Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Übelstände bei der Rentenliewilligung

kvnsulenten aber betrachten die Streitfälle in Versichermigsangelegenheiten zu
sehr als wenig einträgliche Nebeneinnahme; und sind sie auch sonst befähigt
und zuverlässig, so haben sie doch auf diesem Gebiete zu wenig Erfahrung.

Wenn man hier einwirft, daß es sich im Vorstehenden um einen durch
lange Arbeitszeit, eintönige Beschäftigung, schlechte Ernährung körperlich und
geistig zuriickgekommuen, geringen Bruchteil der Arbeiterbevölkerung handelt,
daß die Arbeiter in den großen Industriezentren vorgeschrittner und intelli¬
genter sind, so muß dem entgegengehalten werden, daß in den Fabrikstädten
auch die Verhältnisse schwieriger sind, daß sür die Fabrikarbeiter in erster Linie
die verwickelter? Unfallversicherung in Betracht kommt, während die Hausweber
es nur mit der einfach liegenden Jnvaliditäts- und Altersversicherung zu thun
haben. Bei diesen handelt es sich nur darum, ob jemand schon völlig arbeits¬
unfähig ist oder nicht, und ob er die Wartezeit erfüllt hat, Fragen, die sich
in jedem einzelnen Falle verhältnismäßig leicht entscheiden lassen. Bei der
Unfallversicherung kommt es auf den Grad der verblichnen Erwerbsfähigkeit
an, die Renten können in allen Abstufungen von 5 bis 100 Prozent der Rente für
völlige Erwerbsunfähigkeit bewilligt werden. Da ist es nicht immer leicht,
das Richtige zu treffen, da giebt es viel Anlaß zu Streitigkeiten. Und dann
handelt es sich vorerst auch immer noch darum, ob überhaupt ein Betriebs¬
unfall als Ursache sür die Erwerbsunfähigkeit anzusehen ist oder nicht. Ein
Arbeiter kann eine Verletzung erlitten haben, die er anfangs garnicht beachtet,
und die erst später bedenkliche Folgen gezeitigt hat, oder aber ein kleiner un¬
bedeutender Riß an der Hand, den er sich sonst irgendwo zugezogen hat, ist
durch Berührung mit giftigen Stoffen die Ursache zu einer Blutvergiftung
geworden. In einem andern Falle ist er vielleicht schon lange leidend gewesen,
er wird von einem Betriebsunfall betroffen, und gerade jetzt nimmt es mit
der Krankheit eine schlimme Wendung. Oder aber er ist bettlägerig bei sich
zu Hause untergebracht, verläßt im Fieberwahn das Bett, holt sich durch eine
Erkältung den Tod, und dann ist es zweifelhaft, ob die Krankheit an sich die
unmittelbare Ursache des Todes gewesen ist, oder etwa gar die Trunksucht,
der er in einem unbewachten Augenblick wieder gefrönt hat. Der Beweis
für die Berechtigung der Entschädigungsansprüche wird in solchen Fällen
immer nicht leicht zu führen sein, es bedarf umfangreicher Zeugenvernehmungen,
eingehender ärztlicher Untersuchungen, um in die dunkle Angelegenheit all¬
mählich Licht zu bringen. Jemand aber, der den Fall nicht vollständig zu
übersehen vermag, wird sich auch selten über die Bedeutung einer an sich un¬
bedeutenden Einzelheit bewußt sein, die, genügend hervorgehoben, die ganze
Sache vielleicht zu seinen Gunsten gestalten kann. Und ist der Arbeiter nach
langem Warten endlich in den Besitz seiner Reute gelangt, so beginnen die
ärztlichen Untersuchungen von neuem. Die verletzten Glieder schmerzen noch
und sind zur Arbeit noch untauglich, der Arbeitsverdienst hat sich auch seit


Übelstände bei der Rentenliewilligung

kvnsulenten aber betrachten die Streitfälle in Versichermigsangelegenheiten zu
sehr als wenig einträgliche Nebeneinnahme; und sind sie auch sonst befähigt
und zuverlässig, so haben sie doch auf diesem Gebiete zu wenig Erfahrung.

