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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur

neunter Werke und Schriftsteller, die doch nur die niedern und mittlern Regionen
der Litteratur bevölkerten!

Vergleicht man damit die Anfänge der jungdeutschen Kritik um 1830, so
haben wir ganz dasselbe Schauspiel. In ihren Erstlingskritiken, in den von
ihnen herausgegebnen Zeitschriften "Forum der Journallitteratur" und "Aurora"
beginnen Gutzkow und Laube von einer Litteratur zu sprechen, deren Vertreter
Raupach, Th. Hell und Clauren sind, wenn es hoch kommt, sieht Gutzkow
"stagnierende poetische Produktion bei Zedlitz und Schenk," bei denen er mit
Recht "das Mächtige, Gewaltige, Große. Herrliche, Freie" vermißte, das er
allenfalls, wenn sein Blick offen genug gewesen wäre, bei Grillparzer und
Immermann hätte sehen können; Heinrich Heine wußte im "Schwabenspiegel"
nur die bekannten Witze über Gustav Schwab, "den Hering im Vergleich mit
den andern, die nur Sardellen sind, versteht sich Sardellen ohne Salz," über
Justinus Kerner, "der Geister und Blutwürste sieht," und Karl Mayer, der
"eine matte Fliege ist und Maikäfer besingt," zum besten zu geben und einen
schnöden Ausfall gegen Mörike daranzuhängen. Th. Munde schlug sich mit
Romanschriftstellern fünften und sechsten Ranges herum und blieb ohne jede
Ahnung, daß weder Wilibald Alexis noch Rehfues in diese Reihe gehörten;
Ludolf Wienbarg legte trotz seiner posierten litterarischen Vornehmheit den
Schauspiel- und Lustspielfabrikanten in der Art Töpfers eine Bedeutung bei,
die sie nicht hatten, und alle Jungdeutschen gebärdeten sich von der Höhe ihres
Hegelschen Weltbewußtseins herab, als wären die Gedichte König Ludwigs von
Bayern, die pommersche oder märkische Lyrikerschule, die Dramatiker des Berliner
Königstädtischen Theaters, die "frei nach dem Französischen" arbeiteten, die
Reste der Trivialrvmautik, die durch "Abendzeitung" und "Mitternachtsblatt"
schwirrten, die einzigen oder doch die hauptsächlichsten poetischen Lebensäuße¬
rungen auf deutschem Boden.

Es nahm sich dem gegenüber noch großartiger aus, wenn auch nicht ein¬
sichtiger, daß die bedeutende Entwicklung Tiecks zur Darstellung der lebendigen
Gegenwart in seiner Novellistik eben auch als Nachhuschen romantischen Spuks
betrachtet wurde. In dem ganzen Jahrzehnt zwischen 1830 und 1840 erscheint
der Blick der deutschen Kritik vorzugsweise auf die jämmerliche, von vornherein
jedes Anspruchs auf poetischen Gehalt und Wert bare Belletristik gebannt.
Zum zweitenmal schlägt sich eine litterarische Sekte oder Schule, die sich auf
ihre geistige Vornehmheit viel zu gute thut, mit dem Troß der ärmlichen Tages¬
produkte herum, wesentlich um im Publikum das Gefühl zu erwecken, wie groß,
wie ungeheuer der Gegensatz des frischen lebensvollen Neuen zum abgestandnen
überlebten Alten sei.

Die Einzelheiten der dritten, der jüugstdeutschen kritische" Litteraturschil¬
derung sind noch in jedermanns Gedächtnis, der überhaupt Teilnahme an der
deutschen Litteratur hat. Die "Waffeugäuge" der Gebrüder Hart, in denen


Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur

neunter Werke und Schriftsteller, die doch nur die niedern und mittlern Regionen
der Litteratur bevölkerten!

Vergleicht man damit die Anfänge der jungdeutschen Kritik um 1830, so
haben wir ganz dasselbe Schauspiel. In ihren Erstlingskritiken, in den von
ihnen herausgegebnen Zeitschriften „Forum der Journallitteratur" und „Aurora"
beginnen Gutzkow und Laube von einer Litteratur zu sprechen, deren Vertreter
Raupach, Th. Hell und Clauren sind, wenn es hoch kommt, sieht Gutzkow
„stagnierende poetische Produktion bei Zedlitz und Schenk," bei denen er mit
Recht „das Mächtige, Gewaltige, Große. Herrliche, Freie" vermißte, das er
allenfalls, wenn sein Blick offen genug gewesen wäre, bei Grillparzer und
Immermann hätte sehen können; Heinrich Heine wußte im „Schwabenspiegel"
nur die bekannten Witze über Gustav Schwab, „den Hering im Vergleich mit
den andern, die nur Sardellen sind, versteht sich Sardellen ohne Salz," über
Justinus Kerner, „der Geister und Blutwürste sieht," und Karl Mayer, der
„eine matte Fliege ist und Maikäfer besingt," zum besten zu geben und einen
schnöden Ausfall gegen Mörike daranzuhängen. Th. Munde schlug sich mit
Romanschriftstellern fünften und sechsten Ranges herum und blieb ohne jede
Ahnung, daß weder Wilibald Alexis noch Rehfues in diese Reihe gehörten;
Ludolf Wienbarg legte trotz seiner posierten litterarischen Vornehmheit den
Schauspiel- und Lustspielfabrikanten in der Art Töpfers eine Bedeutung bei,
die sie nicht hatten, und alle Jungdeutschen gebärdeten sich von der Höhe ihres
Hegelschen Weltbewußtseins herab, als wären die Gedichte König Ludwigs von
Bayern, die pommersche oder märkische Lyrikerschule, die Dramatiker des Berliner
Königstädtischen Theaters, die „frei nach dem Französischen" arbeiteten, die
Reste der Trivialrvmautik, die durch „Abendzeitung" und „Mitternachtsblatt"
schwirrten, die einzigen oder doch die hauptsächlichsten poetischen Lebensäuße¬
rungen auf deutschem Boden.

