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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Die Fürsorge für entlassene Strafgefangne

kundschaften einzuschmuggeln, und es kann also nicht weiter wunder nehmen,
wenn sie auch heute noch bei einer Stellenjagd gewöhnlich jedem andern Be¬
werber den Rang ablaufen. Wir sehen also, daß die Bestrafung selbst, wenn
jemand wirklich die Strafanstalt mit dem festen Vorsatz verläßt, sich durch ehr¬
liche Arbeit eine neue Existenz zu gründen, noch kein besonders großes Hindernis
dafür ist. Er wird sich freilich im Anfang bescheiden müssen und nach dem
greifen, was sich ihm gerade bietet; aber das müssen heutzutage auch tausend
und abertausend andre thun, auf deren Vergangenheit nicht der leiseste Makel
ruht- Daß ein solcher Makel, wenn er bekanntgeworden ist, den Kampf ums
Dasein etwas erschwert, soll gewiß nicht in Abrede gestellt werden, aber er
braucht ebeu in den weitaus meisten Fällen gar nicht bekannt zu werden, denn
die ewigen Lohnkümpfe unsrer Tage haben schon längst dahin geführt, daß sich
die Arbeitgeber im großen und ganzen alle überflüssigen Fragen nach der
moralischen Beschaffenheit der von ihnen beschäftigten Arbeiter abgewöhnt haben
und oft froh sind, wenn sie nur überhaupt Leute bekommen.

Ebenso wenig wie die Unternehmer kümmern sich aber anch die Kollegen
um die Vergangenheit des Arbeitsuchenden. Die tendenziösen Erzählungen von
menschenfreundlichen Fabrikanten, die es wirklich einmal mit einem Zucht¬
häusler versuchte", aber bald von ihren übrigen Arbeitern gezwungen wurden,
ihn wieder zu entlassen, weil sie sich in moralischer Entrüstung weigerten, mit
einem solchen Menschen zusammen zu arbeiten, können eben nur solche Leute
glauben, die das Arbeiterleben gar nicht kennen. Das Gefängnis ist heutzu¬
tage in der großstädtischen Arbeiterbevölkerung geradezu populär geworden;
dafür haben namentlich die zahlreichen Sozialistenprozesse mit ihrer zwei¬
schneidigen Wirkung gesorgt. Jeder Gefängnisbeamte weiß, wie bei der demon¬
strativen Abholung dieser Duodezverschwörer oftmals Taschendiebe und Paletot¬
marder von Hunderten ganz rechtlicher Arbeiter in einer Weise gefeiert worden
sind, als wären sie die edelsten Märtyrer der Freiheit gewesen, während doch
ihr ganzes Verdienst nur darin bestand, daß sie zufällig mit dem "Genossen"
zugleich entlassen wurden.

Die Vereine zur Fürsorge für entlassene Strafgefangne sind also mindestens
überflüssig, denn wer wirklich das Gefängnis mit dem festen Vorsatz verläßt,
sich wieder ehrliche Arbeit zu suchen, der wird doch nicht so dumm sein, sich
an einen solchen Verein zu wenden, dessen Vermittlung seine Vergangenheit
an die große Glocke hängt, während er sie andrerseits weder seinem Arbeit¬
geber noch seinen Kollegen auf die Nase zu binden braucht. Denn daß eine
solche offizielle Brandmarkung das Einleben in neue Verhältnisse nicht gerade
besonders erleichtert, ist klar. Dazu kommt nun noch, daß die Stellen, über
die ein solcher Verein gewöhnlich verfügt, für einen tüchtigen Arbeiter durchaus
nichts Verlockendes haben. Meist sind es ländliche Arbeitsgelegenheiten. Um
solche Stellen zu erhalten, braucht man sich aber wahrlich nicht erst an die


Die Fürsorge für entlassene Strafgefangne

kundschaften einzuschmuggeln, und es kann also nicht weiter wunder nehmen,
wenn sie auch heute noch bei einer Stellenjagd gewöhnlich jedem andern Be¬
werber den Rang ablaufen. Wir sehen also, daß die Bestrafung selbst, wenn
jemand wirklich die Strafanstalt mit dem festen Vorsatz verläßt, sich durch ehr¬
liche Arbeit eine neue Existenz zu gründen, noch kein besonders großes Hindernis
dafür ist. Er wird sich freilich im Anfang bescheiden müssen und nach dem
greifen, was sich ihm gerade bietet; aber das müssen heutzutage auch tausend
und abertausend andre thun, auf deren Vergangenheit nicht der leiseste Makel
ruht- Daß ein solcher Makel, wenn er bekanntgeworden ist, den Kampf ums
Dasein etwas erschwert, soll gewiß nicht in Abrede gestellt werden, aber er
braucht ebeu in den weitaus meisten Fällen gar nicht bekannt zu werden, denn
die ewigen Lohnkümpfe unsrer Tage haben schon längst dahin geführt, daß sich
die Arbeitgeber im großen und ganzen alle überflüssigen Fragen nach der
moralischen Beschaffenheit der von ihnen beschäftigten Arbeiter abgewöhnt haben
und oft froh sind, wenn sie nur überhaupt Leute bekommen.

