Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Übelstände bei der Reutenbewilligung

so ist doch die Lage des einzelnen Arbeiters, sobald sich nur Zweifel über die
Berechtigung seiner Entschädigungsansprüche ergeben, gegenüber den Berufs¬
genossenschaften und Versicherungsanstalten genau dieselbe geblieben, wie unter
dem Haftpflichtgesetz gegenüber den privaten Versicherungsgesellschaften. Der
Arbeiter hat nicht die Bildung, um seine Rechte mit Nachdruck selbst verteidigen
zu können, und nicht die Geldmittel, um sich durch tüchtige, bezahlte Anwälte
vertreten zu lassen, und so gehen ihm ohne sonstige Unterstützung sehr häufig
seine berechtigten Ansprüche verloren.

Will man sich davon überzeugen, wie der geringe Bildungsgrad es den
Rentenanwärtern oft ganz unmöglich macht, ohne fremde Hilfe ihre Ansprüche
durchzufechten, so braucht man nur die Handweberbezirke in den schlesischen
Gebirgen aufzusuchen. Die Leute können vielfach gar nicht schreiben, höchstens
zur Not ihren Namen. Es ist ihnen gesagt, daß sie als Weber, als
Spuler, als Tagearbeiter ihre Reute bekommen können, sie wissen aber nicht,
daß sie eine Wartezeit zu erfüllen haben, daß sie eine gewisse Beschäftigungs¬
zeit nachweisen müssen. Sie besorgen sich von einem beliebigen Arbeitgeber,
bei dem sie vielleicht sechs Monate hindurch beschäftigt gewesen sind, eine
Arbeitsbescheinigung und wundern sich hernach darüber, daß sie mit ihren
Rentenansprücheu abgewiesen werden, während sie eben noch weitere Arbeits¬
bescheinigungen beibringen mußten und sie auch unter Umständen ganz leicht
erhalten hätten. Unter Umständen freilich; nicht immer. Oft haben die Arbeit¬
geber keine Versicherungsmarken geklebt und keine Bücher geführt, sie sind wo¬
möglich verzogen oder gar gestorben, und der Nentenanwärter, der krank da¬
niederliegt, ist nicht in der Lage, die betreffenden Meister oder ihre Familien
aufzusuchen und mit ihnen persönlich zu verhandeln, er kann sich im Augen¬
blick auch wohl nicht darauf besinnen, wo und wie lange er überall beschäftigt
gewesen ist. Nun kommt der Bescheid mit der Abweisung von der Versiche¬
rungsanstalt, und ist der Weber imstande sie zu lesen, so geht ihm doch das
tiefere Verständnis dafür ab, er ist sich nicht recht klar über die entscheidenden
Punkte und deshalb anch nicht befähigt dazu, die fehlenden Unterlagen zu er¬
gänzen, etwaige Widersprüche an den bisherigen Ermittlungen zu beseitigen,
wichtige Momente, die zu seinen Gunsten sprechen, besonders hervorzuheben.
Überall sind in Nentensachen die weniger intelligenten Arbeiterklassen auf fremde
Hilfe angewiesen, und wo finden sie die? Die kleinen Arbeitgeber, die keine
Bücher führen und das Kleben der Versicherungsmarken unterlassen, sind mit
den gesetzlichen Bestimmungen zu wenig vertraut, um deu Arbeitern wirklich
Rat und Hilfe angedeihen lassen zu können. Die mit Arbeit überlasteten
Polizeiverwaltungen in den größern Städten müssen sich auf die allernot-
wendigste mündliche Auskunft beschränken, mit den Gemeindevertretern auf dem
Platten Laude ist es oft nicht besser bestellt als mit den kleinen Arbeitgebern.
