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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Nation und Staat

rischcn Form, die dem Rheinländer und Südländer höchst unangenehm war.
nordisches Temperament und soldatische Disziplin waren und sind vielleicht
noch heute Dinge, die einen tüchtigen, aber nicht immer einen angenehmen
Soldaten und Beamten machen, besonders für Leute, die von jeher gelegentlich
an Willkür, aber immer an bequemes Gehenlassen und gemütliche Nachsicht
gewöhnt waren. Noch heute spürt man dieses vielleicht zu wenig beachtete,
aber vielbedeutende Verhältnis, daß der Preuße, auf seine Tüchtigkeit pochend,
oft den Süddeutschen verletzt, der ihm seine Schärfe doppelt anrechnet, weil
er seine Tüchtigkeit nicht angreifen kann. Die stahlharte preußische Beamten¬
disziplin ist nicht dazu gemacht, anderwärts und am wenigsten in den alten
deutschen Kernlanden "moralische Eroberungen" zu machen, wie man es in
der vorbismarckischen Zeit nannte.

So hat der nationale Gedanke in den staatlichen Bewegungen seit 1813
nirgends in Deutschland eine wesentliche Rolle gespielt. Und als er 1840 und
dann stärker 1848 hervortrat, da wurde er sowohl von Preußen wie von
Österreich aus staatlichem Interesse bekämpft und niedergeworfen. Preußen
fehlte der Ehrgeiz, fehlte der Mut und vielleicht auch die Kraft, an der Spitze
stehend die Nation staatlich zu organisieren; für Osterreich war der nationale,
der deutsche Einheitsgedanke damals wie später ein feindlicher Gedanke: das
nationale Prinzip treibt und trieb Osterreich aus einander. Denn Österreich
war und ist vor allem das Osterreich der Habsburgischen Hausmacht, das
Österreich nach 1866. Wenn Erzherzog Johann nach Frankfurt ging und
Reichsverweser wurde, so hieß das nicht, daß Österreich ein einiges Deutsch¬
land wollte, sondern genan das Gegenteil davon.

Nicht im praktischen Staatsleben, wohl aber in der idealen Atmosphäre
von Wissenschaft und Kunst erhielt und kräftigte sich nach 1813 der nationale
Gedanke. Von Fichte und .Körner und Arndt her wurde er in diesen Kreisen
gepflegt; seit etwa 1840 wußte und sah man wenigstens in der Litteratur und
im Buchhandel, daß die Deutschen eine abgeschlossene Nation seien. Noch ehe
durch die Freiheitskriege das Bewußtsein der nationalen Einheit in die Litte¬
ratur drang, hatten unsre großen Dichter und Denker durch den Wert ihrer
Werke selbst die Emanzipation von dem bis dahin herrschenden fremden, be¬
sonders französischen Geiste wenn nicht vollendet, so begründet. Wer heute
von Vater oder Großvater eine ob große ob kleine Bücherei geerbt hat, findet
darin vorwiegend französische, zu geriiigem Teil deutsche Bücher etwa bis aus
dem ersten Viertel unsers Jahrhunderts. Die gebildeten Schichten lasen meist
französische Werke, schrieben und sprachen viel französisch, die Bildung holte
man sich aus der Fremde. In diesen Schichten konnte sich wohl nationales
Empfinden wie beim niedern Volke erhalten, nicht aber das stolze Selbstgenttgen
erwachsen, das ein großes und einiges Volk charakterisiert.

Das nationale Bewußtsein war durch Jahrzehnte hauptsächlich bei Sängern


Nation und Staat

rischcn Form, die dem Rheinländer und Südländer höchst unangenehm war.
nordisches Temperament und soldatische Disziplin waren und sind vielleicht
noch heute Dinge, die einen tüchtigen, aber nicht immer einen angenehmen
Soldaten und Beamten machen, besonders für Leute, die von jeher gelegentlich
an Willkür, aber immer an bequemes Gehenlassen und gemütliche Nachsicht
gewöhnt waren. Noch heute spürt man dieses vielleicht zu wenig beachtete,
aber vielbedeutende Verhältnis, daß der Preuße, auf seine Tüchtigkeit pochend,
oft den Süddeutschen verletzt, der ihm seine Schärfe doppelt anrechnet, weil
er seine Tüchtigkeit nicht angreifen kann. Die stahlharte preußische Beamten¬
disziplin ist nicht dazu gemacht, anderwärts und am wenigsten in den alten
deutschen Kernlanden „moralische Eroberungen" zu machen, wie man es in
der vorbismarckischen Zeit nannte.

So hat der nationale Gedanke in den staatlichen Bewegungen seit 1813
nirgends in Deutschland eine wesentliche Rolle gespielt. Und als er 1840 und
dann stärker 1848 hervortrat, da wurde er sowohl von Preußen wie von
Österreich aus staatlichem Interesse bekämpft und niedergeworfen. Preußen
fehlte der Ehrgeiz, fehlte der Mut und vielleicht auch die Kraft, an der Spitze
stehend die Nation staatlich zu organisieren; für Osterreich war der nationale,
der deutsche Einheitsgedanke damals wie später ein feindlicher Gedanke: das
nationale Prinzip treibt und trieb Osterreich aus einander. Denn Österreich
war und ist vor allem das Osterreich der Habsburgischen Hausmacht, das
Österreich nach 1866. Wenn Erzherzog Johann nach Frankfurt ging und
Reichsverweser wurde, so hieß das nicht, daß Österreich ein einiges Deutsch¬
land wollte, sondern genan das Gegenteil davon.

