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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Reinhold

Rein hold kennt den Menschen nicht. Dieser ist kein so bösartiges Tier.
Du lieber Gott! Was doch der Mensch für ein armes, gutes Tier ist! ruft
Goethe einmal. Leute, die ohne Entgelt schenken und helfen (wenn man nicht
etwa schon die damit verbundne Befriedigung eines Herzensdranges als
Entgelt bezeichnen will), habe ich in meinem Leben genug kennen gelernt, und
wenn sie hente seltner geworden sein sollten, so ließe sich das aus gewissen
Umständen leicht erklären. Da es sich hier nicht bloß um eine, sondern um
die Kardinalfrage des Daseins handelt, so wird man mir wohl erlaube",
meine Ansicht darüber noch einmal kurz auszusprechen.

Es sind bekanntlich die Schrecken erregenden und die dem Menschen Leid
zufügenden Naturerscheinungen gewesen, was die Vorstellung von bösen Göttern
erzeugt hat. Im Parsismus, den der Manichäismus beerbt hat, ist der
Versuch gemacht worden, die guten und die schlimmen Wirkungen in zwei
von einander gesonderte Kategorien zu bringen und jede dieser beiden Kate¬
gorien auf ein UrWesen zurückzuführen. Die kirchliche Teufelslehre ist zaghaft
abgeschwächter Manichäismus. Auf die Weisheit der Inder zurückgehend, hat
Schopenhauer einen neuen Versuch der Schematisierung unternommen, indem
er den Willen als die Quelle alles Übels, die Vorstellung oder Idee oder den
Intellekt als das Mittel der Erlösung vom Übel darstellt. Alle solche Sche-
matisierungsversuche scheitern an der täglichen Erfahrung, daß jedes Ding, es
mag heißen Geist oder Fleisch, Wille oder Verstand, Armut oder Reichtum
oder sonstwie, je nach Umständen bald Gutes und bald Böses wirkt. Was
sittlich gut und was sittlich böse sei, darüber gehn ja die Meinungen sehr
weit aus einander, aber darin dürften die meisten übereinstimmen, daß sie
Schädigungen des Nächsten aus Selbstsucht böse nennen. Nun bin ich mit
den Hellenen überzeugt, daß niemand von Natur die Neigung zu solchem
Bösen hat. Den Teufel oder sonst ein böses Wesen für den Urheber der Welt
halten, das kann uur ein Fieberkranker. Ist aber die Welt Geschöpf oder
Sclbstoffenbarung eines guten Gottes, dann ist auch der Weltwille gut, sowohl
in seinem Grunde wie in seinen einzelnen Äußerungen, und das Böse kann
nur eine Wirkung der Schranken und der Konflikte sein, die der Jndividua-
tionsprozeß mit sich bringt. Dieser Ansicht ist auch der große Augustinus
gewesen, ehe ihn der Kampf gegen Pelagius in die krasse Erbsündlehre hinein¬
trieb. So lange er den Manichäismus bekämpfte, war er überzeugt, daß der
Mensch nur das Gute wolle, das sittlich Böse daher nichts sei, als ein durch
täuschende Erscheinungen verschuldetes Vergreifen im Objekt. Und der Kirchen¬
vater Basilius, der Große genannt, schreibt (ein befreundeter Theologe hatte
mir zufallig gerade, ehe ich Reinhold zur Hand nahm, die Stelle in lateinischer
Übersetzung mitgeteilt): "So werden die Menschenseelen durch ihre eigne Natur
angetrieben, das Schöne zu begehren. Wahrhaft und im eigentlichen Sinne
schön, daher begehrens- und liebenswürdig, ist aber nur das Gute, und das


Reinhold

Rein hold kennt den Menschen nicht. Dieser ist kein so bösartiges Tier.
Du lieber Gott! Was doch der Mensch für ein armes, gutes Tier ist! ruft
Goethe einmal. Leute, die ohne Entgelt schenken und helfen (wenn man nicht
etwa schon die damit verbundne Befriedigung eines Herzensdranges als
Entgelt bezeichnen will), habe ich in meinem Leben genug kennen gelernt, und
wenn sie hente seltner geworden sein sollten, so ließe sich das aus gewissen
Umständen leicht erklären. Da es sich hier nicht bloß um eine, sondern um
die Kardinalfrage des Daseins handelt, so wird man mir wohl erlaube»,
meine Ansicht darüber noch einmal kurz auszusprechen.

