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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Nation und Staat

Magnaten unterschied, war der in dem deutschen Charakter fester wurzelnde
Sinn für Recht und Ordnung, waren die Formen staatlichen Wesens, die, so
leer sie oft waren, dennoch im Volke nicht gänzlich das staatliche Bewußtsein
erlöschen ließen. Man hatte wenigstens überall und oft sehr dicht vor Augen
einen Fürstenhof mit seinen Schranzen und Ministern, man sah im Lande, so
klein es war, Beamte, Richter, Zöllner und auch Soldaten; man sah kleine
Musterstaaten, wenn man sich weiter umthat, oder hörte von solchen, in denen
es ordentlich und rechtlich zuging, in denen sür Wege oder Schulen oder für
eine andre Liebhaberei des Fürsten von allgemeinem Nutzen gut gesorgt wurde.
Denn bei aller Willkür vieler der Herren war dieser südliche und westliche
Boden doch uralter deutscher Kulturboden, auf dem sich ein reges geistiges
Leben erhalten hatte und in Verbindung stand mit der Geistesarbeit in Frank¬
reich, der Schweiz, Holland, Italien; ein Kulturboden, auf dem noch eben die
meisten der großen Dichter und Denker erwachsei? waren, die unsre Litteratur
zu einer der französischen, englischen, italienischen ebenbürtigen erhoben hatten.

Aber im ganzen freilich war in diesem Reichstrümmerhaufen wenig zu
sehen, was den Begriff des Staats im Bewußtsein der Bürger festigen konnte.
An der Stelle des Staatsbewußtseins stand allenfalls ein enges Kommunal¬
bewußtsein; der Württemberger war darin nicht anders als der Nürnberger
oder Rothenburger und konnte in der That auch kaum mrders sein. Denn
in der Zeit von 1800 bis 1815 und noch später wurde mit den deutschen
Ländern und Staaten ein Handel und Tauschgeschäft getrieben, wie auf der
Leipziger Messe mit Tuchballen. Niemand konnte sicher sein, daß er sich über
Nacht nicht aus einem Bayern in einen Preußen, aus einem Gothaer in einen
Koburger, aus einem Kurmainzer in einen Franzosen oder Hessen verwandelte.
Endlos schleppten sich die Grenzausführungen zwischen den verhandelten Land¬
fetzen hin, und war endlich eine Grenze gesetzt, dann kam oft bald ein neuer
Tausch, der sie unnütz machte.

Seit Napoleon den in Rastatt versammelten deutschen Fürsten kurzweg
erklärt hatte, die gesamten geistlichen Stifter seien zu säkularisieren und ihre
Ländereien zur Entschädigung der durch die französischen Eroberungen Ver¬
triebnen Fürsten und Herren zu verwenden, war bei den geistlichen Ständen
zwar des Jammers genug, aber um so größeres Wohlgefallen bei denen, die
sich nun auf die großen und reichen Gebiete der Erzstifte, Bistümer, Abteien
und Klöster stürzten. Daß es bei diesem Plündern und Handeln nicht fein
säuberlich herging, vielmehr allmählich alle Scham dahin schwand, ist bekannt
genug. Was die Herren zur Bestechung Napoleons und seiner Diener heraus¬
geben mußten, das holten sie oft von ihren neu eingehandelten Unterthanen
wieder zurück, und wie die Herren, so dachten ihre Diener: vielleicht hat
Deutschland nie vorher oder nachher eine solche Entwürdigung der Regierungen
und des Beamtentums gesehen wie damals zur Zeit des napoleonischen Länder¬
schachers.


Nation und Staat

Magnaten unterschied, war der in dem deutschen Charakter fester wurzelnde
Sinn für Recht und Ordnung, waren die Formen staatlichen Wesens, die, so
leer sie oft waren, dennoch im Volke nicht gänzlich das staatliche Bewußtsein
erlöschen ließen. Man hatte wenigstens überall und oft sehr dicht vor Augen
einen Fürstenhof mit seinen Schranzen und Ministern, man sah im Lande, so
klein es war, Beamte, Richter, Zöllner und auch Soldaten; man sah kleine
Musterstaaten, wenn man sich weiter umthat, oder hörte von solchen, in denen
es ordentlich und rechtlich zuging, in denen sür Wege oder Schulen oder für
eine andre Liebhaberei des Fürsten von allgemeinem Nutzen gut gesorgt wurde.
Denn bei aller Willkür vieler der Herren war dieser südliche und westliche
Boden doch uralter deutscher Kulturboden, auf dem sich ein reges geistiges
Leben erhalten hatte und in Verbindung stand mit der Geistesarbeit in Frank¬
reich, der Schweiz, Holland, Italien; ein Kulturboden, auf dem noch eben die
meisten der großen Dichter und Denker erwachsei? waren, die unsre Litteratur
zu einer der französischen, englischen, italienischen ebenbürtigen erhoben hatten.