Ebenso wenig wie die Unternehmer kümmern sich aber anch die Kollegen
um die Vergangenheit des Arbeitsuchenden. Die tendenziösen Erzählungen von
menschenfreundlichen Fabrikanten, die es wirklich einmal mit einem Zucht¬
häusler versuchte», aber bald von ihren übrigen Arbeitern gezwungen wurden,
ihn wieder zu entlassen, weil sie sich in moralischer Entrüstung weigerten, mit
einem solchen Menschen zusammen zu arbeiten, können eben nur solche Leute
glauben, die das Arbeiterleben gar nicht kennen. Das Gefängnis ist heutzu¬
tage in der großstädtischen Arbeiterbevölkerung geradezu populär geworden;
dafür haben namentlich die zahlreichen Sozialistenprozesse mit ihrer zwei¬
schneidigen Wirkung gesorgt. Jeder Gefängnisbeamte weiß, wie bei der demon¬
strativen Abholung dieser Duodezverschwörer oftmals Taschendiebe und Paletot¬
marder von Hunderten ganz rechtlicher Arbeiter in einer Weise gefeiert worden
sind, als wären sie die edelsten Märtyrer der Freiheit gewesen, während doch
ihr ganzes Verdienst nur darin bestand, daß sie zufällig mit dem „Genossen"
zugleich entlassen wurden.

Die Vereine zur Fürsorge für entlassene Strafgefangne sind also mindestens
überflüssig, denn wer wirklich das Gefängnis mit dem festen Vorsatz verläßt,
sich wieder ehrliche Arbeit zu suchen, der wird doch nicht so dumm sein, sich
an einen solchen Verein zu wenden, dessen Vermittlung seine Vergangenheit
an die große Glocke hängt, während er sie andrerseits weder seinem Arbeit¬
geber noch seinen Kollegen auf die Nase zu binden braucht. Denn daß eine
solche offizielle Brandmarkung das Einleben in neue Verhältnisse nicht gerade
besonders erleichtert, ist klar. Dazu kommt nun noch, daß die Stellen, über
die ein solcher Verein gewöhnlich verfügt, für einen tüchtigen Arbeiter durchaus
nichts Verlockendes haben. Meist sind es ländliche Arbeitsgelegenheiten. Um
solche Stellen zu erhalten, braucht man sich aber wahrlich nicht erst an die


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[0263] Die Fürsorge für entlassene Strafgefangne kundschaften einzuschmuggeln, und es kann also nicht weiter wunder nehmen, wenn sie auch heute noch bei einer Stellenjagd gewöhnlich jedem andern Be¬ werber den Rang ablaufen. Wir sehen also, daß die Bestrafung selbst, wenn jemand wirklich die Strafanstalt mit dem festen Vorsatz verläßt, sich durch ehr¬ liche Arbeit eine neue Existenz zu gründen, noch kein besonders großes Hindernis dafür ist. Er wird sich freilich im Anfang bescheiden müssen und nach dem greifen, was sich ihm gerade bietet; aber das müssen heutzutage auch tausend und abertausend andre thun, auf deren Vergangenheit nicht der leiseste Makel ruht- Daß ein solcher Makel, wenn er bekanntgeworden ist, den Kampf ums Dasein etwas erschwert, soll gewiß nicht in Abrede gestellt werden, aber er braucht ebeu in den weitaus meisten Fällen gar nicht bekannt zu werden, denn die ewigen Lohnkümpfe unsrer Tage haben schon längst dahin geführt, daß sich die Arbeitgeber im großen und ganzen alle überflüssigen Fragen nach der moralischen Beschaffenheit der von ihnen beschäftigten Arbeiter abgewöhnt haben und oft froh sind, wenn sie nur überhaupt Leute bekommen. Ebenso wenig wie die Unternehmer kümmern sich aber anch die Kollegen um die Vergangenheit des Arbeitsuchenden. Die tendenziösen Erzählungen von menschenfreundlichen Fabrikanten, die es wirklich einmal mit einem Zucht¬ häusler versuchte», aber bald von ihren übrigen Arbeitern gezwungen wurden, ihn wieder zu entlassen, weil sie sich in moralischer Entrüstung weigerten, mit einem solchen Menschen zusammen zu arbeiten, können eben nur solche Leute glauben, die das Arbeiterleben gar nicht kennen. Das Gefängnis ist heutzu¬ tage in der großstädtischen Arbeiterbevölkerung geradezu populär geworden; dafür haben namentlich die zahlreichen Sozialistenprozesse mit ihrer zwei¬ schneidigen Wirkung gesorgt. Jeder Gefängnisbeamte weiß, wie bei der demon¬ strativen Abholung dieser Duodezverschwörer oftmals Taschendiebe und Paletot¬ marder von Hunderten ganz rechtlicher Arbeiter in einer Weise gefeiert worden sind, als wären sie die edelsten Märtyrer der Freiheit gewesen, während doch ihr ganzes Verdienst nur darin bestand, daß sie zufällig mit dem „Genossen" zugleich entlassen wurden. Die Vereine zur Fürsorge für entlassene Strafgefangne sind also mindestens überflüssig, denn wer wirklich das Gefängnis mit dem festen Vorsatz verläßt, sich wieder ehrliche Arbeit zu suchen, der wird doch nicht so dumm sein, sich an einen solchen Verein zu wenden, dessen Vermittlung seine Vergangenheit an die große Glocke hängt, während er sie andrerseits weder seinem Arbeit¬ geber noch seinen Kollegen auf die Nase zu binden braucht. Denn daß eine solche offizielle Brandmarkung das Einleben in neue Verhältnisse nicht gerade besonders erleichtert, ist klar. Dazu kommt nun noch, daß die Stellen, über die ein solcher Verein gewöhnlich verfügt, für einen tüchtigen Arbeiter durchaus nichts Verlockendes haben. Meist sind es ländliche Arbeitsgelegenheiten. Um solche Stellen zu erhalten, braucht man sich aber wahrlich nicht erst an die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/263>, abgerufen am 23.07.2024.