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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Reinhold

geschichtlichen Verirrungen, sondern auch von den unzähligen kleinen Jndivi-
dualirrtümern, wie sie das Alltagsleben mit sich bringt.

Allerdings aber reicht der Sokratismus zur Bekämpfung der Übel nicht
hin, weil es außer Unwissenheit und Irrtum noch eine zweite große welt¬
historische UnHeilquelle giebt: die sozialen und wirtschaftlichen Interessenkonflikte.
Daß jedes Wesen sich selbst zu erhalten streben muß, versteht sich von selbst;
das ist nichts Böses, das ist nur die immerwährende Offenbarung des Schöpfer-
Willens, der durch die allgemeine Verzichtleistung aufs Dasein, wie Schopen¬
hauer und Hartmann sie ihren Mitgeschöpfen gütigst empfehlen, aufgehoben
werden würde. Und dieser Wille der Selbsterhaltung und Selbstbehauptung
bedeutet keineswegs, wie sich Reinhold einbildet, die Verneinung,^) sondern
gerade die Bejahung der andern. Stellen wir uns einmal vor, es wäre
möglich, daß ein Mensch allein auf Erden leben könnte, und fragen wir einen be¬
liebigen nicht gar zu Dummen, ob er dieser eine Mensch sein möchte, so wird
er ohne Zögern antworten, daß er lieber gar nicht als allein auf der Welt
sein wolle; ein jeder bejaht sich selbst nur unter der Bedingung, daß auch
andre da seien; und die Stärke und Weite des Bedürfnisses, an der Förderung
des Lebens andrer thätig zu sein, giebt eben einen der Maßstäbe für die
Moralität des Menschen ab. Selbstbejahung und Bejahung der andern
schließen einander gegenseitig so ein, daß sie gar nicht von einander getrennt
gedacht werden können, und der theoretische Egoismus ist eben solcher Unsinn
wie der theoretische Altruismus. Was Christus als Gebot ausspricht: Du
sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst, ist nichts andres als der natür¬
liche Zustand und die natürliche Stimmung des Menschen und braucht gar
nicht geboten zu werden; jeder thuts, so gut oder so schlecht es die Umstünde
erlauben. Aber sie erlauben es leider meistens nur in sehr beschränktem Maße;
die Einheit von 6Zc> und alter wird dnrch die Interessenkonflikte vielfach gestört
und zuweilen ganz aufgelöst und in einen feindseligen Gegensatz verkehrt. Am
schärfsten tritt dieser Gegensatz hervor in einer Panik, wo sich auch die edelsten
und sanftmütigsten Menschen wie wilde Tiere benehmen. Nun giebt es soziale
und wirtschaftliche Zustände, die keine scharfen Interessenkonflikte hervorbringen,
ein solcher ist der des reinen Vauernstaats; in ihm kommt es gar nicht vor,
daß des einen Gedeihen oder gar des einen Dasein vom Untergange des
andern abhinge; dem Bauern schadet es gar nichts, wenn seines Nachbars
Weizen und Vieh gedeiht. Dagegen schadet es dem Krämer, dem Schuster
sehr viel, wenn seine Kunden zum Nachbar laufen, und seitdem sich alle Pro¬
duzenten in Warenverkäufer verwandelt haben, trägt der Konkurrenzkampf der
Kulturstaaten vielfach das Gepräge einer Panik, wo jeder der Pflicht der



') "Die Bejahung des Willens im Ich ist eine Verneinung des Lebens aller andern,"
S. M7. Wer einen solchen Unsinn im Ernste zu behaupten fähig ist, der gehört nicht auf
einen Lehrstuhl, sondern in eine Nervenheilanstalt.
Reinhold

geschichtlichen Verirrungen, sondern auch von den unzähligen kleinen Jndivi-
dualirrtümern, wie sie das Alltagsleben mit sich bringt.

Allerdings aber reicht der Sokratismus zur Bekämpfung der Übel nicht
hin, weil es außer Unwissenheit und Irrtum noch eine zweite große welt¬
historische UnHeilquelle giebt: die sozialen und wirtschaftlichen Interessenkonflikte.
Daß jedes Wesen sich selbst zu erhalten streben muß, versteht sich von selbst;
das ist nichts Böses, das ist nur die immerwährende Offenbarung des Schöpfer-
Willens, der durch die allgemeine Verzichtleistung aufs Dasein, wie Schopen¬
hauer und Hartmann sie ihren Mitgeschöpfen gütigst empfehlen, aufgehoben
werden würde. Und dieser Wille der Selbsterhaltung und Selbstbehauptung
bedeutet keineswegs, wie sich Reinhold einbildet, die Verneinung,^) sondern
gerade die Bejahung der andern. Stellen wir uns einmal vor, es wäre
möglich, daß ein Mensch allein auf Erden leben könnte, und fragen wir einen be¬
liebigen nicht gar zu Dummen, ob er dieser eine Mensch sein möchte, so wird
er ohne Zögern antworten, daß er lieber gar nicht als allein auf der Welt
sein wolle; ein jeder bejaht sich selbst nur unter der Bedingung, daß auch
andre da seien; und die Stärke und Weite des Bedürfnisses, an der Förderung
des Lebens andrer thätig zu sein, giebt eben einen der Maßstäbe für die
Moralität des Menschen ab. Selbstbejahung und Bejahung der andern
schließen einander gegenseitig so ein, daß sie gar nicht von einander getrennt
gedacht werden können, und der theoretische Egoismus ist eben solcher Unsinn
wie der theoretische Altruismus. Was Christus als Gebot ausspricht: Du
sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst, ist nichts andres als der natür¬
liche Zustand und die natürliche Stimmung des Menschen und braucht gar
nicht geboten zu werden; jeder thuts, so gut oder so schlecht es die Umstünde
erlauben. Aber sie erlauben es leider meistens nur in sehr beschränktem Maße;
die Einheit von 6Zc> und alter wird dnrch die Interessenkonflikte vielfach gestört
und zuweilen ganz aufgelöst und in einen feindseligen Gegensatz verkehrt. Am
schärfsten tritt dieser Gegensatz hervor in einer Panik, wo sich auch die edelsten
und sanftmütigsten Menschen wie wilde Tiere benehmen. Nun giebt es soziale
und wirtschaftliche Zustände, die keine scharfen Interessenkonflikte hervorbringen,
ein solcher ist der des reinen Vauernstaats; in ihm kommt es gar nicht vor,
daß des einen Gedeihen oder gar des einen Dasein vom Untergange des
andern abhinge; dem Bauern schadet es gar nichts, wenn seines Nachbars
Weizen und Vieh gedeiht. Dagegen schadet es dem Krämer, dem Schuster
sehr viel, wenn seine Kunden zum Nachbar laufen, und seitdem sich alle Pro¬
duzenten in Warenverkäufer verwandelt haben, trägt der Konkurrenzkampf der
Kulturstaaten vielfach das Gepräge einer Panik, wo jeder der Pflicht der



