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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Reinhold

Gute ist Gott; da nun das Gute von allen begehrt wird, so streben alle zu
Gott hin."*)

Unter den Mächten aber, die den von Natur auf das Gute gerichteten
Willen irre führen, steht obenan der religiöse Aberglaube, der den Fana¬
tismus erzeugt. In der Christenheit hat die von Henkerphantasien ausgemalte
Hölle eine krankhafte Begier erzeugt, einmal durch Selbstpeinigung der ver¬
meintlichen ewigen Pein zu entgehn, andrerseits den Nächsten durch Peinigung
seines sterblichen Leibes der ewigen Qual zu entreißen. Dadurch hat man
sich an Grausamkeit gewöhnt, hat die ganze Justiz vergiftet und barbarisch
gemacht, und ist endlich im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert auf die
Stufe jener asiatischen Länder hinabgesunken, wohin der Lichtgott Apollo die
Furien verweisen will, dahin, wie Äschylus ihn sagen läßt, wo mörder-
köpfendes, augauswühlendcs Gericht wütet, wo Gemetzel, frevle Fehlgeburt,
Entmannung, Schändung an der Tagesordnung sind, wo Aufgespießte jammer-
laut, Gesteinigte verröchelnd wimmern; auf eine Stufe, die das Griechenvolk
in der homerischen Zeit beinah, in der des Perikles vollständig überwunden
hatte, wofern es sich überhaupt einmal darauf befunden haben sollte. Poly-
bius erzählt in seinem ersten Buch die in dem Kriege der Karthager gegen
ihre aufständischen Mietsoldaten verübten Greuel mit dem bei einem Hellenen
selbstverständlichen Abscheu. Guichard aber, ein von Friedrich dem Großen
hochgeschätzter Militärschriftsteller, meint in einer seiner Abhandlungen zu dieser
Erzählung, die Anführer jener afrikanischen Horden seien nur Stümper in der
Grausamkeit gewesen, verglichen mit dem päpstlichen Feldherrn Serbelloni, wie
er sich bei der Einnahme von Orange bewiesen habe, und dem Kalvinisten-
führer Baron des Adrets, der für die Unthaten dieses Mannes Vergeltung
geübt habe. Und das ist nur ein Fall unter unzähligen andern, weit be¬
kanntem und weit ärgern Fällen. Nur ein geistiger Kampf, der das Christen¬
tum selbst in seinen Grundfesten erschütterte, war imstande, den Greueln ein
Ende zu machen, für die das gotteslästerlich gemißbrauchte Evangelium hatte
den Vorwand**) abgeben müssen, und die verschüttete Humanität wieder aus-
zugraben. Solchen Verirrungen gegenüber hat die sokratische Lehre recht, daß
das Böse aus Irrtümern des Verstandes hervorgehe und durch Belehrung ge¬
hoben werden könne. Natürlich gilt das nicht bloß von den großen weit-




*) Lio iAitur, anco n-nur", sun, gxonts dominuw -ulmi aä rsrum xulvkrarum oxxs-
iitionoiu oxoit-lueur. Illnä fulva xroxris voi'vizuo xulolirnw ost !i.t(zns vxxotoucium ot ama-
Ki!o> <mi<I<z>lie1 ssi bonum; bonus ost Dsus; czuoct autsm donum 08t, 1ä ad omnibus sx-
Petituri si'A" Oouw sxpstnnt omnia.
Nachdem den Europäern grausames Wüten Bedürfnis geworden war, bedürfte es nicht
mehr des Antriebes durch irrige religiöse Vorstellungen! diese gaben fortan nur noch den Bor¬
wand ab für die Unthaten, die man um ihrer selbst willen wollte.
Grenzboten I 1899 45
Reinhold

Gute ist Gott; da nun das Gute von allen begehrt wird, so streben alle zu
Gott hin."*)

Unter den Mächten aber, die den von Natur auf das Gute gerichteten
Willen irre führen, steht obenan der religiöse Aberglaube, der den Fana¬
tismus erzeugt. In der Christenheit hat die von Henkerphantasien ausgemalte
Hölle eine krankhafte Begier erzeugt, einmal durch Selbstpeinigung der ver¬
meintlichen ewigen Pein zu entgehn, andrerseits den Nächsten durch Peinigung
seines sterblichen Leibes der ewigen Qual zu entreißen. Dadurch hat man
sich an Grausamkeit gewöhnt, hat die ganze Justiz vergiftet und barbarisch
gemacht, und ist endlich im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert auf die
Stufe jener asiatischen Länder hinabgesunken, wohin der Lichtgott Apollo die
Furien verweisen will, dahin, wie Äschylus ihn sagen läßt, wo mörder-
köpfendes, augauswühlendcs Gericht wütet, wo Gemetzel, frevle Fehlgeburt,
Entmannung, Schändung an der Tagesordnung sind, wo Aufgespießte jammer-
laut, Gesteinigte verröchelnd wimmern; auf eine Stufe, die das Griechenvolk
in der homerischen Zeit beinah, in der des Perikles vollständig überwunden
hatte, wofern es sich überhaupt einmal darauf befunden haben sollte. Poly-
bius erzählt in seinem ersten Buch die in dem Kriege der Karthager gegen
ihre aufständischen Mietsoldaten verübten Greuel mit dem bei einem Hellenen
selbstverständlichen Abscheu. Guichard aber, ein von Friedrich dem Großen
hochgeschätzter Militärschriftsteller, meint in einer seiner Abhandlungen zu dieser
Erzählung, die Anführer jener afrikanischen Horden seien nur Stümper in der
Grausamkeit gewesen, verglichen mit dem päpstlichen Feldherrn Serbelloni, wie
er sich bei der Einnahme von Orange bewiesen habe, und dem Kalvinisten-
führer Baron des Adrets, der für die Unthaten dieses Mannes Vergeltung
geübt habe. Und das ist nur ein Fall unter unzähligen andern, weit be¬
kanntem und weit ärgern Fällen. Nur ein geistiger Kampf, der das Christen¬
tum selbst in seinen Grundfesten erschütterte, war imstande, den Greueln ein
Ende zu machen, für die das gotteslästerlich gemißbrauchte Evangelium hatte
den Vorwand**) abgeben müssen, und die verschüttete Humanität wieder aus-
zugraben. Solchen Verirrungen gegenüber hat die sokratische Lehre recht, daß
das Böse aus Irrtümern des Verstandes hervorgehe und durch Belehrung ge¬
hoben werden könne. Natürlich gilt das nicht bloß von den großen weit-




