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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Die Fürsorge für entlassene Strafgefangne

in Lohn und Brot kommt. Das wird ja auch niemand überraschen, der unser
modernes Wirtschaftsleben kennt. Wenn heutzutage an den Anschlagsäulen zwei¬
hundert Erdarbeiter verlangt werden, so giebt der Schachtmeister einfach jedem,
der sich meldet, eine Schippe und läßt ihn in Gottes Namen buddeln, ohne erst
lange zu fragen, "woher er kam der Fahrt, noch wie sein Nam und Art." Ebenso
im Baugewerbe! Wenn ein Haus abgerissen oder aufgeführt werden soll, so
stellt der Polier einfach soviel Leute ein, wie er braucht, und wenn er dabei viel¬
leicht überflüssige Fragen thun wollte, so würden ihn die Arbeiter wahrscheinlich
sofort in eine Kiste packen und als Kuriosität ans städtische Museum schicken.
Und wie auf diesem, so auch auf allen anderen Gebieten, wo große Arbeiter¬
massen beschäftigt werden. Da fragt keine Seele nach der Vergangenheit des
Arbeitsuchenden; da heißt es einfach: Hier die Arbeit, da das Geld. Nichts
ist ja verkehrter als die Annahme, daß schon die jedesmalige Frage des Arbeit¬
gebers: "Wo haben Sie zuletzt in Arbeit gestanden?" immer gleich das Todes¬
urteil für den entlassenen Sträfling bedeute. In den weitaus meisten Fällen,
wo die Frage gestellt wird, ist es eine reine Gewohnheitsfrage, und wenn der
Mann nur aufs Geratewohl ein paar Namen nennt, so ist die Sache gewöhn¬
lich erledigt. Zeugnisse und Referenzen kommen doch heutzutage überhaupt nur
noch für Vertrauensstellungen in Frage, und diese seinen Schützlingen zu ver¬
schaffen ist auch ein solcher Verein niemals in der Lage. Übrigens ist aber
auch gerade die Zeugnisfrage für jeden, der Gefängnisluft geschluckt hat, ge¬
wöhnlich ohne jede ernste Bedeutung. Jeder praktische Polizeimann weiß, daß
in der Gauuerwelt nichts so schwunghaft betrieben wird als der Handel und
die Fabrikation falscher Arbeitsattestc. Durchschnittlich für 20 bis ij0 Pfennige
bekommt man in allen Herbergen von den "Flebbenmelochnern" schon Certi-
fikate, mit denen man sich getrost um einen Kassiererposten in der Neichsbank
bewerben könnte.

Die wunderschönen Zeugnisse, über die jeder gewiegte Gauner verfügt, bieten
denn auch gewöhnlich die einfachste Erklärung für die sonderbare Thatsache,
daß sich gerade Leute dieses Schlages gewöhnlich in überraschend kurzer Zeit
die schönsten, bequemsten und lohnendsten Arbeitsgelegenheiten zu verschaffen
wissen. Es giebt kaum einen größern Hohn auf die Phrase, daß ein bestrafter
Mensch nur durch Vermittlung edler Menschenfreunde wieder in Lohn und Brot
kommen könne, als die einfache Thatsache, daß ergraute Verbrecher, wenn sie sich
endlich genötigt sehen, ihr Handwerk an den Nagel zu hängen, mit Vorliebe
Stellenvermittlungsbureaus eröffnen. Wir haben in Berlin ein ganzes Rudel
solcher Agenten; "Plattenschieber" nennt sie die Gaunersprache, weil sie nament¬
lich die Besorgung landwirtschaftlicher Arbeiter schwunghaft betreiben. Für den
Kenner des Verbrecherlebens liegt auch in dieser Erscheinung nichts Auffallendes;
es war in diesen Kreisen immer ein eifrig gepflegter Sport, Gesinnungsgenossen
als Dienstboten oder Arbeiter in vornehmen Häusern und Geschäften zum Aus-


