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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur

Lindau, Lubliner, L'Arronge und daneben ein paar Akademiker wie Graf Schack
und H. Kruse kritisch vernichtet wurden; Vleibtreus "Revolution der Litteratur,"
die von der Voraussetzung ausging, daß die ganze deutsche Litteratur der
Gegenwart von der Lüge des Philisteriums und dem Banausentum der Familien¬
blätter beherrscht sei, die endlosen ingrimmigen Darlegungen, das; in den Roman¬
erfindungen der Frcinlein Marlitt und Bürstenbinder kein echter Hauch und
kein wahres Wort, in den geschickt gemachten Effektdramen Blumenthals und
andrer Industriellen weder ein Funken innern Lebens, noch eine Spur wirklicher
Menschendarstellung zu finden sei, lauter Behauptungen, denen kein Mensch von
Urteil und Geschmack je widersprochen hat, noch widersprechen konnte, hallen
uns noch immer vor den Ohren. Auch die wilden Flüche gegen das verlogne
Strebertum, deu käuflichen Patriotismus und die lüsterne Genußsucht der
siebziger Jahre, die mehr oder minder eine Reihe von Talenten in ihre Strudel
gezogen hatten, durchschwirren bis heute die Luft, und immer und überall
war die empörte, besseres heischende Jugend in ihrem Recht -- in demselben
Recht, mit dem die Romantiker gegen Kotzebue und Lafontaine, die Jung¬
deutschen gegen Raupach und Clauren Front gemacht hatten. Nur schade, daß
auch in dieser dritten, wie in der ersten und zweiten, Litteraturauffassung und
Kritik gewaltige Lücken blieben, daß es wiederum ein Ausfluß revolutionärer
Einseitigkeit war, der die Jugend über alle wirklichen und gesunden Talente
hinwegsehen ließ. Man wollte eine Wüste ohne Oasen und Quellen sehen
und das dem deutschen Volke einreden, nur um den Trunk aus den eignen
Schläuchen um so höher anpreisen und werten zu können.

Natürlich lag dieser Einseitigkeit nicht alle dreimal und jedenfalls nicht
überall eine bewußte Selbstsucht, sondern vielfach auch ehrliche Selbsttäuschung
zu Grunde. Die Atmosphäre des Kampfes wider eine zahlreiche Gegnerschaft
ist dieser Art Selbsttäuschung besonders günstig. Wenn Schleiermacher, der
etwas und fast zuviel von der innern Geschichte der Romantik wußte, im
Jahre 1800 (an G. von Brinkmann) eingestand: "Der Grund, warum die
sogenannte neue Schule eine Sekte bildet, liegt mehr außer ihr als in ihr.
Wenn man betrachtet, wie gänzlich verschieden in ihren Prinzipien, in der
Art, wie sie selbst dazu gekommen sind und wie sie selbst sie ansehen,
Fr. Schlegel, Tieck und A. W. Schlegel sind, so muß mau wohl gestehn, daß
hier keine Neigung sein kaun offensiv eine Sekte zu bilde", sondern höchstens
defensiv; sie könnten also unmöglich existieren, wenn die andern, die sich die
alte Schule zu bilden einbilden, nicht offendierten."

Im Verlauf der beiden spätern Revolutionen tritt der angreifende Geist
immer stärker an die Stelle des sich verteidigenden; aber ob Angriff oder
Abwehr, es ist immer Kampfgetümmel, in dem die Stimme der Einsicht und
des Gewissens übertäubt wird. Gelegentlich und vorübergehend regt auch sie
sich. Aber man braucht nur die sauersüße Miene zu betrachten, mit der die


Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur

Lindau, Lubliner, L'Arronge und daneben ein paar Akademiker wie Graf Schack
und H. Kruse kritisch vernichtet wurden; Vleibtreus „Revolution der Litteratur,"
die von der Voraussetzung ausging, daß die ganze deutsche Litteratur der
Gegenwart von der Lüge des Philisteriums und dem Banausentum der Familien¬
blätter beherrscht sei, die endlosen ingrimmigen Darlegungen, das; in den Roman¬
erfindungen der Frcinlein Marlitt und Bürstenbinder kein echter Hauch und
kein wahres Wort, in den geschickt gemachten Effektdramen Blumenthals und
andrer Industriellen weder ein Funken innern Lebens, noch eine Spur wirklicher
Menschendarstellung zu finden sei, lauter Behauptungen, denen kein Mensch von
Urteil und Geschmack je widersprochen hat, noch widersprechen konnte, hallen
uns noch immer vor den Ohren. Auch die wilden Flüche gegen das verlogne
Strebertum, deu käuflichen Patriotismus und die lüsterne Genußsucht der
siebziger Jahre, die mehr oder minder eine Reihe von Talenten in ihre Strudel
gezogen hatten, durchschwirren bis heute die Luft, und immer und überall
war die empörte, besseres heischende Jugend in ihrem Recht — in demselben
Recht, mit dem die Romantiker gegen Kotzebue und Lafontaine, die Jung¬
deutschen gegen Raupach und Clauren Front gemacht hatten. Nur schade, daß
auch in dieser dritten, wie in der ersten und zweiten, Litteraturauffassung und
Kritik gewaltige Lücken blieben, daß es wiederum ein Ausfluß revolutionärer
Einseitigkeit war, der die Jugend über alle wirklichen und gesunden Talente
hinwegsehen ließ. Man wollte eine Wüste ohne Oasen und Quellen sehen
und das dem deutschen Volke einreden, nur um den Trunk aus den eignen
Schläuchen um so höher anpreisen und werten zu können.