Nicht im praktischen Staatsleben, wohl aber in der idealen Atmosphäre
von Wissenschaft und Kunst erhielt und kräftigte sich nach 1813 der nationale
Gedanke. Von Fichte und .Körner und Arndt her wurde er in diesen Kreisen
gepflegt; seit etwa 1840 wußte und sah man wenigstens in der Litteratur und
im Buchhandel, daß die Deutschen eine abgeschlossene Nation seien. Noch ehe
durch die Freiheitskriege das Bewußtsein der nationalen Einheit in die Litte¬
ratur drang, hatten unsre großen Dichter und Denker durch den Wert ihrer
Werke selbst die Emanzipation von dem bis dahin herrschenden fremden, be¬
sonders französischen Geiste wenn nicht vollendet, so begründet. Wer heute
von Vater oder Großvater eine ob große ob kleine Bücherei geerbt hat, findet
darin vorwiegend französische, zu geriiigem Teil deutsche Bücher etwa bis aus
dem ersten Viertel unsers Jahrhunderts. Die gebildeten Schichten lasen meist
französische Werke, schrieben und sprachen viel französisch, die Bildung holte
man sich aus der Fremde. In diesen Schichten konnte sich wohl nationales
Empfinden wie beim niedern Volke erhalten, nicht aber das stolze Selbstgenttgen
erwachsen, das ein großes und einiges Volk charakterisiert.

Das nationale Bewußtsein war durch Jahrzehnte hauptsächlich bei Sängern


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[0650] Nation und Staat rischcn Form, die dem Rheinländer und Südländer höchst unangenehm war. nordisches Temperament und soldatische Disziplin waren und sind vielleicht noch heute Dinge, die einen tüchtigen, aber nicht immer einen angenehmen Soldaten und Beamten machen, besonders für Leute, die von jeher gelegentlich an Willkür, aber immer an bequemes Gehenlassen und gemütliche Nachsicht gewöhnt waren. Noch heute spürt man dieses vielleicht zu wenig beachtete, aber vielbedeutende Verhältnis, daß der Preuße, auf seine Tüchtigkeit pochend, oft den Süddeutschen verletzt, der ihm seine Schärfe doppelt anrechnet, weil er seine Tüchtigkeit nicht angreifen kann. Die stahlharte preußische Beamten¬ disziplin ist nicht dazu gemacht, anderwärts und am wenigsten in den alten deutschen Kernlanden „moralische Eroberungen" zu machen, wie man es in der vorbismarckischen Zeit nannte. So hat der nationale Gedanke in den staatlichen Bewegungen seit 1813 nirgends in Deutschland eine wesentliche Rolle gespielt. Und als er 1840 und dann stärker 1848 hervortrat, da wurde er sowohl von Preußen wie von Österreich aus staatlichem Interesse bekämpft und niedergeworfen. Preußen fehlte der Ehrgeiz, fehlte der Mut und vielleicht auch die Kraft, an der Spitze stehend die Nation staatlich zu organisieren; für Osterreich war der nationale, der deutsche Einheitsgedanke damals wie später ein feindlicher Gedanke: das nationale Prinzip treibt und trieb Osterreich aus einander. Denn Österreich war und ist vor allem das Osterreich der Habsburgischen Hausmacht, das Österreich nach 1866. Wenn Erzherzog Johann nach Frankfurt ging und Reichsverweser wurde, so hieß das nicht, daß Österreich ein einiges Deutsch¬ land wollte, sondern genan das Gegenteil davon. Nicht im praktischen Staatsleben, wohl aber in der idealen Atmosphäre von Wissenschaft und Kunst erhielt und kräftigte sich nach 1813 der nationale Gedanke. Von Fichte und .Körner und Arndt her wurde er in diesen Kreisen gepflegt; seit etwa 1840 wußte und sah man wenigstens in der Litteratur und im Buchhandel, daß die Deutschen eine abgeschlossene Nation seien. Noch ehe durch die Freiheitskriege das Bewußtsein der nationalen Einheit in die Litte¬ ratur drang, hatten unsre großen Dichter und Denker durch den Wert ihrer Werke selbst die Emanzipation von dem bis dahin herrschenden fremden, be¬ sonders französischen Geiste wenn nicht vollendet, so begründet. Wer heute von Vater oder Großvater eine ob große ob kleine Bücherei geerbt hat, findet darin vorwiegend französische, zu geriiigem Teil deutsche Bücher etwa bis aus dem ersten Viertel unsers Jahrhunderts. Die gebildeten Schichten lasen meist französische Werke, schrieben und sprachen viel französisch, die Bildung holte man sich aus der Fremde. In diesen Schichten konnte sich wohl nationales Empfinden wie beim niedern Volke erhalten, nicht aber das stolze Selbstgenttgen erwachsen, das ein großes und einiges Volk charakterisiert. Das nationale Bewußtsein war durch Jahrzehnte hauptsächlich bei Sängern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/650>, abgerufen am 23.07.2024.