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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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und lassen diese allmählich zu ihrer andern Natur werden; die nun in den
Vordergrund tretenden Veziere können nicht den Staatswagen im Geleise halten,
da sie von der Laune des Herrn zu abhängig sind. Aber die allmächtige Selbst¬
herrlichkeit der Sultane ist eine Täuschung; innerhalb der Mauern des Serails
bildet sich ein selbständiges Interesse, das weder mit dem des Staates noch
mit dem des Sultans oder gar des Veziers zusammenfällt: es ist das Interesse
der Günstlinge, der Weiber und der mit vielen andern Entartungen aus dem
griechischen Byzanz überkommnen Eunuchen- Nur zu häufig ist der allmächtige
Despot von diesem Einfluß beherrscht, und dieser zeigt sich bis heute als einer
der tiefsten Krebsschäden des türkischen Reichs.

Nur selten noch zieht ein Sultan an der Spitze des Heeres zu Felde,
immer mehr schließen sich die Großherren in ihrem Harem ab. Durch die
Verheiratung von Schwestern, Töchtern und Sklavinnen an die Großen des
Reichs dringen die Sitten und der Aufwand des Serails auch in die Privat-
hüuser. Die Gerechtigkeit und die Ämter werden käuflich; weil alles aber von
den Launen des Herrschers abhing und jederzeit verloren gehen konnte, so er¬
folgte allenthalben Tyrannei und Erpressung. Stambul wuchs an, aber es
wurde zum Wasserkopf des Reiches, wie es Konstantinopel im oströmischen,
Rom im weströmischen Reiche gewesen war, während die Provinzen verfielen.

Im ersten Drittel des siebzehnten Jahrhunderts sind die Lehnseinrichtungen
in der Türkei wie im westlichen Europa gänzlich entartet; gleichzeitig bricht
der innere Kampf mit den zu zuchtlosen Prätoricmern gewordnen Janitscharen
um die höchste Gewalt im Staate aus. Dieser Kampf hat im osmanischen
Reiche mehr als zwei Jahrhunderte gedauert und ist erst 1826 durch die Ver¬
nichtung der Janitscharen beendet worden. Mehr als ein andrer Vorgang hat
dieser lange innere Kampf zum Niedergang des Reiches beigetragen. Während
des haben die Deutschen und die Perser von Westen und Osten her die An¬
griffskraft der Türken gebrochen. Nachdem 1622 und 1648 zwei Sultane den
Janitscharen zum Opfer gefallen waren, folgt die Zeit der mächtigsten Veziere.
Der Zug auf Wien 1683 und dessen Eroberung war bestimmt, die wichtigsten
innern Reformen einzuleiten; das Mißlingen der Unternehmung stürzte das
Vezierat in seiner Bedeutung und beschleunigte den Verfall. Nach weitern
dreizehnjährigen Kämpfen besiegelt die entscheidende Schlacht bei Zerda an der
Theiß die Niederlage der Türken. Infolge der Schlacht wird das türkische
Hauptlager von Belgrad nach Adrianopel zurückverlegt, der Diwan erkennt die
Notwendigkeit, Friede" zu schließen, und nimmt die Vermittlung Englands und
Hollands an.

Der Friede von Karlowitz 16W bezeichnet einen großen Wendepunkt der
Geschichte. Die Osmanen hören auf, von Tributen zu reden, unterwerfen sich
regelmäßiger Unterhandlung und erkennen zum erstenmale ein für alle gleich¬
müßiges Recht an. Die abendländische Gesittung beginnt in der Türkei ein-


und lassen diese allmählich zu ihrer andern Natur werden; die nun in den
Vordergrund tretenden Veziere können nicht den Staatswagen im Geleise halten,
da sie von der Laune des Herrn zu abhängig sind. Aber die allmächtige Selbst¬
herrlichkeit der Sultane ist eine Täuschung; innerhalb der Mauern des Serails
bildet sich ein selbständiges Interesse, das weder mit dem des Staates noch
mit dem des Sultans oder gar des Veziers zusammenfällt: es ist das Interesse
der Günstlinge, der Weiber und der mit vielen andern Entartungen aus dem
griechischen Byzanz überkommnen Eunuchen- Nur zu häufig ist der allmächtige
Despot von diesem Einfluß beherrscht, und dieser zeigt sich bis heute als einer
der tiefsten Krebsschäden des türkischen Reichs.

Nur selten noch zieht ein Sultan an der Spitze des Heeres zu Felde,
immer mehr schließen sich die Großherren in ihrem Harem ab. Durch die
Verheiratung von Schwestern, Töchtern und Sklavinnen an die Großen des
Reichs dringen die Sitten und der Aufwand des Serails auch in die Privat-
hüuser. Die Gerechtigkeit und die Ämter werden käuflich; weil alles aber von
den Launen des Herrschers abhing und jederzeit verloren gehen konnte, so er¬
folgte allenthalben Tyrannei und Erpressung. Stambul wuchs an, aber es
wurde zum Wasserkopf des Reiches, wie es Konstantinopel im oströmischen,
Rom im weströmischen Reiche gewesen war, während die Provinzen verfielen.