Wenn man hier einwirft, daß es sich im Vorstehenden um einen durch
lange Arbeitszeit, eintönige Beschäftigung, schlechte Ernährung körperlich und
geistig zuriickgekommuen, geringen Bruchteil der Arbeiterbevölkerung handelt,
daß die Arbeiter in den großen Industriezentren vorgeschrittner und intelli¬
genter sind, so muß dem entgegengehalten werden, daß in den Fabrikstädten
auch die Verhältnisse schwieriger sind, daß sür die Fabrikarbeiter in erster Linie
die verwickelter? Unfallversicherung in Betracht kommt, während die Hausweber
es nur mit der einfach liegenden Jnvaliditäts- und Altersversicherung zu thun
haben. Bei diesen handelt es sich nur darum, ob jemand schon völlig arbeits¬
unfähig ist oder nicht, und ob er die Wartezeit erfüllt hat, Fragen, die sich
in jedem einzelnen Falle verhältnismäßig leicht entscheiden lassen. Bei der
Unfallversicherung kommt es auf den Grad der verblichnen Erwerbsfähigkeit
an, die Renten können in allen Abstufungen von 5 bis 100 Prozent der Rente für
völlige Erwerbsunfähigkeit bewilligt werden. Da ist es nicht immer leicht,
das Richtige zu treffen, da giebt es viel Anlaß zu Streitigkeiten. Und dann
handelt es sich vorerst auch immer noch darum, ob überhaupt ein Betriebs¬
unfall als Ursache sür die Erwerbsunfähigkeit anzusehen ist oder nicht. Ein
Arbeiter kann eine Verletzung erlitten haben, die er anfangs garnicht beachtet,
und die erst später bedenkliche Folgen gezeitigt hat, oder aber ein kleiner un¬
bedeutender Riß an der Hand, den er sich sonst irgendwo zugezogen hat, ist
durch Berührung mit giftigen Stoffen die Ursache zu einer Blutvergiftung
geworden. In einem andern Falle ist er vielleicht schon lange leidend gewesen,
er wird von einem Betriebsunfall betroffen, und gerade jetzt nimmt es mit
der Krankheit eine schlimme Wendung. Oder aber er ist bettlägerig bei sich
zu Hause untergebracht, verläßt im Fieberwahn das Bett, holt sich durch eine
Erkältung den Tod, und dann ist es zweifelhaft, ob die Krankheit an sich die
unmittelbare Ursache des Todes gewesen ist, oder etwa gar die Trunksucht,
der er in einem unbewachten Augenblick wieder gefrönt hat. Der Beweis
für die Berechtigung der Entschädigungsansprüche wird in solchen Fällen
immer nicht leicht zu führen sein, es bedarf umfangreicher Zeugenvernehmungen,
eingehender ärztlicher Untersuchungen, um in die dunkle Angelegenheit all¬
mählich Licht zu bringen. Jemand aber, der den Fall nicht vollständig zu
übersehen vermag, wird sich auch selten über die Bedeutung einer an sich un¬
bedeutenden Einzelheit bewußt sein, die, genügend hervorgehoben, die ganze
Sache vielleicht zu seinen Gunsten gestalten kann. Und ist der Arbeiter nach
langem Warten endlich in den Besitz seiner Reute gelangt, so beginnen die
ärztlichen Untersuchungen von neuem. Die verletzten Glieder schmerzen noch
und sind zur Arbeit noch untauglich, der Arbeitsverdienst hat sich auch seit