*) Lio iAitur, anco n-nur«, sun, gxonts dominuw -ulmi aä rsrum xulvkrarum oxxs-
iitionoiu oxoit-lueur. Illnä fulva xroxris voi'vizuo xulolirnw ost !i.t(zns vxxotoucium ot ama-
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Nachdem den Europäern grausames Wüten Bedürfnis geworden war, bedürfte es nicht
mehr des Antriebes durch irrige religiöse Vorstellungen! diese gaben fortan nur noch den Bor¬
wand ab für die Unthaten, die man um ihrer selbst willen wollte.
Grenzboten I 1899 45
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[0361] Reinhold Gute ist Gott; da nun das Gute von allen begehrt wird, so streben alle zu Gott hin."*) Unter den Mächten aber, die den von Natur auf das Gute gerichteten Willen irre führen, steht obenan der religiöse Aberglaube, der den Fana¬ tismus erzeugt. In der Christenheit hat die von Henkerphantasien ausgemalte Hölle eine krankhafte Begier erzeugt, einmal durch Selbstpeinigung der ver¬ meintlichen ewigen Pein zu entgehn, andrerseits den Nächsten durch Peinigung seines sterblichen Leibes der ewigen Qual zu entreißen. Dadurch hat man sich an Grausamkeit gewöhnt, hat die ganze Justiz vergiftet und barbarisch gemacht, und ist endlich im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert auf die Stufe jener asiatischen Länder hinabgesunken, wohin der Lichtgott Apollo die Furien verweisen will, dahin, wie Äschylus ihn sagen läßt, wo mörder- köpfendes, augauswühlendcs Gericht wütet, wo Gemetzel, frevle Fehlgeburt, Entmannung, Schändung an der Tagesordnung sind, wo Aufgespießte jammer- laut, Gesteinigte verröchelnd wimmern; auf eine Stufe, die das Griechenvolk in der homerischen Zeit beinah, in der des Perikles vollständig überwunden hatte, wofern es sich überhaupt einmal darauf befunden haben sollte. Poly- bius erzählt in seinem ersten Buch die in dem Kriege der Karthager gegen ihre aufständischen Mietsoldaten verübten Greuel mit dem bei einem Hellenen selbstverständlichen Abscheu. Guichard aber, ein von Friedrich dem Großen hochgeschätzter Militärschriftsteller, meint in einer seiner Abhandlungen zu dieser Erzählung, die Anführer jener afrikanischen Horden seien nur Stümper in der Grausamkeit gewesen, verglichen mit dem päpstlichen Feldherrn Serbelloni, wie er sich bei der Einnahme von Orange bewiesen habe, und dem Kalvinisten- führer Baron des Adrets, der für die Unthaten dieses Mannes Vergeltung geübt habe. Und das ist nur ein Fall unter unzähligen andern, weit be¬ kanntem und weit ärgern Fällen. Nur ein geistiger Kampf, der das Christen¬ tum selbst in seinen Grundfesten erschütterte, war imstande, den Greueln ein Ende zu machen, für die das gotteslästerlich gemißbrauchte Evangelium hatte den Vorwand**) abgeben müssen, und die verschüttete Humanität wieder aus- zugraben. Solchen Verirrungen gegenüber hat die sokratische Lehre recht, daß das Böse aus Irrtümern des Verstandes hervorgehe und durch Belehrung ge¬ hoben werden könne. Natürlich gilt das nicht bloß von den großen weit- *) Lio iAitur, anco n-nur«, sun, gxonts dominuw -ulmi aä rsrum xulvkrarum oxxs- iitionoiu oxoit-lueur. Illnä fulva xroxris voi'vizuo xulolirnw ost !i.t(zns vxxotoucium ot ama- Ki!o> <mi<I<z>lie1 ssi bonum; bonus ost Dsus; czuoct autsm donum 08t, 1ä ad omnibus sx- Petituri si'A» Oouw sxpstnnt omnia. Nachdem den Europäern grausames Wüten Bedürfnis geworden war, bedürfte es nicht mehr des Antriebes durch irrige religiöse Vorstellungen! diese gaben fortan nur noch den Bor¬ wand ab für die Unthaten, die man um ihrer selbst willen wollte. Grenzboten I 1899 45

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/361>, abgerufen am 23.07.2024.