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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Nation und Staat

Entsetzliche Schilderungen, die zugleich des Ergötzlichen nicht ermangeln,
entwirft uns ein bayrischer Beamter, Ritter von Lang,*) aus dem neuen
napoleonischen Königreich Bayern, Mögen diese Auszeichnungen auch an Ge¬
hässigkeit Einzelnen gegenüber leiden, so dürfen sie doch als bezeichnend gelten
für Zustande jener Zeit. "Der Angeklagte, sagt er, wenn er ein Beamter,
Adlicher, Geistlicher oder ein reicher Jude war, kam jederzeit durch, Kläger
oder Richter aber wurden von der Rache erreicht. Ob ich gleich in jedem
Stande die rechtschaffensten und tüchtigsten Männer gefunden habe und über¬
zeugt bin, daß dergleichen neben den geschilderten unglückseligen Subjekten
überall zu finden sind; so fragt sichs doch, wie es kommt, daß gerade in der
Beamtenwelt eine solche erschreckliche Verworfenheit habe stattfinden können?
Ich weiß darauf keine andre Lösung als: durch eine unglaubliche Schwäche
der Regierung, eine schlechte Justiz, ein seit Jahrhunderten dnrch die vielen
welschen Tonangeber und Emporkömmlinge, die Maitressen- und Pfaffenrcgie-
rnng und die allerliederlichste Staatswirtschaft verdorbner Charakter und einen
den Freunden des Guten überall auflauernden heimtückischen Nachegeist."

Man muß sich diese Zustände vergegenwärtigen, um zu begreifen, mit
welcher Gleichgiltigkeit man im südlichen und westlichen Deutschland den Zu¬
sammenbruch des alten Staatswesens und den Einbruch welschen Geistes und
welscher Staatsmacht im Volke ansah. Der Staat, wie er sich dem Unterthan
von Bamberg oder Würzburg oder Kurmainz oder Kurköln oder all der welt¬
lichen Herren zeigte, konnte ebenso wellig ein staatliches Bewußtsein nähren
und erhalten, wie die Komödie, die auf der Bühne des Reichs aufgeführt
wurde, dem seit lange erschlafften Neichsbewußtsein aufhelfen konnte. Welche
Achtung vermochte man einem "allerhöchsten Reichsoberhaupte," wie man
es damals nannte, zu bewahren, das den Kongreß zu Rastatt mit der freilich
unerwarteten Erklärung eröffnete, daß die Integrität des Reichs als anerkanntes
Prinzip der Verhandlungen zu gelten habe, und drei Wochen darauf Mainz
den Franzosen ohne Schwertstreich übergab, die dann auch sofort mitten im
Frieden die Rheinschanze bei Mannheim mit dazu nahmen? Und als dann
ein allgemeines Wehklagen begann, da kam, wie Lang erzählt, die andre be¬
schwichtigende Erklärung des kaiserlichen Gesandten: "Die Integrität des Reichs
sei keine rohe, sinnlich-körperliche, sondern eine symbolisch-idealische, nach welcher,
Rheingrenze hin oder her, doch noch dieselbe Verbindung des allerhöchsten
Reichsoberhaupts und dessen allergetreuesten Kurfürsten, Fürsten und Ständen
des Reichs fortbestehen sollte."

Die "symbolische Integrität" des Reiches! Eine Symbolik, die nicht nur
in der realen staatlichen Verlumptheit, sondern auch in der Fratzenhaftigkeit
zu Tage trat, der das äußere Erscheinen von Staat und Reich verfallen war.
Wenn heute bei uns manchenorts die nationale Triebkraft noch nicht stark



") Memoiren des Ritters K> H, vo" Lang, U, 1"'.",
Nation und Staat

Entsetzliche Schilderungen, die zugleich des Ergötzlichen nicht ermangeln,
entwirft uns ein bayrischer Beamter, Ritter von Lang,*) aus dem neuen
napoleonischen Königreich Bayern, Mögen diese Auszeichnungen auch an Ge¬
hässigkeit Einzelnen gegenüber leiden, so dürfen sie doch als bezeichnend gelten
für Zustande jener Zeit. „Der Angeklagte, sagt er, wenn er ein Beamter,
Adlicher, Geistlicher oder ein reicher Jude war, kam jederzeit durch, Kläger
oder Richter aber wurden von der Rache erreicht. Ob ich gleich in jedem
Stande die rechtschaffensten und tüchtigsten Männer gefunden habe und über¬
zeugt bin, daß dergleichen neben den geschilderten unglückseligen Subjekten
überall zu finden sind; so fragt sichs doch, wie es kommt, daß gerade in der
Beamtenwelt eine solche erschreckliche Verworfenheit habe stattfinden können?
Ich weiß darauf keine andre Lösung als: durch eine unglaubliche Schwäche
der Regierung, eine schlechte Justiz, ein seit Jahrhunderten dnrch die vielen
welschen Tonangeber und Emporkömmlinge, die Maitressen- und Pfaffenrcgie-
rnng und die allerliederlichste Staatswirtschaft verdorbner Charakter und einen
den Freunden des Guten überall auflauernden heimtückischen Nachegeist."