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0654" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/230340"/>
          <fw type="header" place="top"> Übelstände bei der Rentenliewilligung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2767" prev="#ID_2766"> kvnsulenten aber betrachten die Streitfälle in Versichermigsangelegenheiten zu<lb/>
sehr als wenig einträgliche Nebeneinnahme; und sind sie auch sonst befähigt<lb/>
und zuverlässig, so haben sie doch auf diesem Gebiete zu wenig Erfahrung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2768" next="#ID_2769"> Wenn man hier einwirft, daß es sich im Vorstehenden um einen durch<lb/>
lange Arbeitszeit, eintönige Beschäftigung, schlechte Ernährung körperlich und<lb/>
geistig zuriickgekommuen, geringen Bruchteil der Arbeiterbevölkerung handelt,<lb/>
daß die Arbeiter in den großen Industriezentren vorgeschrittner und intelli¬<lb/>
genter sind, so muß dem entgegengehalten werden, daß in den Fabrikstädten<lb/>
auch die Verhältnisse schwieriger sind, daß sür die Fabrikarbeiter in erster Linie<lb/>
die verwickelter? Unfallversicherung in Betracht kommt, während die Hausweber<lb/>
es nur mit der einfach liegenden Jnvaliditäts- und Altersversicherung zu thun<lb/>
haben. Bei diesen handelt es sich nur darum, ob jemand schon völlig arbeits¬<lb/>
unfähig ist oder nicht, und ob er die Wartezeit erfüllt hat, Fragen, die sich<lb/>
in jedem einzelnen Falle verhältnismäßig leicht entscheiden lassen. Bei der<lb/>
Unfallversicherung kommt es auf den Grad der verblichnen Erwerbsfähigkeit<lb/>
an, die Renten können in allen Abstufungen von 5 bis 100 Prozent der Rente für<lb/>
völlige Erwerbsunfähigkeit bewilligt werden. Da ist es nicht immer leicht,<lb/>
das Richtige zu treffen, da giebt es viel Anlaß zu Streitigkeiten. Und dann<lb/>
handelt es sich vorerst auch immer noch darum, ob überhaupt ein Betriebs¬<lb/>
unfall als Ursache sür die Erwerbsunfähigkeit anzusehen ist oder nicht. Ein<lb/>
Arbeiter kann eine Verletzung erlitten haben, die er anfangs garnicht beachtet,<lb/>
und die erst später bedenkliche Folgen gezeitigt hat, oder aber ein kleiner un¬<lb/>
bedeutender Riß an der Hand, den er sich sonst irgendwo zugezogen hat, ist<lb/>
durch Berührung mit giftigen Stoffen die Ursache zu einer Blutvergiftung<lb/>
geworden. In einem andern Falle ist er vielleicht schon lange leidend gewesen,<lb/>
er wird von einem Betriebsunfall betroffen, und gerade jetzt nimmt es mit<lb/>
der Krankheit eine schlimme Wendung. Oder aber er ist bettlägerig bei sich<lb/>
zu Hause untergebracht, verläßt im Fieberwahn das Bett, holt sich durch eine<lb/>
Erkältung den Tod, und dann ist es zweifelhaft, ob die Krankheit an sich die<lb/>
unmittelbare Ursache des Todes gewesen ist, oder etwa gar die Trunksucht,<lb/>
der er in einem unbewachten Augenblick wieder gefrönt hat. Der Beweis<lb/>
für die Berechtigung der Entschädigungsansprüche wird in solchen Fällen<lb/>
immer nicht leicht zu führen sein, es bedarf umfangreicher Zeugenvernehmungen,<lb/>
eingehender ärztlicher Untersuchungen, um in die dunkle Angelegenheit all¬<lb/>
mählich Licht zu bringen. Jemand aber, der den Fall nicht vollständig zu<lb/>
übersehen vermag, wird sich auch selten über die Bedeutung einer an sich un¬<lb/>
bedeutenden Einzelheit bewußt sein, die, genügend hervorgehoben, die ganze<lb/>
Sache vielleicht zu seinen Gunsten gestalten kann. Und ist der Arbeiter nach<lb/>
langem Warten endlich in den Besitz seiner Reute gelangt, so beginnen die<lb/>
