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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Islam und Zivilisation

Sultan Mohammed II., der Eroberer der Hauptstadt des Ostens, hat sein
Reich von der save bis zum Euphrat ausgedehnt und dessen Organisation
in den Grundzügen vollendet; auch als Gesetzgeber nimmt er eine ausgezeichnete
Stellung ein. In der politischen Verfassung wird vieles von den Griechen
einfach übernommen, nur daß sich die Osmanen durch ihre größere Schlichtheit
und Redlichkeit auszeichnen. Einteilung und Provinzialverwaltung hingen durch
das Lehnswesen eng mit den Kriegseinrichtungen zusammen; ursprünglich sind
die Lehen nicht erblich, vielmehr muß jeder Lehnsträger mit einem einfachen
Lehen seine Laufbahn beginnen. Über den Bevölkerungen der eroberten Länder
richten sich die Osmanen als eine wehrhafte Massenaristokratie ein, nicht un¬
ähnlich der sarmatischen Slachta in Polen. Bei der eigentümlichen Stellung
der muhammedanischen Ulemas, die geistliches und weltliches Recht sprechen,
lag die Auskunft nahe, auch der griechischen Geistlichkeit Regierung und Rechts¬
pflege ihrer Glaubensgenossen zu übertragen und nur die Besteuerung in
türkischen Händen zu lassen. Der Patriarch von Konstantinopel vertrat die
Stelle eines politischen Oberhauptes der Griechen. Freilich herrschten von Haus
aus schwere Übelstünde, unter denen die Verpachtung der Steuern und deren
Eintreibung durch die Pächter, sowie die ungemessenen und willkürlichen
Naturaldienste als hauptsächlichste zu nennen sind. Das ganze System zielt
weniger auf Verwaltung und Erziehung als auf Beherrschung und Ausbeutung,
steht indessen in all diesen Beziehungen noch nicht wesentlich hinter den gleich¬
zeitigen abendländischen Regierungssystemen zurück. Erst dadurch, daß die Re¬
formen im Orient unterblieben, ist das daraus entspringende Unheil mehr und
mehr unerträglich geworden. Ein religiöser Druck ist von den Osmanen nie¬
mals auf die Unterworfnen geübt worden, doch fand auch in Europa, namentlich
in Albanien und Bosnien, häufig der Übertritt zur Religion der politischen
Herrscher statt.

Unter Suleiman II. dem Großen,') 1520 bis 1566, erreicht die türkische
Macht ihren Höhepunkt mit der Einnahme von Man und Bagdad, mit der
Besiegung von Venedig und der Eroberung Ungarns, nachdem sein Vater Selim
1517 Ägypten erobert und die Kalifenwürde angenommen hatte. Es ist sehr
merkwürdig, wie mit der irdischen Allmacht dieser unheilvollen Doppelwürde
auch das Verhängnis über das Osmanenreich und seine Dynastie hereinbricht.
Der noch in andern Anschauungen erzogne Suleiman wird als eine groß an¬
gelegte, ursprünglich milde und liebenswürdige Natur geschildert, verliert sich
aber gegen Ende seiner Regierung in Willkür. Mißtrauen und Frevelthaten;
sein Nachfolger Selim II. ist der erste Schwächling auf dem Throne, mit ihm
beginnt der Niedergang. Die Sultane geben den unedeln Eingebungen nach



-) Suleiman nennt sich: Kaiser der Kaiser, Fürst der Fürsten, Verteiler der Kronen der
Welt, Schatten Gottes über beide Erdteile, Beherrscher des Schwarze" und des Weißen Meeres,
von Asien und Europa,
Grenzboten I IM!) 4"
Islam und Zivilisation

Sultan Mohammed II., der Eroberer der Hauptstadt des Ostens, hat sein
Reich von der save bis zum Euphrat ausgedehnt und dessen Organisation
in den Grundzügen vollendet; auch als Gesetzgeber nimmt er eine ausgezeichnete
Stellung ein. In der politischen Verfassung wird vieles von den Griechen
einfach übernommen, nur daß sich die Osmanen durch ihre größere Schlichtheit
und Redlichkeit auszeichnen. Einteilung und Provinzialverwaltung hingen durch
das Lehnswesen eng mit den Kriegseinrichtungen zusammen; ursprünglich sind
die Lehen nicht erblich, vielmehr muß jeder Lehnsträger mit einem einfachen
Lehen seine Laufbahn beginnen. Über den Bevölkerungen der eroberten Länder
richten sich die Osmanen als eine wehrhafte Massenaristokratie ein, nicht un¬
ähnlich der sarmatischen Slachta in Polen. Bei der eigentümlichen Stellung
der muhammedanischen Ulemas, die geistliches und weltliches Recht sprechen,
lag die Auskunft nahe, auch der griechischen Geistlichkeit Regierung und Rechts¬
pflege ihrer Glaubensgenossen zu übertragen und nur die Besteuerung in
türkischen Händen zu lassen. Der Patriarch von Konstantinopel vertrat die
Stelle eines politischen Oberhauptes der Griechen. Freilich herrschten von Haus
aus schwere Übelstünde, unter denen die Verpachtung der Steuern und deren
Eintreibung durch die Pächter, sowie die ungemessenen und willkürlichen
Naturaldienste als hauptsächlichste zu nennen sind. Das ganze System zielt
weniger auf Verwaltung und Erziehung als auf Beherrschung und Ausbeutung,
steht indessen in all diesen Beziehungen noch nicht wesentlich hinter den gleich¬
zeitigen abendländischen Regierungssystemen zurück. Erst dadurch, daß die Re¬
formen im Orient unterblieben, ist das daraus entspringende Unheil mehr und
mehr unerträglich geworden. Ein religiöser Druck ist von den Osmanen nie¬
mals auf die Unterworfnen geübt worden, doch fand auch in Europa, namentlich
in Albanien und Bosnien, häufig der Übertritt zur Religion der politischen
Herrscher statt.

