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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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führen, selbst geistige Wesen und umgeben sind von einer Welt geistiger Inter¬
essen, gegen die ihr Leben und ihre Forderungen nichts entscheidendes bedeuten.
In dem Augenblick, wenn jene Millionen begehrender Proletarier nur eben
ihre Lebensnotdurft erlangt haben, was für die meisten regelmäßig gelingt,
werden sie willig und lenksam für die bewegenden Kräfte der Idee, für die
geheimnisvolle Gewalt ihrer Vorstellung. Kirche, Vaterland und Freiheit,^)
der Götterfunken der kleinen und bunten Freuden ihres Daseins, hebt auch
jene Ärmsten aus ihrem Elend hinaus und zu einer ihnen lebenswert er¬
scheinenden Existenz empor. Über ihrer Masse aber lagert das majestätische
Gebände des menschlichen Gedankens, der alle Materie durchdringt und bewegt
und in der Kultur eine Schöpfung hervorgetrieben hat, die in ihrer unsicht¬
baren Größe den rohen Angriffen des Materialismus unzugänglich ist." Phrase,
nichts als Phrase! Der letzte Satz ist reine Phrase, die vorhergehenden Satze
aber sind es wenigstens im Munde eines Mannes, der den Menschen als ein
Gemisch von Bestie und Teufel charakterisiert hat. "Die geistige Anschauung
kann den Einzelnen wie ganze Völker mit überwältigenden Interesse ans ihren
Gegenstand gebannt halten, der materielle Kampf ums Dasein hat doch regel¬
mäßig seine Macht als erstes Naturgesetz anch aller Herrlichkeit des Geistes
gegenüber erwiesen. Da man erst leben muß und dann erst anfangen kann zu
denken, zu räsonnieren und zu streiten, so beginnt und endigt rin der gemeinsten
leiblichen Sorge jedes kleine und jedes große menschliche Dasein" (S. 332).
Wer das schreibt, der hat kein Recht, den Sozialdemokraten ihren Materialismus
vorzuwerfen.

Nur der "Idee" wegen will ich noch folgende Stelle anführen. "Sind
die unerreichbaren Grenzen ^soll wohl heißen: die Grenzen des Erreichbaren^
erkannt und die idealistischen Stürme titanischer Empörung gegen das Seiende
niedergekämpft, fo tritt die Resignation ein, die mit dem Gegebnen auszu¬
kommen sucht und das Fehlende nicht in den Wolken und in einer poetischen
Zukunft sucht. In dieser Erkenntnis dankt nun jeder, der eine feste Stelle
und ein Stück Nahrungsbodeu errungen hat, seinem Gott sür sein immer un¬
verdientes Glück und hält es ohne Skrupel sest. Jene Einsicht von der Natur
des Willens, der im eignen Busen nicht besser, aber anch nicht schlechter ist
als im fremden, und von der Selbstsucht der andern, die nicht schlechter, aber
auch nicht besser sind als man selbst, giebt dem Besitz die äußere und innere



-) Eben das Verlangen nach Freiheit ists ja, was rede" dein Verlangen nach Brot die
Proletarier aller Zeiten zum Kampfe gegen die bestehende Ordnung gestachelt hat, und wie oft
wird das Vaterland im Ramm der Kirche, die Kirche im Ramm des Vaterlands bekriegt, und
Zwar nicht bloß mit unblutigen Waffen; das; gerade "die Idee" nicht den Frieden, sondern erst
recht den Krieg bringt, hat schon Christus gesagt; hungernde Tiere machen keine Revolution.
Reinhold

führen, selbst geistige Wesen und umgeben sind von einer Welt geistiger Inter¬
essen, gegen die ihr Leben und ihre Forderungen nichts entscheidendes bedeuten.
In dem Augenblick, wenn jene Millionen begehrender Proletarier nur eben
ihre Lebensnotdurft erlangt haben, was für die meisten regelmäßig gelingt,
werden sie willig und lenksam für die bewegenden Kräfte der Idee, für die
geheimnisvolle Gewalt ihrer Vorstellung. Kirche, Vaterland und Freiheit,^)
der Götterfunken der kleinen und bunten Freuden ihres Daseins, hebt auch
jene Ärmsten aus ihrem Elend hinaus und zu einer ihnen lebenswert er¬
scheinenden Existenz empor. Über ihrer Masse aber lagert das majestätische
Gebände des menschlichen Gedankens, der alle Materie durchdringt und bewegt
und in der Kultur eine Schöpfung hervorgetrieben hat, die in ihrer unsicht¬
baren Größe den rohen Angriffen des Materialismus unzugänglich ist." Phrase,
nichts als Phrase! Der letzte Satz ist reine Phrase, die vorhergehenden Satze
aber sind es wenigstens im Munde eines Mannes, der den Menschen als ein
Gemisch von Bestie und Teufel charakterisiert hat. „Die geistige Anschauung
kann den Einzelnen wie ganze Völker mit überwältigenden Interesse ans ihren
Gegenstand gebannt halten, der materielle Kampf ums Dasein hat doch regel¬
mäßig seine Macht als erstes Naturgesetz anch aller Herrlichkeit des Geistes
gegenüber erwiesen. Da man erst leben muß und dann erst anfangen kann zu
denken, zu räsonnieren und zu streiten, so beginnt und endigt rin der gemeinsten
leiblichen Sorge jedes kleine und jedes große menschliche Dasein" (S. 332).
Wer das schreibt, der hat kein Recht, den Sozialdemokraten ihren Materialismus
vorzuwerfen.