ärztlichen Untersuchungen von neuem. Die verletzten Glieder schmerzen noch<lb/>
und sind zur Arbeit noch untauglich, der Arbeitsverdienst hat sich auch seit</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0654] Übelstände bei der Rentenliewilligung kvnsulenten aber betrachten die Streitfälle in Versichermigsangelegenheiten zu sehr als wenig einträgliche Nebeneinnahme; und sind sie auch sonst befähigt und zuverlässig, so haben sie doch auf diesem Gebiete zu wenig Erfahrung. Wenn man hier einwirft, daß es sich im Vorstehenden um einen durch lange Arbeitszeit, eintönige Beschäftigung, schlechte Ernährung körperlich und geistig zuriickgekommuen, geringen Bruchteil der Arbeiterbevölkerung handelt, daß die Arbeiter in den großen Industriezentren vorgeschrittner und intelli¬ genter sind, so muß dem entgegengehalten werden, daß in den Fabrikstädten auch die Verhältnisse schwieriger sind, daß sür die Fabrikarbeiter in erster Linie die verwickelter? Unfallversicherung in Betracht kommt, während die Hausweber es nur mit der einfach liegenden Jnvaliditäts- und Altersversicherung zu thun haben. Bei diesen handelt es sich nur darum, ob jemand schon völlig arbeits¬ unfähig ist oder nicht, und ob er die Wartezeit erfüllt hat, Fragen, die sich in jedem einzelnen Falle verhältnismäßig leicht entscheiden lassen. Bei der Unfallversicherung kommt es auf den Grad der verblichnen Erwerbsfähigkeit an, die Renten können in allen Abstufungen von 5 bis 100 Prozent der Rente für völlige Erwerbsunfähigkeit bewilligt werden. Da ist es nicht immer leicht, das Richtige zu treffen, da giebt es viel Anlaß zu Streitigkeiten. Und dann handelt es sich vorerst auch immer noch darum, ob überhaupt ein Betriebs¬ unfall als Ursache sür die Erwerbsunfähigkeit anzusehen ist oder nicht. Ein Arbeiter kann eine Verletzung erlitten haben, die er anfangs garnicht beachtet, und die erst später bedenkliche Folgen gezeitigt hat, oder aber ein kleiner un¬ bedeutender Riß an der Hand, den er sich sonst irgendwo zugezogen hat, ist durch Berührung mit giftigen Stoffen die Ursache zu einer Blutvergiftung geworden. In einem andern Falle ist er vielleicht schon lange leidend gewesen, er wird von einem Betriebsunfall betroffen, und gerade jetzt nimmt es mit der Krankheit eine schlimme Wendung. Oder aber er ist bettlägerig bei sich zu Hause untergebracht, verläßt im Fieberwahn das Bett, holt sich durch eine Erkältung den Tod, und dann ist es zweifelhaft, ob die Krankheit an sich die unmittelbare Ursache des Todes gewesen ist, oder etwa gar die Trunksucht, der er in einem unbewachten Augenblick wieder gefrönt hat. Der Beweis für die Berechtigung der Entschädigungsansprüche wird in solchen Fällen immer nicht leicht zu führen sein, es bedarf umfangreicher Zeugenvernehmungen, eingehender ärztlicher Untersuchungen, um in die dunkle Angelegenheit all¬ mählich Licht zu bringen. Jemand aber, der den Fall nicht vollständig zu übersehen vermag, wird sich auch selten über die Bedeutung einer an sich un¬ bedeutenden Einzelheit bewußt sein, die, genügend hervorgehoben, die ganze Sache vielleicht zu seinen Gunsten gestalten kann. Und ist der Arbeiter nach langem Warten endlich in den Besitz seiner Reute gelangt, so beginnen die ärztlichen Untersuchungen von neuem. Die verletzten Glieder schmerzen noch und sind zur Arbeit noch untauglich, der Arbeitsverdienst hat sich auch seit

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/654
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/654>, abgerufen am 23.07.2024.