Aber im ganzen freilich war in diesem Reichstrümmerhaufen wenig zu
sehen, was den Begriff des Staats im Bewußtsein der Bürger festigen konnte.
An der Stelle des Staatsbewußtseins stand allenfalls ein enges Kommunal¬
bewußtsein; der Württemberger war darin nicht anders als der Nürnberger
oder Rothenburger und konnte in der That auch kaum mrders sein. Denn
in der Zeit von 1800 bis 1815 und noch später wurde mit den deutschen
Ländern und Staaten ein Handel und Tauschgeschäft getrieben, wie auf der
Leipziger Messe mit Tuchballen. Niemand konnte sicher sein, daß er sich über
Nacht nicht aus einem Bayern in einen Preußen, aus einem Gothaer in einen
Koburger, aus einem Kurmainzer in einen Franzosen oder Hessen verwandelte.
Endlos schleppten sich die Grenzausführungen zwischen den verhandelten Land¬
fetzen hin, und war endlich eine Grenze gesetzt, dann kam oft bald ein neuer
Tausch, der sie unnütz machte.

Seit Napoleon den in Rastatt versammelten deutschen Fürsten kurzweg
erklärt hatte, die gesamten geistlichen Stifter seien zu säkularisieren und ihre
Ländereien zur Entschädigung der durch die französischen Eroberungen Ver¬
triebnen Fürsten und Herren zu verwenden, war bei den geistlichen Ständen
zwar des Jammers genug, aber um so größeres Wohlgefallen bei denen, die
sich nun auf die großen und reichen Gebiete der Erzstifte, Bistümer, Abteien
und Klöster stürzten. Daß es bei diesem Plündern und Handeln nicht fein
säuberlich herging, vielmehr allmählich alle Scham dahin schwand, ist bekannt
genug. Was die Herren zur Bestechung Napoleons und seiner Diener heraus¬
geben mußten, das holten sie oft von ihren neu eingehandelten Unterthanen
wieder zurück, und wie die Herren, so dachten ihre Diener: vielleicht hat
Deutschland nie vorher oder nachher eine solche Entwürdigung der Regierungen
und des Beamtentums gesehen wie damals zur Zeit des napoleonischen Länder¬
schachers.


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[0642] Nation und Staat Magnaten unterschied, war der in dem deutschen Charakter fester wurzelnde Sinn für Recht und Ordnung, waren die Formen staatlichen Wesens, die, so leer sie oft waren, dennoch im Volke nicht gänzlich das staatliche Bewußtsein erlöschen ließen. Man hatte wenigstens überall und oft sehr dicht vor Augen einen Fürstenhof mit seinen Schranzen und Ministern, man sah im Lande, so klein es war, Beamte, Richter, Zöllner und auch Soldaten; man sah kleine Musterstaaten, wenn man sich weiter umthat, oder hörte von solchen, in denen es ordentlich und rechtlich zuging, in denen sür Wege oder Schulen oder für eine andre Liebhaberei des Fürsten von allgemeinem Nutzen gut gesorgt wurde. Denn bei aller Willkür vieler der Herren war dieser südliche und westliche Boden doch uralter deutscher Kulturboden, auf dem sich ein reges geistiges Leben erhalten hatte und in Verbindung stand mit der Geistesarbeit in Frank¬ reich, der Schweiz, Holland, Italien; ein Kulturboden, auf dem noch eben die meisten der großen Dichter und Denker erwachsei? waren, die unsre Litteratur zu einer der französischen, englischen, italienischen ebenbürtigen erhoben hatten. Aber im ganzen freilich war in diesem Reichstrümmerhaufen wenig zu sehen, was den Begriff des Staats im Bewußtsein der Bürger festigen konnte. An der Stelle des Staatsbewußtseins stand allenfalls ein enges Kommunal¬ bewußtsein; der Württemberger war darin nicht anders als der Nürnberger oder Rothenburger und konnte in der That auch kaum mrders sein. Denn in der Zeit von 1800 bis 1815 und noch später wurde mit den deutschen Ländern und Staaten ein Handel und Tauschgeschäft getrieben, wie auf der Leipziger Messe mit Tuchballen. Niemand konnte sicher sein, daß er sich über Nacht nicht aus einem Bayern in einen Preußen, aus einem Gothaer in einen Koburger, aus einem Kurmainzer in einen Franzosen oder Hessen verwandelte. Endlos schleppten sich die Grenzausführungen zwischen den verhandelten Land¬ fetzen hin, und war endlich eine Grenze gesetzt, dann kam oft bald ein neuer Tausch, der sie unnütz machte. Seit Napoleon den in Rastatt versammelten deutschen Fürsten kurzweg erklärt hatte, die gesamten geistlichen Stifter seien zu säkularisieren und ihre Ländereien zur Entschädigung der durch die französischen Eroberungen Ver¬ triebnen Fürsten und Herren zu verwenden, war bei den geistlichen Ständen zwar des Jammers genug, aber um so größeres Wohlgefallen bei denen, die sich nun auf die großen und reichen Gebiete der Erzstifte, Bistümer, Abteien und Klöster stürzten. Daß es bei diesem Plündern und Handeln nicht fein säuberlich herging, vielmehr allmählich alle Scham dahin schwand, ist bekannt genug. Was die Herren zur Bestechung Napoleons und seiner Diener heraus¬ geben mußten, das holten sie oft von ihren neu eingehandelten Unterthanen wieder zurück, und wie die Herren, so dachten ihre Diener: vielleicht hat Deutschland nie vorher oder nachher eine solche Entwürdigung der Regierungen und des Beamtentums gesehen wie damals zur Zeit des napoleonischen Länder¬ schachers.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/642>, abgerufen am 23.07.2024.