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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Nation und Staat

Verwaltung. Diese Zustände verschwanden wieder, wenn ein Land, wie z. B.
Ansbach, an einen Kleinstaat zurückfiel. Je deutlicher sich seit 1815 und 1820
herausstellte, wie unfähig der neue Deutsche Bund war, dem allgemeinen Be¬
dürfnis nach staatlicher Ordnung und zugleich gesetzlicher Freiheit zu genügen,
um so mehr wandten sich die Blicke nach Preußen hin; aber nicht weil man
dort den Kern der Nation, sondern weil man einen wohlregierten Staat sah.
Man war viel eher geneigt, Preußen kaum als deutschen Staat gelten zu
lassen. In Preußen selbst war man weit entfernt, sich zum Bannerträger der
Nation zu machen; dort hatte auch Friedrich II. nicht für die Nation, sondern
für seinen Staat gekämpft, und sein Volk fühlte sich noch 1820 ebenso als
Preußische Nation wie die Nassauer als nassauische. Deutsches Volksbewußtsein
war den Preußen so wenig eigen, daß sich während der napoleonischen Fremd¬
herrschaft eine starke französisch gesinnte Partei in Berlin bildete, daß um
1841 Perthes von dem "alten Berliner Haß gegen die deutsche Nation" reden
konnte, und daß ihm um dieselbe Zeit ein Freund aus Berlin schrieb, jeder
Preuße empfinde einen instinktmäßiger Ekel gegen das Deutsche Reich.

Ekel und Haß wurzelten in der Verachtung des unstaatlichen, zerfahrneu
Wesens im Reich, in dem fest ausgeprägten staatlichen Bewußtsein des Preußen,
das von keinem nationalen Empfinden in der Beurteilung des Reichs aufge¬
halten wurde. Ja das preußische Bewußtsein war gerade in dem maßgebendsten
und wichtigsten Teil der Bevölkerung, im Adel und unter den Bauern, gar
nicht einmal ein wirklich rein staatliches: es war wesentlich ein königliches,
das mittelalterliche Treuebewußtsein des Lehnsmanns gegen seinen Herrn.
Der König war der Staat für den richtigen Preußen, freilich in anderen
Sinne, als es zu Versailles festgestellt worden war, und weit mehr dem Papst
zu vergleichen, der dem ultramontanen Katholiken heute über der Kirche steht.
Erst König, dann Staat, dann in weiter Ferne vielleicht die Nation -- das
war die preußische Rangordnung. Und wie wenig man sich in Preußen um
nationale Interessen kümmerte, zeigte bis in die neuste Zeit die königtreuste
Partei in ihrem Widerstreben, so 1849 wie 1866, gegen die Verschmelzung
Preußens mit Deutschland. Friedrich Wilhelm IV. fühlte sich noch als Lehus-
träger des Hauses Österreich, und nicht ihr nationalbewußter Wille, sondern
der Zwang der Verhältnisse hob die preußischen Könige allmählich über die
staatliche zur nationalen Stellung empor.

Die Anerkennung, die man im übrigen Deutschland dem preußischen Wesen
zollte, war durch die Verhältnisse erzwungen und wurde daher nur wider¬
strebend gewährt. Man sah seit 1820 immer klarer, daß nur Preußen die
staatliche Kraft hatte, der Nation aufzuhelfen. Aber der alte Widerwille gegen
das preußische Wesen sträubte sich gegen diese Anerkennung, und dieser Wider¬
wille entsprang hauptsächlich aus derselben Quelle wie die Anerkennung. schuf
die preußische Disziplin Ordnung, so that sie das doch in einer rauhen, her-


Grenzboten I 1899 81
Nation und Staat

Verwaltung. Diese Zustände verschwanden wieder, wenn ein Land, wie z. B.
Ansbach, an einen Kleinstaat zurückfiel. Je deutlicher sich seit 1815 und 1820
herausstellte, wie unfähig der neue Deutsche Bund war, dem allgemeinen Be¬
dürfnis nach staatlicher Ordnung und zugleich gesetzlicher Freiheit zu genügen,
um so mehr wandten sich die Blicke nach Preußen hin; aber nicht weil man
dort den Kern der Nation, sondern weil man einen wohlregierten Staat sah.
Man war viel eher geneigt, Preußen kaum als deutschen Staat gelten zu
lassen. In Preußen selbst war man weit entfernt, sich zum Bannerträger der
Nation zu machen; dort hatte auch Friedrich II. nicht für die Nation, sondern
für seinen Staat gekämpft, und sein Volk fühlte sich noch 1820 ebenso als
Preußische Nation wie die Nassauer als nassauische. Deutsches Volksbewußtsein
war den Preußen so wenig eigen, daß sich während der napoleonischen Fremd¬
herrschaft eine starke französisch gesinnte Partei in Berlin bildete, daß um
1841 Perthes von dem „alten Berliner Haß gegen die deutsche Nation" reden
konnte, und daß ihm um dieselbe Zeit ein Freund aus Berlin schrieb, jeder
Preuße empfinde einen instinktmäßiger Ekel gegen das Deutsche Reich.