Im ersten Drittel des siebzehnten Jahrhunderts sind die Lehnseinrichtungen
in der Türkei wie im westlichen Europa gänzlich entartet; gleichzeitig bricht
der innere Kampf mit den zu zuchtlosen Prätoricmern gewordnen Janitscharen
um die höchste Gewalt im Staate aus. Dieser Kampf hat im osmanischen
Reiche mehr als zwei Jahrhunderte gedauert und ist erst 1826 durch die Ver¬
nichtung der Janitscharen beendet worden. Mehr als ein andrer Vorgang hat
dieser lange innere Kampf zum Niedergang des Reiches beigetragen. Während
des haben die Deutschen und die Perser von Westen und Osten her die An¬
griffskraft der Türken gebrochen. Nachdem 1622 und 1648 zwei Sultane den
Janitscharen zum Opfer gefallen waren, folgt die Zeit der mächtigsten Veziere.
Der Zug auf Wien 1683 und dessen Eroberung war bestimmt, die wichtigsten
innern Reformen einzuleiten; das Mißlingen der Unternehmung stürzte das
Vezierat in seiner Bedeutung und beschleunigte den Verfall. Nach weitern
dreizehnjährigen Kämpfen besiegelt die entscheidende Schlacht bei Zerda an der
Theiß die Niederlage der Türken. Infolge der Schlacht wird das türkische
Hauptlager von Belgrad nach Adrianopel zurückverlegt, der Diwan erkennt die
Notwendigkeit, Friede» zu schließen, und nimmt die Vermittlung Englands und
Hollands an.

Der Friede von Karlowitz 16W bezeichnet einen großen Wendepunkt der
Geschichte. Die Osmanen hören auf, von Tributen zu reden, unterwerfen sich
regelmäßiger Unterhandlung und erkennen zum erstenmale ein für alle gleich¬
müßiges Recht an. Die abendländische Gesittung beginnt in der Türkei ein-


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[0386] und lassen diese allmählich zu ihrer andern Natur werden; die nun in den Vordergrund tretenden Veziere können nicht den Staatswagen im Geleise halten, da sie von der Laune des Herrn zu abhängig sind. Aber die allmächtige Selbst¬ herrlichkeit der Sultane ist eine Täuschung; innerhalb der Mauern des Serails bildet sich ein selbständiges Interesse, das weder mit dem des Staates noch mit dem des Sultans oder gar des Veziers zusammenfällt: es ist das Interesse der Günstlinge, der Weiber und der mit vielen andern Entartungen aus dem griechischen Byzanz überkommnen Eunuchen- Nur zu häufig ist der allmächtige Despot von diesem Einfluß beherrscht, und dieser zeigt sich bis heute als einer der tiefsten Krebsschäden des türkischen Reichs. Nur selten noch zieht ein Sultan an der Spitze des Heeres zu Felde, immer mehr schließen sich die Großherren in ihrem Harem ab. Durch die Verheiratung von Schwestern, Töchtern und Sklavinnen an die Großen des Reichs dringen die Sitten und der Aufwand des Serails auch in die Privat- hüuser. Die Gerechtigkeit und die Ämter werden käuflich; weil alles aber von den Launen des Herrschers abhing und jederzeit verloren gehen konnte, so er¬ folgte allenthalben Tyrannei und Erpressung. Stambul wuchs an, aber es wurde zum Wasserkopf des Reiches, wie es Konstantinopel im oströmischen, Rom im weströmischen Reiche gewesen war, während die Provinzen verfielen. Im ersten Drittel des siebzehnten Jahrhunderts sind die Lehnseinrichtungen in der Türkei wie im westlichen Europa gänzlich entartet; gleichzeitig bricht der innere Kampf mit den zu zuchtlosen Prätoricmern gewordnen Janitscharen um die höchste Gewalt im Staate aus. Dieser Kampf hat im osmanischen Reiche mehr als zwei Jahrhunderte gedauert und ist erst 1826 durch die Ver¬ nichtung der Janitscharen beendet worden. Mehr als ein andrer Vorgang hat dieser lange innere Kampf zum Niedergang des Reiches beigetragen. Während des haben die Deutschen und die Perser von Westen und Osten her die An¬ griffskraft der Türken gebrochen. Nachdem 1622 und 1648 zwei Sultane den Janitscharen zum Opfer gefallen waren, folgt die Zeit der mächtigsten Veziere. Der Zug auf Wien 1683 und dessen Eroberung war bestimmt, die wichtigsten innern Reformen einzuleiten; das Mißlingen der Unternehmung stürzte das Vezierat in seiner Bedeutung und beschleunigte den Verfall. Nach weitern dreizehnjährigen Kämpfen besiegelt die entscheidende Schlacht bei Zerda an der Theiß die Niederlage der Türken. Infolge der Schlacht wird das türkische Hauptlager von Belgrad nach Adrianopel zurückverlegt, der Diwan erkennt die Notwendigkeit, Friede» zu schließen, und nimmt die Vermittlung Englands und Hollands an. Der Friede von Karlowitz 16W bezeichnet einen großen Wendepunkt der Geschichte. Die Osmanen hören auf, von Tributen zu reden, unterwerfen sich regelmäßiger Unterhandlung und erkennen zum erstenmale ein für alle gleich¬ müßiges Recht an. Die abendländische Gesittung beginnt in der Türkei ein-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/386>, abgerufen am 23.07.2024.