Die Fürsorge für entlassene Strafgefangne

in Lohn und Brot kommt. Das wird ja auch niemand überraschen, der unser
modernes Wirtschaftsleben kennt. Wenn heutzutage an den Anschlagsäulen zwei¬
hundert Erdarbeiter verlangt werden, so giebt der Schachtmeister einfach jedem,
der sich meldet, eine Schippe und läßt ihn in Gottes Namen buddeln, ohne erst
lange zu fragen, „woher er kam der Fahrt, noch wie sein Nam und Art." Ebenso
im Baugewerbe! Wenn ein Haus abgerissen oder aufgeführt werden soll, so
stellt der Polier einfach soviel Leute ein, wie er braucht, und wenn er dabei viel¬
leicht überflüssige Fragen thun wollte, so würden ihn die Arbeiter wahrscheinlich
sofort in eine Kiste packen und als Kuriosität ans städtische Museum schicken.
Und wie auf diesem, so auch auf allen anderen Gebieten, wo große Arbeiter¬
massen beschäftigt werden. Da fragt keine Seele nach der Vergangenheit des
Arbeitsuchenden; da heißt es einfach: Hier die Arbeit, da das Geld. Nichts
ist ja verkehrter als die Annahme, daß schon die jedesmalige Frage des Arbeit¬
gebers: „Wo haben Sie zuletzt in Arbeit gestanden?" immer gleich das Todes¬
urteil für den entlassenen Sträfling bedeute. In den weitaus meisten Fällen,
wo die Frage gestellt wird, ist es eine reine Gewohnheitsfrage, und wenn der
Mann nur aufs Geratewohl ein paar Namen nennt, so ist die Sache gewöhn¬
lich erledigt. Zeugnisse und Referenzen kommen doch heutzutage überhaupt nur
noch für Vertrauensstellungen in Frage, und diese seinen Schützlingen zu ver¬
schaffen ist auch ein solcher Verein niemals in der Lage. Übrigens ist aber
auch gerade die Zeugnisfrage für jeden, der Gefängnisluft geschluckt hat, ge¬
wöhnlich ohne jede ernste Bedeutung. Jeder praktische Polizeimann weiß, daß
in der Gauuerwelt nichts so schwunghaft betrieben wird als der Handel und
die Fabrikation falscher Arbeitsattestc. Durchschnittlich für 20 bis ij0 Pfennige
bekommt man in allen Herbergen von den „Flebbenmelochnern" schon Certi-
fikate, mit denen man sich getrost um einen Kassiererposten in der Neichsbank
bewerben könnte.

Die wunderschönen Zeugnisse, über die jeder gewiegte Gauner verfügt, bieten
denn auch gewöhnlich die einfachste Erklärung für die sonderbare Thatsache,
daß sich gerade Leute dieses Schlages gewöhnlich in überraschend kurzer Zeit
die schönsten, bequemsten und lohnendsten Arbeitsgelegenheiten zu verschaffen
wissen. Es giebt kaum einen größern Hohn auf die Phrase, daß ein bestrafter
Mensch nur durch Vermittlung edler Menschenfreunde wieder in Lohn und Brot
kommen könne, als die einfache Thatsache, daß ergraute Verbrecher, wenn sie sich
endlich genötigt sehen, ihr Handwerk an den Nagel zu hängen, mit Vorliebe
Stellenvermittlungsbureaus eröffnen. Wir haben in Berlin ein ganzes Rudel
solcher Agenten; „Plattenschieber" nennt sie die Gaunersprache, weil sie nament¬
lich die Besorgung landwirtschaftlicher Arbeiter schwunghaft betreiben. Für den
Kenner des Verbrecherlebens liegt auch in dieser Erscheinung nichts Auffallendes;
es war in diesen Kreisen immer ein eifrig gepflegter Sport, Gesinnungsgenossen
als Dienstboten oder Arbeiter in vornehmen Häusern und Geschäften zum Aus-