Natürlich lag dieser Einseitigkeit nicht alle dreimal und jedenfalls nicht
überall eine bewußte Selbstsucht, sondern vielfach auch ehrliche Selbsttäuschung
zu Grunde. Die Atmosphäre des Kampfes wider eine zahlreiche Gegnerschaft
ist dieser Art Selbsttäuschung besonders günstig. Wenn Schleiermacher, der
etwas und fast zuviel von der innern Geschichte der Romantik wußte, im
Jahre 1800 (an G. von Brinkmann) eingestand: „Der Grund, warum die
sogenannte neue Schule eine Sekte bildet, liegt mehr außer ihr als in ihr.
Wenn man betrachtet, wie gänzlich verschieden in ihren Prinzipien, in der
Art, wie sie selbst dazu gekommen sind und wie sie selbst sie ansehen,
Fr. Schlegel, Tieck und A. W. Schlegel sind, so muß mau wohl gestehn, daß
hier keine Neigung sein kaun offensiv eine Sekte zu bilde», sondern höchstens
defensiv; sie könnten also unmöglich existieren, wenn die andern, die sich die
alte Schule zu bilden einbilden, nicht offendierten."

Im Verlauf der beiden spätern Revolutionen tritt der angreifende Geist
immer stärker an die Stelle des sich verteidigenden; aber ob Angriff oder
Abwehr, es ist immer Kampfgetümmel, in dem die Stimme der Einsicht und
des Gewissens übertäubt wird. Gelegentlich und vorübergehend regt auch sie
sich. Aber man braucht nur die sauersüße Miene zu betrachten, mit der die


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[0147] Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur Lindau, Lubliner, L'Arronge und daneben ein paar Akademiker wie Graf Schack und H. Kruse kritisch vernichtet wurden; Vleibtreus „Revolution der Litteratur," die von der Voraussetzung ausging, daß die ganze deutsche Litteratur der Gegenwart von der Lüge des Philisteriums und dem Banausentum der Familien¬ blätter beherrscht sei, die endlosen ingrimmigen Darlegungen, das; in den Roman¬ erfindungen der Frcinlein Marlitt und Bürstenbinder kein echter Hauch und kein wahres Wort, in den geschickt gemachten Effektdramen Blumenthals und andrer Industriellen weder ein Funken innern Lebens, noch eine Spur wirklicher Menschendarstellung zu finden sei, lauter Behauptungen, denen kein Mensch von Urteil und Geschmack je widersprochen hat, noch widersprechen konnte, hallen uns noch immer vor den Ohren. Auch die wilden Flüche gegen das verlogne Strebertum, deu käuflichen Patriotismus und die lüsterne Genußsucht der siebziger Jahre, die mehr oder minder eine Reihe von Talenten in ihre Strudel gezogen hatten, durchschwirren bis heute die Luft, und immer und überall war die empörte, besseres heischende Jugend in ihrem Recht — in demselben Recht, mit dem die Romantiker gegen Kotzebue und Lafontaine, die Jung¬ deutschen gegen Raupach und Clauren Front gemacht hatten. Nur schade, daß auch in dieser dritten, wie in der ersten und zweiten, Litteraturauffassung und Kritik gewaltige Lücken blieben, daß es wiederum ein Ausfluß revolutionärer Einseitigkeit war, der die Jugend über alle wirklichen und gesunden Talente hinwegsehen ließ. Man wollte eine Wüste ohne Oasen und Quellen sehen und das dem deutschen Volke einreden, nur um den Trunk aus den eignen Schläuchen um so höher anpreisen und werten zu können. Natürlich lag dieser Einseitigkeit nicht alle dreimal und jedenfalls nicht überall eine bewußte Selbstsucht, sondern vielfach auch ehrliche Selbsttäuschung zu Grunde. Die Atmosphäre des Kampfes wider eine zahlreiche Gegnerschaft ist dieser Art Selbsttäuschung besonders günstig. Wenn Schleiermacher, der etwas und fast zuviel von der innern Geschichte der Romantik wußte, im Jahre 1800 (an G. von Brinkmann) eingestand: „Der Grund, warum die sogenannte neue Schule eine Sekte bildet, liegt mehr außer ihr als in ihr. Wenn man betrachtet, wie gänzlich verschieden in ihren Prinzipien, in der Art, wie sie selbst dazu gekommen sind und wie sie selbst sie ansehen, Fr. Schlegel, Tieck und A. W. Schlegel sind, so muß mau wohl gestehn, daß hier keine Neigung sein kaun offensiv eine Sekte zu bilde», sondern höchstens defensiv; sie könnten also unmöglich existieren, wenn die andern, die sich die alte Schule zu bilden einbilden, nicht offendierten." Im Verlauf der beiden spätern Revolutionen tritt der angreifende Geist immer stärker an die Stelle des sich verteidigenden; aber ob Angriff oder Abwehr, es ist immer Kampfgetümmel, in dem die Stimme der Einsicht und des Gewissens übertäubt wird. Gelegentlich und vorübergehend regt auch sie sich. Aber man braucht nur die sauersüße Miene zu betrachten, mit der die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/147>, abgerufen am 20.10.2024.