wechselt, wie die Dekoration in irgend einem abwechslungsreichen Drama. Hält man den Vergleich einer litterarischen Revolution mit einer welt¬ geschichtlichen fest, so kann man sagen, daß sich die schärfere, extremere Partei, so lange die revolutionäre Stimmung und Spannung dauert, regelmäßig an die Stelle der zuerst führenden und vorwärts drängenden setzt. So ver¬ wandelte sich in der Periode der Romantik um 1808 und 1809 die ursprüng¬ liche freie Dichtung, die als obersten Grundsatz verkündet hatte, daß der Dichter kein andres Gesetz über sich leide, als die Willkür seiner Phantasie und Em¬ pfindung, in eine der alten Kirche, ihren Dogmen und Überlieferungen gläubig untergeordnete Hingebung an den Weltbeherrschungsgedanken des Katholizismus und in eine strenge Dienstbarkeit der Litteratur und Kunst. So mußte um 1840 das junge Deutschland den ursprünglich gepriesenen und verfochtneu Liberalismus mit dem Radikalismus vertauschen, und an die Stelle der eifrigen Apostel des modernen Stils und der alleinseligmachenden Prosa eine in Platens Spuren wandelnde Vers- und klangfrohe politische Lyrik treten sehen, gegen die auch der bitterste Spott Heinrich Heines im „Atta Troll" zunächst nichts ausrichten konnte. So hat es auch in der jüngsten litterarischen Revolution etwa nur ein Jahrzehnt bedurft, um an die Stelle des zuversichtlich drein- fahrenden Naturalismus, mit dem die Bewegung anhob, die symbolistische Schule oder Gruppe jüngerer Dichter in den Vordergrund zu stelle», sodaß selbst alte Häupter der verwegnen und herausfordernden Wirklichkeitsschilderung und Elendspoesie anfangen, sich und ihre Bewundrer mit erquälten Märchen, die eine tiefere und tiefste Deutung einschließen, zu verwirren. Man kann in allen drei Fällen zugeben, daß die Keime zu der zweiten, die erste ablösende und für einen Irrtum erklärende Entwicklung immerhin schon in den Anfängen der jedesmaligen Gärung und Bewegung vorhanden waren. Und man wird vor allen Dingen nicht vergessen dürfen, daß in der romantischen wie in der jungdeutschen und jüngstdeutschen Revolution immer nur ein Bruchteil der ursprünglichen Führer die zweite, aus der ersten hervor¬ springende Partei angefeuert und gelenkt hat. Von den ersten Häuptern der Romantik unterwarf sich im Grunde nur Friedrich Schlegel der katholischen Kirche und dem neu emporstrebenden Ultramontanismus vollständig, sein Bruder August Wilhelm und Ludwig Tieck folgten nur zögernd, halb wider-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/150>, abgerufen am 21.10.2024.