Nur der „Idee" wegen will ich noch folgende Stelle anführen. „Sind
die unerreichbaren Grenzen ^soll wohl heißen: die Grenzen des Erreichbaren^
erkannt und die idealistischen Stürme titanischer Empörung gegen das Seiende
niedergekämpft, fo tritt die Resignation ein, die mit dem Gegebnen auszu¬
kommen sucht und das Fehlende nicht in den Wolken und in einer poetischen
Zukunft sucht. In dieser Erkenntnis dankt nun jeder, der eine feste Stelle
und ein Stück Nahrungsbodeu errungen hat, seinem Gott sür sein immer un¬
verdientes Glück und hält es ohne Skrupel sest. Jene Einsicht von der Natur
des Willens, der im eignen Busen nicht besser, aber anch nicht schlechter ist
als im fremden, und von der Selbstsucht der andern, die nicht schlechter, aber
auch nicht besser sind als man selbst, giebt dem Besitz die äußere und innere



-) Eben das Verlangen nach Freiheit ists ja, was rede» dein Verlangen nach Brot die
Proletarier aller Zeiten zum Kampfe gegen die bestehende Ordnung gestachelt hat, und wie oft
wird das Vaterland im Ramm der Kirche, die Kirche im Ramm des Vaterlands bekriegt, und
Zwar nicht bloß mit unblutigen Waffen; das; gerade „die Idee" nicht den Frieden, sondern erst
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[0437] Reinhold führen, selbst geistige Wesen und umgeben sind von einer Welt geistiger Inter¬ essen, gegen die ihr Leben und ihre Forderungen nichts entscheidendes bedeuten. In dem Augenblick, wenn jene Millionen begehrender Proletarier nur eben ihre Lebensnotdurft erlangt haben, was für die meisten regelmäßig gelingt, werden sie willig und lenksam für die bewegenden Kräfte der Idee, für die geheimnisvolle Gewalt ihrer Vorstellung. Kirche, Vaterland und Freiheit,^) der Götterfunken der kleinen und bunten Freuden ihres Daseins, hebt auch jene Ärmsten aus ihrem Elend hinaus und zu einer ihnen lebenswert er¬ scheinenden Existenz empor. Über ihrer Masse aber lagert das majestätische Gebände des menschlichen Gedankens, der alle Materie durchdringt und bewegt und in der Kultur eine Schöpfung hervorgetrieben hat, die in ihrer unsicht¬ baren Größe den rohen Angriffen des Materialismus unzugänglich ist." Phrase, nichts als Phrase! Der letzte Satz ist reine Phrase, die vorhergehenden Satze aber sind es wenigstens im Munde eines Mannes, der den Menschen als ein Gemisch von Bestie und Teufel charakterisiert hat. „Die geistige Anschauung kann den Einzelnen wie ganze Völker mit überwältigenden Interesse ans ihren Gegenstand gebannt halten, der materielle Kampf ums Dasein hat doch regel¬ mäßig seine Macht als erstes Naturgesetz anch aller Herrlichkeit des Geistes gegenüber erwiesen. Da man erst leben muß und dann erst anfangen kann zu denken, zu räsonnieren und zu streiten, so beginnt und endigt rin der gemeinsten leiblichen Sorge jedes kleine und jedes große menschliche Dasein" (S. 332). Wer das schreibt, der hat kein Recht, den Sozialdemokraten ihren Materialismus vorzuwerfen. Nur der „Idee" wegen will ich noch folgende Stelle anführen. „Sind die unerreichbaren Grenzen ^soll wohl heißen: die Grenzen des Erreichbaren^ erkannt und die idealistischen Stürme titanischer Empörung gegen das Seiende niedergekämpft, fo tritt die Resignation ein, die mit dem Gegebnen auszu¬ kommen sucht und das Fehlende nicht in den Wolken und in einer poetischen Zukunft sucht. In dieser Erkenntnis dankt nun jeder, der eine feste Stelle und ein Stück Nahrungsbodeu errungen hat, seinem Gott sür sein immer un¬ verdientes Glück und hält es ohne Skrupel sest. Jene Einsicht von der Natur des Willens, der im eignen Busen nicht besser, aber anch nicht schlechter ist als im fremden, und von der Selbstsucht der andern, die nicht schlechter, aber auch nicht besser sind als man selbst, giebt dem Besitz die äußere und innere -) Eben das Verlangen nach Freiheit ists ja, was rede» dein Verlangen nach Brot die Proletarier aller Zeiten zum Kampfe gegen die bestehende Ordnung gestachelt hat, und wie oft wird das Vaterland im Ramm der Kirche, die Kirche im Ramm des Vaterlands bekriegt, und Zwar nicht bloß mit unblutigen Waffen; das; gerade „die Idee" nicht den Frieden, sondern erst recht den Krieg bringt, hat schon Christus gesagt; hungernde Tiere machen keine Revolution.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/437>, abgerufen am 28.09.2024.