Es sind bekanntlich die Schrecken erregenden und die dem Menschen Leid
zufügenden Naturerscheinungen gewesen, was die Vorstellung von bösen Göttern
erzeugt hat. Im Parsismus, den der Manichäismus beerbt hat, ist der
Versuch gemacht worden, die guten und die schlimmen Wirkungen in zwei
von einander gesonderte Kategorien zu bringen und jede dieser beiden Kate¬
gorien auf ein UrWesen zurückzuführen. Die kirchliche Teufelslehre ist zaghaft
abgeschwächter Manichäismus. Auf die Weisheit der Inder zurückgehend, hat
Schopenhauer einen neuen Versuch der Schematisierung unternommen, indem
er den Willen als die Quelle alles Übels, die Vorstellung oder Idee oder den
Intellekt als das Mittel der Erlösung vom Übel darstellt. Alle solche Sche-
matisierungsversuche scheitern an der täglichen Erfahrung, daß jedes Ding, es
mag heißen Geist oder Fleisch, Wille oder Verstand, Armut oder Reichtum
oder sonstwie, je nach Umständen bald Gutes und bald Böses wirkt. Was
sittlich gut und was sittlich böse sei, darüber gehn ja die Meinungen sehr
weit aus einander, aber darin dürften die meisten übereinstimmen, daß sie
Schädigungen des Nächsten aus Selbstsucht böse nennen. Nun bin ich mit
den Hellenen überzeugt, daß niemand von Natur die Neigung zu solchem
Bösen hat. Den Teufel oder sonst ein böses Wesen für den Urheber der Welt
halten, das kann uur ein Fieberkranker. Ist aber die Welt Geschöpf oder
Sclbstoffenbarung eines guten Gottes, dann ist auch der Weltwille gut, sowohl
in seinem Grunde wie in seinen einzelnen Äußerungen, und das Böse kann
nur eine Wirkung der Schranken und der Konflikte sein, die der Jndividua-
tionsprozeß mit sich bringt. Dieser Ansicht ist auch der große Augustinus
gewesen, ehe ihn der Kampf gegen Pelagius in die krasse Erbsündlehre hinein¬
trieb. So lange er den Manichäismus bekämpfte, war er überzeugt, daß der
Mensch nur das Gute wolle, das sittlich Böse daher nichts sei, als ein durch
täuschende Erscheinungen verschuldetes Vergreifen im Objekt. Und der Kirchen¬
vater Basilius, der Große genannt, schreibt (ein befreundeter Theologe hatte
mir zufallig gerade, ehe ich Reinhold zur Hand nahm, die Stelle in lateinischer
Übersetzung mitgeteilt): „So werden die Menschenseelen durch ihre eigne Natur
angetrieben, das Schöne zu begehren. Wahrhaft und im eigentlichen Sinne
schön, daher begehrens- und liebenswürdig, ist aber nur das Gute, und das


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[0360] Reinhold Rein hold kennt den Menschen nicht. Dieser ist kein so bösartiges Tier. Du lieber Gott! Was doch der Mensch für ein armes, gutes Tier ist! ruft Goethe einmal. Leute, die ohne Entgelt schenken und helfen (wenn man nicht etwa schon die damit verbundne Befriedigung eines Herzensdranges als Entgelt bezeichnen will), habe ich in meinem Leben genug kennen gelernt, und wenn sie hente seltner geworden sein sollten, so ließe sich das aus gewissen Umständen leicht erklären. Da es sich hier nicht bloß um eine, sondern um die Kardinalfrage des Daseins handelt, so wird man mir wohl erlaube», meine Ansicht darüber noch einmal kurz auszusprechen. Es sind bekanntlich die Schrecken erregenden und die dem Menschen Leid zufügenden Naturerscheinungen gewesen, was die Vorstellung von bösen Göttern erzeugt hat. Im Parsismus, den der Manichäismus beerbt hat, ist der Versuch gemacht worden, die guten und die schlimmen Wirkungen in zwei von einander gesonderte Kategorien zu bringen und jede dieser beiden Kate¬ gorien auf ein UrWesen zurückzuführen. Die kirchliche Teufelslehre ist zaghaft abgeschwächter Manichäismus. Auf die Weisheit der Inder zurückgehend, hat Schopenhauer einen neuen Versuch der Schematisierung unternommen, indem er den Willen als die Quelle alles Übels, die Vorstellung oder Idee oder den Intellekt als das Mittel der Erlösung vom Übel darstellt. Alle solche Sche- matisierungsversuche scheitern an der täglichen Erfahrung, daß jedes Ding, es mag heißen Geist oder Fleisch, Wille oder Verstand, Armut oder Reichtum oder sonstwie, je nach Umständen bald Gutes und bald Böses wirkt. Was sittlich gut und was sittlich böse sei, darüber gehn ja die Meinungen sehr weit aus einander, aber darin dürften die meisten übereinstimmen, daß sie Schädigungen des Nächsten aus Selbstsucht böse nennen. Nun bin ich mit den Hellenen überzeugt, daß niemand von Natur die Neigung zu solchem Bösen hat. Den Teufel oder sonst ein böses Wesen für den Urheber der Welt halten, das kann uur ein Fieberkranker. Ist aber die Welt Geschöpf oder Sclbstoffenbarung eines guten Gottes, dann ist auch der Weltwille gut, sowohl in seinem Grunde wie in seinen einzelnen Äußerungen, und das Böse kann nur eine Wirkung der Schranken und der Konflikte sein, die der Jndividua- tionsprozeß mit sich bringt. Dieser Ansicht ist auch der große Augustinus gewesen, ehe ihn der Kampf gegen Pelagius in die krasse Erbsündlehre hinein¬ trieb. So lange er den Manichäismus bekämpfte, war er überzeugt, daß der Mensch nur das Gute wolle, das sittlich Böse daher nichts sei, als ein durch täuschende Erscheinungen verschuldetes Vergreifen im Objekt. Und der Kirchen¬ vater Basilius, der Große genannt, schreibt (ein befreundeter Theologe hatte mir zufallig gerade, ehe ich Reinhold zur Hand nahm, die Stelle in lateinischer Übersetzung mitgeteilt): „So werden die Menschenseelen durch ihre eigne Natur angetrieben, das Schöne zu begehren. Wahrhaft und im eigentlichen Sinne schön, daher begehrens- und liebenswürdig, ist aber nur das Gute, und das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/360>, abgerufen am 23.07.2024.