Ekel und Haß wurzelten in der Verachtung des unstaatlichen, zerfahrneu
Wesens im Reich, in dem fest ausgeprägten staatlichen Bewußtsein des Preußen,
das von keinem nationalen Empfinden in der Beurteilung des Reichs aufge¬
halten wurde. Ja das preußische Bewußtsein war gerade in dem maßgebendsten
und wichtigsten Teil der Bevölkerung, im Adel und unter den Bauern, gar
nicht einmal ein wirklich rein staatliches: es war wesentlich ein königliches,
das mittelalterliche Treuebewußtsein des Lehnsmanns gegen seinen Herrn.
Der König war der Staat für den richtigen Preußen, freilich in anderen
Sinne, als es zu Versailles festgestellt worden war, und weit mehr dem Papst
zu vergleichen, der dem ultramontanen Katholiken heute über der Kirche steht.
Erst König, dann Staat, dann in weiter Ferne vielleicht die Nation — das
war die preußische Rangordnung. Und wie wenig man sich in Preußen um
nationale Interessen kümmerte, zeigte bis in die neuste Zeit die königtreuste
Partei in ihrem Widerstreben, so 1849 wie 1866, gegen die Verschmelzung
Preußens mit Deutschland. Friedrich Wilhelm IV. fühlte sich noch als Lehus-
träger des Hauses Österreich, und nicht ihr nationalbewußter Wille, sondern
der Zwang der Verhältnisse hob die preußischen Könige allmählich über die
staatliche zur nationalen Stellung empor.

Die Anerkennung, die man im übrigen Deutschland dem preußischen Wesen
zollte, war durch die Verhältnisse erzwungen und wurde daher nur wider¬
strebend gewährt. Man sah seit 1820 immer klarer, daß nur Preußen die
staatliche Kraft hatte, der Nation aufzuhelfen. Aber der alte Widerwille gegen
das preußische Wesen sträubte sich gegen diese Anerkennung, und dieser Wider¬
wille entsprang hauptsächlich aus derselben Quelle wie die Anerkennung. schuf
die preußische Disziplin Ordnung, so that sie das doch in einer rauhen, her-


Grenzboten I 1899 81
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[0649] Nation und Staat Verwaltung. Diese Zustände verschwanden wieder, wenn ein Land, wie z. B. Ansbach, an einen Kleinstaat zurückfiel. Je deutlicher sich seit 1815 und 1820 herausstellte, wie unfähig der neue Deutsche Bund war, dem allgemeinen Be¬ dürfnis nach staatlicher Ordnung und zugleich gesetzlicher Freiheit zu genügen, um so mehr wandten sich die Blicke nach Preußen hin; aber nicht weil man dort den Kern der Nation, sondern weil man einen wohlregierten Staat sah. Man war viel eher geneigt, Preußen kaum als deutschen Staat gelten zu lassen. In Preußen selbst war man weit entfernt, sich zum Bannerträger der Nation zu machen; dort hatte auch Friedrich II. nicht für die Nation, sondern für seinen Staat gekämpft, und sein Volk fühlte sich noch 1820 ebenso als Preußische Nation wie die Nassauer als nassauische. Deutsches Volksbewußtsein war den Preußen so wenig eigen, daß sich während der napoleonischen Fremd¬ herrschaft eine starke französisch gesinnte Partei in Berlin bildete, daß um 1841 Perthes von dem „alten Berliner Haß gegen die deutsche Nation" reden konnte, und daß ihm um dieselbe Zeit ein Freund aus Berlin schrieb, jeder Preuße empfinde einen instinktmäßiger Ekel gegen das Deutsche Reich. Ekel und Haß wurzelten in der Verachtung des unstaatlichen, zerfahrneu Wesens im Reich, in dem fest ausgeprägten staatlichen Bewußtsein des Preußen, das von keinem nationalen Empfinden in der Beurteilung des Reichs aufge¬ halten wurde. Ja das preußische Bewußtsein war gerade in dem maßgebendsten und wichtigsten Teil der Bevölkerung, im Adel und unter den Bauern, gar nicht einmal ein wirklich rein staatliches: es war wesentlich ein königliches, das mittelalterliche Treuebewußtsein des Lehnsmanns gegen seinen Herrn. Der König war der Staat für den richtigen Preußen, freilich in anderen Sinne, als es zu Versailles festgestellt worden war, und weit mehr dem Papst zu vergleichen, der dem ultramontanen Katholiken heute über der Kirche steht. Erst König, dann Staat, dann in weiter Ferne vielleicht die Nation — das war die preußische Rangordnung. Und wie wenig man sich in Preußen um nationale Interessen kümmerte, zeigte bis in die neuste Zeit die königtreuste Partei in ihrem Widerstreben, so 1849 wie 1866, gegen die Verschmelzung Preußens mit Deutschland. Friedrich Wilhelm IV. fühlte sich noch als Lehus- träger des Hauses Österreich, und nicht ihr nationalbewußter Wille, sondern der Zwang der Verhältnisse hob die preußischen Könige allmählich über die staatliche zur nationalen Stellung empor. Die Anerkennung, die man im übrigen Deutschland dem preußischen Wesen zollte, war durch die Verhältnisse erzwungen und wurde daher nur wider¬ strebend gewährt. Man sah seit 1820 immer klarer, daß nur Preußen die staatliche Kraft hatte, der Nation aufzuhelfen. Aber der alte Widerwille gegen das preußische Wesen sträubte sich gegen diese Anerkennung, und dieser Wider¬ wille entsprang hauptsächlich aus derselben Quelle wie die Anerkennung. schuf die preußische Disziplin Ordnung, so that sie das doch in einer rauhen, her- Grenzboten I 1899 81

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/649>, abgerufen am 23.07.2024.