Die Rechtsanwälte sind für die Arbeiterbevölkerung zu teuer, die Winkel-


Übelstände bei der Reutenbewilligung

so ist doch die Lage des einzelnen Arbeiters, sobald sich nur Zweifel über die
Berechtigung seiner Entschädigungsansprüche ergeben, gegenüber den Berufs¬
genossenschaften und Versicherungsanstalten genau dieselbe geblieben, wie unter
dem Haftpflichtgesetz gegenüber den privaten Versicherungsgesellschaften. Der
Arbeiter hat nicht die Bildung, um seine Rechte mit Nachdruck selbst verteidigen
zu können, und nicht die Geldmittel, um sich durch tüchtige, bezahlte Anwälte
vertreten zu lassen, und so gehen ihm ohne sonstige Unterstützung sehr häufig
seine berechtigten Ansprüche verloren.

Will man sich davon überzeugen, wie der geringe Bildungsgrad es den
Rentenanwärtern oft ganz unmöglich macht, ohne fremde Hilfe ihre Ansprüche
durchzufechten, so braucht man nur die Handweberbezirke in den schlesischen
Gebirgen aufzusuchen. Die Leute können vielfach gar nicht schreiben, höchstens
zur Not ihren Namen. Es ist ihnen gesagt, daß sie als Weber, als
Spuler, als Tagearbeiter ihre Reute bekommen können, sie wissen aber nicht,
daß sie eine Wartezeit zu erfüllen haben, daß sie eine gewisse Beschäftigungs¬
zeit nachweisen müssen. Sie besorgen sich von einem beliebigen Arbeitgeber,
bei dem sie vielleicht sechs Monate hindurch beschäftigt gewesen sind, eine
Arbeitsbescheinigung und wundern sich hernach darüber, daß sie mit ihren
Rentenansprücheu abgewiesen werden, während sie eben noch weitere Arbeits¬
bescheinigungen beibringen mußten und sie auch unter Umständen ganz leicht
erhalten hätten. Unter Umständen freilich; nicht immer. Oft haben die Arbeit¬
geber keine Versicherungsmarken geklebt und keine Bücher geführt, sie sind wo¬
möglich verzogen oder gar gestorben, und der Nentenanwärter, der krank da¬
niederliegt, ist nicht in der Lage, die betreffenden Meister oder ihre Familien
aufzusuchen und mit ihnen persönlich zu verhandeln, er kann sich im Augen¬
blick auch wohl nicht darauf besinnen, wo und wie lange er überall beschäftigt
gewesen ist. Nun kommt der Bescheid mit der Abweisung von der Versiche¬
rungsanstalt, und ist der Weber imstande sie zu lesen, so geht ihm doch das
tiefere Verständnis dafür ab, er ist sich nicht recht klar über die entscheidenden
Punkte und deshalb anch nicht befähigt dazu, die fehlenden Unterlagen zu er¬
gänzen, etwaige Widersprüche an den bisherigen Ermittlungen zu beseitigen,
wichtige Momente, die zu seinen Gunsten sprechen, besonders hervorzuheben.
Überall sind in Nentensachen die weniger intelligenten Arbeiterklassen auf fremde
Hilfe angewiesen, und wo finden sie die? Die kleinen Arbeitgeber, die keine
Bücher führen und das Kleben der Versicherungsmarken unterlassen, sind mit
den gesetzlichen Bestimmungen zu wenig vertraut, um deu Arbeitern wirklich
Rat und Hilfe angedeihen lassen zu können. Die mit Arbeit überlasteten
Polizeiverwaltungen in den größern Städten müssen sich auf die allernot-
wendigste mündliche Auskunft beschränken, mit den Gemeindevertretern auf dem
Platten Laude ist es oft nicht besser bestellt als mit den kleinen Arbeitgebern.