') „Die Bejahung des Willens im Ich ist eine Verneinung des Lebens aller andern,"
S. M7. Wer einen solchen Unsinn im Ernste zu behaupten fähig ist, der gehört nicht auf
einen Lehrstuhl, sondern in eine Nervenheilanstalt.
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[0362] Reinhold geschichtlichen Verirrungen, sondern auch von den unzähligen kleinen Jndivi- dualirrtümern, wie sie das Alltagsleben mit sich bringt. Allerdings aber reicht der Sokratismus zur Bekämpfung der Übel nicht hin, weil es außer Unwissenheit und Irrtum noch eine zweite große welt¬ historische UnHeilquelle giebt: die sozialen und wirtschaftlichen Interessenkonflikte. Daß jedes Wesen sich selbst zu erhalten streben muß, versteht sich von selbst; das ist nichts Böses, das ist nur die immerwährende Offenbarung des Schöpfer- Willens, der durch die allgemeine Verzichtleistung aufs Dasein, wie Schopen¬ hauer und Hartmann sie ihren Mitgeschöpfen gütigst empfehlen, aufgehoben werden würde. Und dieser Wille der Selbsterhaltung und Selbstbehauptung bedeutet keineswegs, wie sich Reinhold einbildet, die Verneinung,^) sondern gerade die Bejahung der andern. Stellen wir uns einmal vor, es wäre möglich, daß ein Mensch allein auf Erden leben könnte, und fragen wir einen be¬ liebigen nicht gar zu Dummen, ob er dieser eine Mensch sein möchte, so wird er ohne Zögern antworten, daß er lieber gar nicht als allein auf der Welt sein wolle; ein jeder bejaht sich selbst nur unter der Bedingung, daß auch andre da seien; und die Stärke und Weite des Bedürfnisses, an der Förderung des Lebens andrer thätig zu sein, giebt eben einen der Maßstäbe für die Moralität des Menschen ab. Selbstbejahung und Bejahung der andern schließen einander gegenseitig so ein, daß sie gar nicht von einander getrennt gedacht werden können, und der theoretische Egoismus ist eben solcher Unsinn wie der theoretische Altruismus. Was Christus als Gebot ausspricht: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst, ist nichts andres als der natür¬ liche Zustand und die natürliche Stimmung des Menschen und braucht gar nicht geboten zu werden; jeder thuts, so gut oder so schlecht es die Umstünde erlauben. Aber sie erlauben es leider meistens nur in sehr beschränktem Maße; die Einheit von 6Zc> und alter wird dnrch die Interessenkonflikte vielfach gestört und zuweilen ganz aufgelöst und in einen feindseligen Gegensatz verkehrt. Am schärfsten tritt dieser Gegensatz hervor in einer Panik, wo sich auch die edelsten und sanftmütigsten Menschen wie wilde Tiere benehmen. Nun giebt es soziale und wirtschaftliche Zustände, die keine scharfen Interessenkonflikte hervorbringen, ein solcher ist der des reinen Vauernstaats; in ihm kommt es gar nicht vor, daß des einen Gedeihen oder gar des einen Dasein vom Untergange des andern abhinge; dem Bauern schadet es gar nichts, wenn seines Nachbars Weizen und Vieh gedeiht. Dagegen schadet es dem Krämer, dem Schuster sehr viel, wenn seine Kunden zum Nachbar laufen, und seitdem sich alle Pro¬ duzenten in Warenverkäufer verwandelt haben, trägt der Konkurrenzkampf der Kulturstaaten vielfach das Gepräge einer Panik, wo jeder der Pflicht der ') „Die Bejahung des Willens im Ich ist eine Verneinung des Lebens aller andern," S. M7. Wer einen solchen Unsinn im Ernste zu behaupten fähig ist, der gehört nicht auf einen Lehrstuhl, sondern in eine Nervenheilanstalt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/362>, abgerufen am 23.07.2024.