Man muß sich diese Zustände vergegenwärtigen, um zu begreifen, mit
welcher Gleichgiltigkeit man im südlichen und westlichen Deutschland den Zu¬
sammenbruch des alten Staatswesens und den Einbruch welschen Geistes und
welscher Staatsmacht im Volke ansah. Der Staat, wie er sich dem Unterthan
von Bamberg oder Würzburg oder Kurmainz oder Kurköln oder all der welt¬
lichen Herren zeigte, konnte ebenso wellig ein staatliches Bewußtsein nähren
und erhalten, wie die Komödie, die auf der Bühne des Reichs aufgeführt
wurde, dem seit lange erschlafften Neichsbewußtsein aufhelfen konnte. Welche
Achtung vermochte man einem „allerhöchsten Reichsoberhaupte," wie man
es damals nannte, zu bewahren, das den Kongreß zu Rastatt mit der freilich
unerwarteten Erklärung eröffnete, daß die Integrität des Reichs als anerkanntes
Prinzip der Verhandlungen zu gelten habe, und drei Wochen darauf Mainz
den Franzosen ohne Schwertstreich übergab, die dann auch sofort mitten im
Frieden die Rheinschanze bei Mannheim mit dazu nahmen? Und als dann
ein allgemeines Wehklagen begann, da kam, wie Lang erzählt, die andre be¬
schwichtigende Erklärung des kaiserlichen Gesandten: „Die Integrität des Reichs
sei keine rohe, sinnlich-körperliche, sondern eine symbolisch-idealische, nach welcher,
Rheingrenze hin oder her, doch noch dieselbe Verbindung des allerhöchsten
Reichsoberhaupts und dessen allergetreuesten Kurfürsten, Fürsten und Ständen
des Reichs fortbestehen sollte."

Die „symbolische Integrität" des Reiches! Eine Symbolik, die nicht nur
in der realen staatlichen Verlumptheit, sondern auch in der Fratzenhaftigkeit
zu Tage trat, der das äußere Erscheinen von Staat und Reich verfallen war.
Wenn heute bei uns manchenorts die nationale Triebkraft noch nicht stark



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[0643] Nation und Staat Entsetzliche Schilderungen, die zugleich des Ergötzlichen nicht ermangeln, entwirft uns ein bayrischer Beamter, Ritter von Lang,*) aus dem neuen napoleonischen Königreich Bayern, Mögen diese Auszeichnungen auch an Ge¬ hässigkeit Einzelnen gegenüber leiden, so dürfen sie doch als bezeichnend gelten für Zustande jener Zeit. „Der Angeklagte, sagt er, wenn er ein Beamter, Adlicher, Geistlicher oder ein reicher Jude war, kam jederzeit durch, Kläger oder Richter aber wurden von der Rache erreicht. Ob ich gleich in jedem Stande die rechtschaffensten und tüchtigsten Männer gefunden habe und über¬ zeugt bin, daß dergleichen neben den geschilderten unglückseligen Subjekten überall zu finden sind; so fragt sichs doch, wie es kommt, daß gerade in der Beamtenwelt eine solche erschreckliche Verworfenheit habe stattfinden können? Ich weiß darauf keine andre Lösung als: durch eine unglaubliche Schwäche der Regierung, eine schlechte Justiz, ein seit Jahrhunderten dnrch die vielen welschen Tonangeber und Emporkömmlinge, die Maitressen- und Pfaffenrcgie- rnng und die allerliederlichste Staatswirtschaft verdorbner Charakter und einen den Freunden des Guten überall auflauernden heimtückischen Nachegeist." Man muß sich diese Zustände vergegenwärtigen, um zu begreifen, mit welcher Gleichgiltigkeit man im südlichen und westlichen Deutschland den Zu¬ sammenbruch des alten Staatswesens und den Einbruch welschen Geistes und welscher Staatsmacht im Volke ansah. Der Staat, wie er sich dem Unterthan von Bamberg oder Würzburg oder Kurmainz oder Kurköln oder all der welt¬ lichen Herren zeigte, konnte ebenso wellig ein staatliches Bewußtsein nähren und erhalten, wie die Komödie, die auf der Bühne des Reichs aufgeführt wurde, dem seit lange erschlafften Neichsbewußtsein aufhelfen konnte. Welche Achtung vermochte man einem „allerhöchsten Reichsoberhaupte," wie man es damals nannte, zu bewahren, das den Kongreß zu Rastatt mit der freilich unerwarteten Erklärung eröffnete, daß die Integrität des Reichs als anerkanntes Prinzip der Verhandlungen zu gelten habe, und drei Wochen darauf Mainz den Franzosen ohne Schwertstreich übergab, die dann auch sofort mitten im Frieden die Rheinschanze bei Mannheim mit dazu nahmen? Und als dann ein allgemeines Wehklagen begann, da kam, wie Lang erzählt, die andre be¬ schwichtigende Erklärung des kaiserlichen Gesandten: „Die Integrität des Reichs sei keine rohe, sinnlich-körperliche, sondern eine symbolisch-idealische, nach welcher, Rheingrenze hin oder her, doch noch dieselbe Verbindung des allerhöchsten Reichsoberhaupts und dessen allergetreuesten Kurfürsten, Fürsten und Ständen des Reichs fortbestehen sollte." Die „symbolische Integrität" des Reiches! Eine Symbolik, die nicht nur in der realen staatlichen Verlumptheit, sondern auch in der Fratzenhaftigkeit zu Tage trat, der das äußere Erscheinen von Staat und Reich verfallen war. Wenn heute bei uns manchenorts die nationale Triebkraft noch nicht stark ") Memoiren des Ritters K> H, vo» Lang, U, 1»'.»,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/643>, abgerufen am 23.07.2024.