Die Rechtsanwälte sind für die Arbeiterbevölkerung zu teuer, die Winkel-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0653" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/230339"/>
          <fw type="header" place="top"> Übelstände bei der Reutenbewilligung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2765" prev="#ID_2764"> so ist doch die Lage des einzelnen Arbeiters, sobald sich nur Zweifel über die<lb/>
Berechtigung seiner Entschädigungsansprüche ergeben, gegenüber den Berufs¬<lb/>
genossenschaften und Versicherungsanstalten genau dieselbe geblieben, wie unter<lb/>
dem Haftpflichtgesetz gegenüber den privaten Versicherungsgesellschaften. Der<lb/>
Arbeiter hat nicht die Bildung, um seine Rechte mit Nachdruck selbst verteidigen<lb/>
zu können, und nicht die Geldmittel, um sich durch tüchtige, bezahlte Anwälte<lb/>
vertreten zu lassen, und so gehen ihm ohne sonstige Unterstützung sehr häufig<lb/>
seine berechtigten Ansprüche verloren.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2766" next="#ID_2767"> Will man sich davon überzeugen, wie der geringe Bildungsgrad es den<lb/>
Rentenanwärtern oft ganz unmöglich macht, ohne fremde Hilfe ihre Ansprüche<lb/>
durchzufechten, so braucht man nur die Handweberbezirke in den schlesischen<lb/>
Gebirgen aufzusuchen. Die Leute können vielfach gar nicht schreiben, höchstens<lb/>
zur Not ihren Namen. Es ist ihnen gesagt, daß sie als Weber, als<lb/>
Spuler, als Tagearbeiter ihre Reute bekommen können, sie wissen aber nicht,<lb/>
daß sie eine Wartezeit zu erfüllen haben, daß sie eine gewisse Beschäftigungs¬<lb/>
zeit nachweisen müssen. Sie besorgen sich von einem beliebigen Arbeitgeber,<lb/>
bei dem sie vielleicht sechs Monate hindurch beschäftigt gewesen sind, eine<lb/>
Arbeitsbescheinigung und wundern sich hernach darüber, daß sie mit ihren<lb/>
Rentenansprücheu abgewiesen werden, während sie eben noch weitere Arbeits¬<lb/>
bescheinigungen beibringen mußten und sie auch unter Umständen ganz leicht<lb/>
erhalten hätten. Unter Umständen freilich; nicht immer. Oft haben die Arbeit¬<lb/>
geber keine Versicherungsmarken geklebt und keine Bücher geführt, sie sind wo¬<lb/>
möglich verzogen oder gar gestorben, und der Nentenanwärter, der krank da¬<lb/>
niederliegt, ist nicht in der Lage, die betreffenden Meister oder ihre Familien<lb/>
aufzusuchen und mit ihnen persönlich zu verhandeln, er kann sich im Augen¬<lb/>
blick auch wohl nicht darauf besinnen, wo und wie lange er überall beschäftigt<lb/>
gewesen ist. Nun kommt der Bescheid mit der Abweisung von der Versiche¬<lb/>
rungsanstalt, und ist der Weber imstande sie zu lesen, so geht ihm doch das<lb/>
tiefere Verständnis dafür ab, er ist sich nicht recht klar über die entscheidenden<lb/>
Punkte und deshalb anch nicht befähigt dazu, die fehlenden Unterlagen zu er¬<lb/>
gänzen, etwaige Widersprüche an den bisherigen Ermittlungen zu beseitigen,<lb/>
wichtige Momente, die zu seinen Gunsten sprechen, besonders hervorzuheben.<lb/>
Überall sind in Nentensachen die weniger intelligenten Arbeiterklassen auf fremde<lb/>
Hilfe angewiesen, und wo finden sie die? Die kleinen Arbeitgeber, die keine<lb/>
Bücher führen und das Kleben der Versicherungsmarken unterlassen, sind mit<lb/>
den gesetzlichen Bestimmungen zu wenig vertraut, um deu Arbeitern wirklich<lb/>
Rat und Hilfe angedeihen lassen zu können. Die mit Arbeit überlasteten<lb/>
Polizeiverwaltungen in den größern Städten müssen sich auf die allernot-<lb/>
wendigste mündliche Auskunft beschränken, mit den Gemeindevertretern auf dem<lb/>