Unter Suleiman II. dem Großen,') 1520 bis 1566, erreicht die türkische
Macht ihren Höhepunkt mit der Einnahme von Man und Bagdad, mit der
Besiegung von Venedig und der Eroberung Ungarns, nachdem sein Vater Selim
1517 Ägypten erobert und die Kalifenwürde angenommen hatte. Es ist sehr
merkwürdig, wie mit der irdischen Allmacht dieser unheilvollen Doppelwürde
auch das Verhängnis über das Osmanenreich und seine Dynastie hereinbricht.
Der noch in andern Anschauungen erzogne Suleiman wird als eine groß an¬
gelegte, ursprünglich milde und liebenswürdige Natur geschildert, verliert sich
aber gegen Ende seiner Regierung in Willkür. Mißtrauen und Frevelthaten;
sein Nachfolger Selim II. ist der erste Schwächling auf dem Throne, mit ihm
beginnt der Niedergang. Die Sultane geben den unedeln Eingebungen nach



-) Suleiman nennt sich: Kaiser der Kaiser, Fürst der Fürsten, Verteiler der Kronen der
Welt, Schatten Gottes über beide Erdteile, Beherrscher des Schwarze» und des Weißen Meeres,
von Asien und Europa,
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[0385] Islam und Zivilisation Sultan Mohammed II., der Eroberer der Hauptstadt des Ostens, hat sein Reich von der save bis zum Euphrat ausgedehnt und dessen Organisation in den Grundzügen vollendet; auch als Gesetzgeber nimmt er eine ausgezeichnete Stellung ein. In der politischen Verfassung wird vieles von den Griechen einfach übernommen, nur daß sich die Osmanen durch ihre größere Schlichtheit und Redlichkeit auszeichnen. Einteilung und Provinzialverwaltung hingen durch das Lehnswesen eng mit den Kriegseinrichtungen zusammen; ursprünglich sind die Lehen nicht erblich, vielmehr muß jeder Lehnsträger mit einem einfachen Lehen seine Laufbahn beginnen. Über den Bevölkerungen der eroberten Länder richten sich die Osmanen als eine wehrhafte Massenaristokratie ein, nicht un¬ ähnlich der sarmatischen Slachta in Polen. Bei der eigentümlichen Stellung der muhammedanischen Ulemas, die geistliches und weltliches Recht sprechen, lag die Auskunft nahe, auch der griechischen Geistlichkeit Regierung und Rechts¬ pflege ihrer Glaubensgenossen zu übertragen und nur die Besteuerung in türkischen Händen zu lassen. Der Patriarch von Konstantinopel vertrat die Stelle eines politischen Oberhauptes der Griechen. Freilich herrschten von Haus aus schwere Übelstünde, unter denen die Verpachtung der Steuern und deren Eintreibung durch die Pächter, sowie die ungemessenen und willkürlichen Naturaldienste als hauptsächlichste zu nennen sind. Das ganze System zielt weniger auf Verwaltung und Erziehung als auf Beherrschung und Ausbeutung, steht indessen in all diesen Beziehungen noch nicht wesentlich hinter den gleich¬ zeitigen abendländischen Regierungssystemen zurück. Erst dadurch, daß die Re¬ formen im Orient unterblieben, ist das daraus entspringende Unheil mehr und mehr unerträglich geworden. Ein religiöser Druck ist von den Osmanen nie¬ mals auf die Unterworfnen geübt worden, doch fand auch in Europa, namentlich in Albanien und Bosnien, häufig der Übertritt zur Religion der politischen Herrscher statt. Unter Suleiman II. dem Großen,') 1520 bis 1566, erreicht die türkische Macht ihren Höhepunkt mit der Einnahme von Man und Bagdad, mit der Besiegung von Venedig und der Eroberung Ungarns, nachdem sein Vater Selim 1517 Ägypten erobert und die Kalifenwürde angenommen hatte. Es ist sehr merkwürdig, wie mit der irdischen Allmacht dieser unheilvollen Doppelwürde auch das Verhängnis über das Osmanenreich und seine Dynastie hereinbricht. Der noch in andern Anschauungen erzogne Suleiman wird als eine groß an¬ gelegte, ursprünglich milde und liebenswürdige Natur geschildert, verliert sich aber gegen Ende seiner Regierung in Willkür. Mißtrauen und Frevelthaten; sein Nachfolger Selim II. ist der erste Schwächling auf dem Throne, mit ihm beginnt der Niedergang. Die Sultane geben den unedeln Eingebungen nach -) Suleiman nennt sich: Kaiser der Kaiser, Fürst der Fürsten, Verteiler der Kronen der Welt, Schatten Gottes über beide Erdteile, Beherrscher des Schwarze» und des Weißen Meeres, von Asien und Europa, Grenzboten I IM!) 4«

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/385>, abgerufen am 23.07.2024.