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[0262] Die Fürsorge für entlassene Strafgefangne in Lohn und Brot kommt. Das wird ja auch niemand überraschen, der unser modernes Wirtschaftsleben kennt. Wenn heutzutage an den Anschlagsäulen zwei¬ hundert Erdarbeiter verlangt werden, so giebt der Schachtmeister einfach jedem, der sich meldet, eine Schippe und läßt ihn in Gottes Namen buddeln, ohne erst lange zu fragen, „woher er kam der Fahrt, noch wie sein Nam und Art." Ebenso im Baugewerbe! Wenn ein Haus abgerissen oder aufgeführt werden soll, so stellt der Polier einfach soviel Leute ein, wie er braucht, und wenn er dabei viel¬ leicht überflüssige Fragen thun wollte, so würden ihn die Arbeiter wahrscheinlich sofort in eine Kiste packen und als Kuriosität ans städtische Museum schicken. Und wie auf diesem, so auch auf allen anderen Gebieten, wo große Arbeiter¬ massen beschäftigt werden. Da fragt keine Seele nach der Vergangenheit des Arbeitsuchenden; da heißt es einfach: Hier die Arbeit, da das Geld. Nichts ist ja verkehrter als die Annahme, daß schon die jedesmalige Frage des Arbeit¬ gebers: „Wo haben Sie zuletzt in Arbeit gestanden?" immer gleich das Todes¬ urteil für den entlassenen Sträfling bedeute. In den weitaus meisten Fällen, wo die Frage gestellt wird, ist es eine reine Gewohnheitsfrage, und wenn der Mann nur aufs Geratewohl ein paar Namen nennt, so ist die Sache gewöhn¬ lich erledigt. Zeugnisse und Referenzen kommen doch heutzutage überhaupt nur noch für Vertrauensstellungen in Frage, und diese seinen Schützlingen zu ver¬ schaffen ist auch ein solcher Verein niemals in der Lage. Übrigens ist aber auch gerade die Zeugnisfrage für jeden, der Gefängnisluft geschluckt hat, ge¬ wöhnlich ohne jede ernste Bedeutung. Jeder praktische Polizeimann weiß, daß in der Gauuerwelt nichts so schwunghaft betrieben wird als der Handel und die Fabrikation falscher Arbeitsattestc. Durchschnittlich für 20 bis ij0 Pfennige bekommt man in allen Herbergen von den „Flebbenmelochnern" schon Certi- fikate, mit denen man sich getrost um einen Kassiererposten in der Neichsbank bewerben könnte. Die wunderschönen Zeugnisse, über die jeder gewiegte Gauner verfügt, bieten denn auch gewöhnlich die einfachste Erklärung für die sonderbare Thatsache, daß sich gerade Leute dieses Schlages gewöhnlich in überraschend kurzer Zeit die schönsten, bequemsten und lohnendsten Arbeitsgelegenheiten zu verschaffen wissen. Es giebt kaum einen größern Hohn auf die Phrase, daß ein bestrafter Mensch nur durch Vermittlung edler Menschenfreunde wieder in Lohn und Brot kommen könne, als die einfache Thatsache, daß ergraute Verbrecher, wenn sie sich endlich genötigt sehen, ihr Handwerk an den Nagel zu hängen, mit Vorliebe Stellenvermittlungsbureaus eröffnen. Wir haben in Berlin ein ganzes Rudel solcher Agenten; „Plattenschieber" nennt sie die Gaunersprache, weil sie nament¬ lich die Besorgung landwirtschaftlicher Arbeiter schwunghaft betreiben. Für den Kenner des Verbrecherlebens liegt auch in dieser Erscheinung nichts Auffallendes; es war in diesen Kreisen immer ein eifrig gepflegter Sport, Gesinnungsgenossen als Dienstboten oder Arbeiter in vornehmen Häusern und Geschäften zum Aus-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/262>, abgerufen am 23.07.2024.