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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Nation und Staat

und Dichtern heimisch. Endlich fand sich der Mann, der die realen Verhält¬
nisse real zu behandeln verstand. staatlich und preußisch durch und durch
erhob sich Bismarck zu nationaler Große. Mit den staatlichen Mitteln der
Gewalt zwang er das Staatentum des alten Reichs in neue, nationale, ein¬
heitliche Formen. Keiner unsrer großen Kontinentalmächte ist dieser Bruder¬
krieg erspart geblieben; alle haben sie auf dem Wege von Blut und Eisen ihre
Größe, ihre nationale Einheit errangen, mit einer Ausnahme: Osterreich, das
jetzt den verzweifelten Versuch macht, die nationale Grundlage zu finden, die
es für Deutschland nicht zu finden verstand. Welche geschichtliche Tragik liegt
in diesem Ringen Österreichs um das nationale Prinzip, das es jahrhunderte¬
lang immer von sich gewiesen, mißachtet, endlich bekämpft hat! Wie tief und
weit liegen die Anfänge der Schäden, an denen es heute krankt! Das Welt¬
reich Karls V., durch Heiraten geschaffen, durch Jesuiten geleitet und ver¬
dorben! Sind nicht diese wilden nationalen Kämpfe in Böhmen wie eine
Rache für den Mord von Eger und die Missethaten pfäffischer Herrschsucht?
Hat Österreich nicht bis zuletzt die nationale Kraft, nach der es jetzt auf sla¬
wischen Boden grübe, in Deutschland verleugnet?

In Wien wie an den meisten deutschen Fürstenhöfen war man noch 1866
so wenig von der Bedeutung des nationalen Gedankens überzeugt, wie zur
Zeit Metternichs. Man rief in Bayern um französische Hilfe; ein kleinstaat¬
licher Minister erniedrigte sich soweit, daß er dein russischen Zaren vorspiegelte,
die livländischen Provinzen seien nicht vor Bismarck sicher, und ihre Treue sei
verdächtig. Um in Rußland gegen Bismarck Mißtrauen zu erregen, wurden
die Deutschen verdächtigt und ins Verderben gestürzt. Im Volk war man so
wenig auf die nationale Einigung vorbereitet, daß Bismarck zu dem gewagten
Mittel der Verheißung des allgemeinen Stimmrechts greifen mußte, um die
Massen fortzureißen. Wenn wir uns alles dessen heute erinnern, so bemerken
wir die bedeutende Strecke, die wir seit jener Zeit ans dem Wege innerer natio¬
naler Einigung zurückgelegt haben. Wir brauchen nicht zu fürchten, daß na¬
tionale Einheit dem deutschen Volkscharakter widerspricht, daß wir von Natur
verdammt seien, partikularistisch und uneinig zu sein bis zur Gefährdung der
äußern Einheit. Dreißig Jahre einer ruhmvollen, gebietenden Stellung Deutsch¬
lands im europäischen Staatensystem haben in den führenden Volksschichten
das nationale Bewußtsein gestärkt und auch in die breiten untern Volksschichten
dringen lassen. Aber lange noch wird der Vorsprung nicht eingeholt werden,
den Völker, die seit Jahrhunderten in großen staatlichen Verhältnissen national
zusammenwachsen und leben konnten, vor uns voraus haben. Die Geschlossen¬
heit, zu der Rußland im sechzehnten Jahrhundert gelangte, die in Frankreich
Ludwig XI. zu erzwinge" begann und Richelieu vollendete, die in beiden
Reichen mit Blut und Eisen, nicht gegen Fremde, sondern gegen die Landes¬
genossen geschaffen wurde, ist in Deutschland nicht dnrch einen siegreichen


Nation und Staat

und Dichtern heimisch. Endlich fand sich der Mann, der die realen Verhält¬
nisse real zu behandeln verstand. staatlich und preußisch durch und durch
erhob sich Bismarck zu nationaler Große. Mit den staatlichen Mitteln der
Gewalt zwang er das Staatentum des alten Reichs in neue, nationale, ein¬
heitliche Formen. Keiner unsrer großen Kontinentalmächte ist dieser Bruder¬
krieg erspart geblieben; alle haben sie auf dem Wege von Blut und Eisen ihre
Größe, ihre nationale Einheit errangen, mit einer Ausnahme: Osterreich, das
jetzt den verzweifelten Versuch macht, die nationale Grundlage zu finden, die
es für Deutschland nicht zu finden verstand. Welche geschichtliche Tragik liegt
in diesem Ringen Österreichs um das nationale Prinzip, das es jahrhunderte¬
lang immer von sich gewiesen, mißachtet, endlich bekämpft hat! Wie tief und
weit liegen die Anfänge der Schäden, an denen es heute krankt! Das Welt¬
reich Karls V., durch Heiraten geschaffen, durch Jesuiten geleitet und ver¬
dorben! Sind nicht diese wilden nationalen Kämpfe in Böhmen wie eine
Rache für den Mord von Eger und die Missethaten pfäffischer Herrschsucht?
Hat Österreich nicht bis zuletzt die nationale Kraft, nach der es jetzt auf sla¬
wischen Boden grübe, in Deutschland verleugnet?