Es nahm sich dem gegenüber noch großartiger aus, wenn auch nicht ein¬
sichtiger, daß die bedeutende Entwicklung Tiecks zur Darstellung der lebendigen
Gegenwart in seiner Novellistik eben auch als Nachhuschen romantischen Spuks
betrachtet wurde. In dem ganzen Jahrzehnt zwischen 1830 und 1840 erscheint
der Blick der deutschen Kritik vorzugsweise auf die jämmerliche, von vornherein
jedes Anspruchs auf poetischen Gehalt und Wert bare Belletristik gebannt.
Zum zweitenmal schlägt sich eine litterarische Sekte oder Schule, die sich auf
ihre geistige Vornehmheit viel zu gute thut, mit dem Troß der ärmlichen Tages¬
produkte herum, wesentlich um im Publikum das Gefühl zu erwecken, wie groß,
wie ungeheuer der Gegensatz des frischen lebensvollen Neuen zum abgestandnen
überlebten Alten sei.

Die Einzelheiten der dritten, der jüugstdeutschen kritische» Litteraturschil¬
derung sind noch in jedermanns Gedächtnis, der überhaupt Teilnahme an der
deutschen Litteratur hat. Die „Waffeugäuge" der Gebrüder Hart, in denen


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[0146] Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur neunter Werke und Schriftsteller, die doch nur die niedern und mittlern Regionen der Litteratur bevölkerten! Vergleicht man damit die Anfänge der jungdeutschen Kritik um 1830, so haben wir ganz dasselbe Schauspiel. In ihren Erstlingskritiken, in den von ihnen herausgegebnen Zeitschriften „Forum der Journallitteratur" und „Aurora" beginnen Gutzkow und Laube von einer Litteratur zu sprechen, deren Vertreter Raupach, Th. Hell und Clauren sind, wenn es hoch kommt, sieht Gutzkow „stagnierende poetische Produktion bei Zedlitz und Schenk," bei denen er mit Recht „das Mächtige, Gewaltige, Große. Herrliche, Freie" vermißte, das er allenfalls, wenn sein Blick offen genug gewesen wäre, bei Grillparzer und Immermann hätte sehen können; Heinrich Heine wußte im „Schwabenspiegel" nur die bekannten Witze über Gustav Schwab, „den Hering im Vergleich mit den andern, die nur Sardellen sind, versteht sich Sardellen ohne Salz," über Justinus Kerner, „der Geister und Blutwürste sieht," und Karl Mayer, der „eine matte Fliege ist und Maikäfer besingt," zum besten zu geben und einen schnöden Ausfall gegen Mörike daranzuhängen. Th. Munde schlug sich mit Romanschriftstellern fünften und sechsten Ranges herum und blieb ohne jede Ahnung, daß weder Wilibald Alexis noch Rehfues in diese Reihe gehörten; Ludolf Wienbarg legte trotz seiner posierten litterarischen Vornehmheit den Schauspiel- und Lustspielfabrikanten in der Art Töpfers eine Bedeutung bei, die sie nicht hatten, und alle Jungdeutschen gebärdeten sich von der Höhe ihres Hegelschen Weltbewußtseins herab, als wären die Gedichte König Ludwigs von Bayern, die pommersche oder märkische Lyrikerschule, die Dramatiker des Berliner Königstädtischen Theaters, die „frei nach dem Französischen" arbeiteten, die Reste der Trivialrvmautik, die durch „Abendzeitung" und „Mitternachtsblatt" schwirrten, die einzigen oder doch die hauptsächlichsten poetischen Lebensäuße¬ rungen auf deutschem Boden. Es nahm sich dem gegenüber noch großartiger aus, wenn auch nicht ein¬ sichtiger, daß die bedeutende Entwicklung Tiecks zur Darstellung der lebendigen Gegenwart in seiner Novellistik eben auch als Nachhuschen romantischen Spuks betrachtet wurde. In dem ganzen Jahrzehnt zwischen 1830 und 1840 erscheint der Blick der deutschen Kritik vorzugsweise auf die jämmerliche, von vornherein jedes Anspruchs auf poetischen Gehalt und Wert bare Belletristik gebannt. Zum zweitenmal schlägt sich eine litterarische Sekte oder Schule, die sich auf ihre geistige Vornehmheit viel zu gute thut, mit dem Troß der ärmlichen Tages¬ produkte herum, wesentlich um im Publikum das Gefühl zu erwecken, wie groß, wie ungeheuer der Gegensatz des frischen lebensvollen Neuen zum abgestandnen überlebten Alten sei. Die Einzelheiten der dritten, der jüugstdeutschen kritische» Litteraturschil¬ derung sind noch in jedermanns Gedächtnis, der überhaupt Teilnahme an der deutschen Litteratur hat. Die „Waffeugäuge" der Gebrüder Hart, in denen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/146>, abgerufen am 28.09.2024.