Platten Laude ist es oft nicht besser bestellt als mit den kleinen Arbeitgebern.<lb/>
Die Rechtsanwälte sind für die Arbeiterbevölkerung zu teuer, die Winkel-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0653] Übelstände bei der Reutenbewilligung so ist doch die Lage des einzelnen Arbeiters, sobald sich nur Zweifel über die Berechtigung seiner Entschädigungsansprüche ergeben, gegenüber den Berufs¬ genossenschaften und Versicherungsanstalten genau dieselbe geblieben, wie unter dem Haftpflichtgesetz gegenüber den privaten Versicherungsgesellschaften. Der Arbeiter hat nicht die Bildung, um seine Rechte mit Nachdruck selbst verteidigen zu können, und nicht die Geldmittel, um sich durch tüchtige, bezahlte Anwälte vertreten zu lassen, und so gehen ihm ohne sonstige Unterstützung sehr häufig seine berechtigten Ansprüche verloren. Will man sich davon überzeugen, wie der geringe Bildungsgrad es den Rentenanwärtern oft ganz unmöglich macht, ohne fremde Hilfe ihre Ansprüche durchzufechten, so braucht man nur die Handweberbezirke in den schlesischen Gebirgen aufzusuchen. Die Leute können vielfach gar nicht schreiben, höchstens zur Not ihren Namen. Es ist ihnen gesagt, daß sie als Weber, als Spuler, als Tagearbeiter ihre Reute bekommen können, sie wissen aber nicht, daß sie eine Wartezeit zu erfüllen haben, daß sie eine gewisse Beschäftigungs¬ zeit nachweisen müssen. Sie besorgen sich von einem beliebigen Arbeitgeber, bei dem sie vielleicht sechs Monate hindurch beschäftigt gewesen sind, eine Arbeitsbescheinigung und wundern sich hernach darüber, daß sie mit ihren Rentenansprücheu abgewiesen werden, während sie eben noch weitere Arbeits¬ bescheinigungen beibringen mußten und sie auch unter Umständen ganz leicht erhalten hätten. Unter Umständen freilich; nicht immer. Oft haben die Arbeit¬ geber keine Versicherungsmarken geklebt und keine Bücher geführt, sie sind wo¬ möglich verzogen oder gar gestorben, und der Nentenanwärter, der krank da¬ niederliegt, ist nicht in der Lage, die betreffenden Meister oder ihre Familien aufzusuchen und mit ihnen persönlich zu verhandeln, er kann sich im Augen¬ blick auch wohl nicht darauf besinnen, wo und wie lange er überall beschäftigt gewesen ist. Nun kommt der Bescheid mit der Abweisung von der Versiche¬ rungsanstalt, und ist der Weber imstande sie zu lesen, so geht ihm doch das tiefere Verständnis dafür ab, er ist sich nicht recht klar über die entscheidenden Punkte und deshalb anch nicht befähigt dazu, die fehlenden Unterlagen zu er¬ gänzen, etwaige Widersprüche an den bisherigen Ermittlungen zu beseitigen, wichtige Momente, die zu seinen Gunsten sprechen, besonders hervorzuheben. Überall sind in Nentensachen die weniger intelligenten Arbeiterklassen auf fremde Hilfe angewiesen, und wo finden sie die? Die kleinen Arbeitgeber, die keine Bücher führen und das Kleben der Versicherungsmarken unterlassen, sind mit den gesetzlichen Bestimmungen zu wenig vertraut, um deu Arbeitern wirklich Rat und Hilfe angedeihen lassen zu können. Die mit Arbeit überlasteten Polizeiverwaltungen in den größern Städten müssen sich auf die allernot- wendigste mündliche Auskunft beschränken, mit den Gemeindevertretern auf dem Platten Laude ist es oft nicht besser bestellt als mit den kleinen Arbeitgebern. Die Rechtsanwälte sind für die Arbeiterbevölkerung zu teuer, die Winkel-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/653
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/653>, abgerufen am 23.07.2024.