In Wien wie an den meisten deutschen Fürstenhöfen war man noch 1866
so wenig von der Bedeutung des nationalen Gedankens überzeugt, wie zur
Zeit Metternichs. Man rief in Bayern um französische Hilfe; ein kleinstaat¬
licher Minister erniedrigte sich soweit, daß er dein russischen Zaren vorspiegelte,
die livländischen Provinzen seien nicht vor Bismarck sicher, und ihre Treue sei
verdächtig. Um in Rußland gegen Bismarck Mißtrauen zu erregen, wurden
die Deutschen verdächtigt und ins Verderben gestürzt. Im Volk war man so
wenig auf die nationale Einigung vorbereitet, daß Bismarck zu dem gewagten
Mittel der Verheißung des allgemeinen Stimmrechts greifen mußte, um die
Massen fortzureißen. Wenn wir uns alles dessen heute erinnern, so bemerken
wir die bedeutende Strecke, die wir seit jener Zeit ans dem Wege innerer natio¬
naler Einigung zurückgelegt haben. Wir brauchen nicht zu fürchten, daß na¬
tionale Einheit dem deutschen Volkscharakter widerspricht, daß wir von Natur
verdammt seien, partikularistisch und uneinig zu sein bis zur Gefährdung der
äußern Einheit. Dreißig Jahre einer ruhmvollen, gebietenden Stellung Deutsch¬
lands im europäischen Staatensystem haben in den führenden Volksschichten
das nationale Bewußtsein gestärkt und auch in die breiten untern Volksschichten
dringen lassen. Aber lange noch wird der Vorsprung nicht eingeholt werden,
den Völker, die seit Jahrhunderten in großen staatlichen Verhältnissen national
zusammenwachsen und leben konnten, vor uns voraus haben. Die Geschlossen¬
heit, zu der Rußland im sechzehnten Jahrhundert gelangte, die in Frankreich
Ludwig XI. zu erzwinge» begann und Richelieu vollendete, die in beiden
Reichen mit Blut und Eisen, nicht gegen Fremde, sondern gegen die Landes¬
genossen geschaffen wurde, ist in Deutschland nicht dnrch einen siegreichen


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[0651] Nation und Staat und Dichtern heimisch. Endlich fand sich der Mann, der die realen Verhält¬ nisse real zu behandeln verstand. staatlich und preußisch durch und durch erhob sich Bismarck zu nationaler Große. Mit den staatlichen Mitteln der Gewalt zwang er das Staatentum des alten Reichs in neue, nationale, ein¬ heitliche Formen. Keiner unsrer großen Kontinentalmächte ist dieser Bruder¬ krieg erspart geblieben; alle haben sie auf dem Wege von Blut und Eisen ihre Größe, ihre nationale Einheit errangen, mit einer Ausnahme: Osterreich, das jetzt den verzweifelten Versuch macht, die nationale Grundlage zu finden, die es für Deutschland nicht zu finden verstand. Welche geschichtliche Tragik liegt in diesem Ringen Österreichs um das nationale Prinzip, das es jahrhunderte¬ lang immer von sich gewiesen, mißachtet, endlich bekämpft hat! Wie tief und weit liegen die Anfänge der Schäden, an denen es heute krankt! Das Welt¬ reich Karls V., durch Heiraten geschaffen, durch Jesuiten geleitet und ver¬ dorben! Sind nicht diese wilden nationalen Kämpfe in Böhmen wie eine Rache für den Mord von Eger und die Missethaten pfäffischer Herrschsucht? Hat Österreich nicht bis zuletzt die nationale Kraft, nach der es jetzt auf sla¬ wischen Boden grübe, in Deutschland verleugnet? In Wien wie an den meisten deutschen Fürstenhöfen war man noch 1866 so wenig von der Bedeutung des nationalen Gedankens überzeugt, wie zur Zeit Metternichs. Man rief in Bayern um französische Hilfe; ein kleinstaat¬ licher Minister erniedrigte sich soweit, daß er dein russischen Zaren vorspiegelte, die livländischen Provinzen seien nicht vor Bismarck sicher, und ihre Treue sei verdächtig. Um in Rußland gegen Bismarck Mißtrauen zu erregen, wurden die Deutschen verdächtigt und ins Verderben gestürzt. Im Volk war man so wenig auf die nationale Einigung vorbereitet, daß Bismarck zu dem gewagten Mittel der Verheißung des allgemeinen Stimmrechts greifen mußte, um die Massen fortzureißen. Wenn wir uns alles dessen heute erinnern, so bemerken wir die bedeutende Strecke, die wir seit jener Zeit ans dem Wege innerer natio¬ naler Einigung zurückgelegt haben. Wir brauchen nicht zu fürchten, daß na¬ tionale Einheit dem deutschen Volkscharakter widerspricht, daß wir von Natur verdammt seien, partikularistisch und uneinig zu sein bis zur Gefährdung der äußern Einheit. Dreißig Jahre einer ruhmvollen, gebietenden Stellung Deutsch¬ lands im europäischen Staatensystem haben in den führenden Volksschichten das nationale Bewußtsein gestärkt und auch in die breiten untern Volksschichten dringen lassen. Aber lange noch wird der Vorsprung nicht eingeholt werden, den Völker, die seit Jahrhunderten in großen staatlichen Verhältnissen national zusammenwachsen und leben konnten, vor uns voraus haben. Die Geschlossen¬ heit, zu der Rußland im sechzehnten Jahrhundert gelangte, die in Frankreich Ludwig XI. zu erzwinge» begann und Richelieu vollendete, die in beiden Reichen mit Blut und Eisen, nicht gegen Fremde, sondern gegen die Landes¬ genossen geschaffen wurde, ist in Deutschland nicht dnrch einen siegreichen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/651>, abgerufen am 23.07.2024.