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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Zwei Artikel zur Arbeiterwohnmigsfrage

wachsamer beansprucht. Wer soll dies überwachen und die Strafen aus K 79
erleiden, der Mieter oder der Vermieter? In solchen Fällen die Räumung
zu erzwingen, wäre eine Härte, die dem Arbeiter nicht zum Wohle, sondern
zum Unheil gereichte. Man könnte dies zwar in der Weise mildern, daß nicht
die ganze Familie hinaufgesetzt und obdachlos gemacht wird, vielmehr bloß
die überschießenden Glieder, die dem Asyle für Obdachlose oder dem Waisen¬
hause zuzuführen wären. Aber dieses Mittel wäre hart und grausam. Ganz
konsequent würde sich aus dieser Raumbestimmnng auch das Verbot ergeben,
den Luftraum durch nufgeuommne Gäste oder durch gehaltne Haustiere zu
verkümmern, d. h. dem kinderreichen Arbeiter eine Freude versagen, die
dem kinderarmer Berufsgenossen unbeanstandet erlaubt wird. Unter keinen
Umstanden darf es dem Ermessen der Polizei überlassen werden, über die
Wohnungen endgiltige Entscheidungen zu treffen, soll nicht eine besondre Ge¬
fahr geschaffen werden; vielmehr müßte die Entscheidung der Polizei im ge¬
ordneten Verfahren anfechtbar sein, wie der Verein "Reichswohnuugsgesetz" sich
die Organisation dreigliedrig als Bau- und Wohnungsrat, Wohnungsinspektor,
Reichswohnungsamt denkt, damit das Verwaltungsrecht auch hier Schutz gegen
Mißb H. rauch und Willkür bietet.


2

Zu der Frage der Wohnungsnot und Wohnungsreform liegt ein neues
Aktenstück vor, das zunächst zwar nur die Verhältnisse einer einzelnen Stadt
behandelt, aber eine weit darüber hinausgehende allgemeine Bedeutung be¬
ansprucht: die Flugschrift des Frankfurter Mietervereins über "Das Woh¬
nungselend und seine Abhilfe in Frankfurt a. M."*)

Dieser Verein hat im Herbste des vorigen Jahres eine Untersuchung der
Wohnungen in den ältesten Stadtteilen veranstaltet und legt nun das dabei
gewonnene Material über 215 Wohnungen, das nach den hauptsächlichsten Ge¬
sichtspunkten statistisch verarbeitet worden ist, in dieser Schrift vor. Beigefügt
sind im letzten Abschnitt praktische Vorschläge zur Abhilfe der Wohnungsnot,
die aus der Feder des auf diesem Gebiete sehr verdienten Dr. Karl von Mangoldt
stammen, und die wegen ihrer klaren und besonnenen Fassung ganz besondre
Beachtung verdienen.

Schon das Material an sich ist durch den Einblick, den es wieder einmal
in das Wohnungselend einer Großstadt thun läßt, von großem Interesse,
freilich auch betrübender Art. Mancher wird, wenn er die Schrift liest, staunen,
welche Zustände selbst in einer so reichen Stadt wie Frankfurt möglich sind,
einer Stadt überdies, die wegen ihrer öffentlichen und privaten sozialen Für-



Flugschriften des Frankfurter Mietervereins, Ur. 2, Dus Wohnungsclend und seine
Abhilfe in Frankfurt a, M, Frankfurt a, M,, Druck von Benno Schmidt, 1898. K0 Pfg.
Zwei Artikel zur Arbeiterwohnmigsfrage

wachsamer beansprucht. Wer soll dies überwachen und die Strafen aus K 79
erleiden, der Mieter oder der Vermieter? In solchen Fällen die Räumung
zu erzwingen, wäre eine Härte, die dem Arbeiter nicht zum Wohle, sondern
zum Unheil gereichte. Man könnte dies zwar in der Weise mildern, daß nicht
die ganze Familie hinaufgesetzt und obdachlos gemacht wird, vielmehr bloß
die überschießenden Glieder, die dem Asyle für Obdachlose oder dem Waisen¬
hause zuzuführen wären. Aber dieses Mittel wäre hart und grausam. Ganz
konsequent würde sich aus dieser Raumbestimmnng auch das Verbot ergeben,
den Luftraum durch nufgeuommne Gäste oder durch gehaltne Haustiere zu
verkümmern, d. h. dem kinderreichen Arbeiter eine Freude versagen, die
dem kinderarmer Berufsgenossen unbeanstandet erlaubt wird. Unter keinen
Umstanden darf es dem Ermessen der Polizei überlassen werden, über die
Wohnungen endgiltige Entscheidungen zu treffen, soll nicht eine besondre Ge¬
fahr geschaffen werden; vielmehr müßte die Entscheidung der Polizei im ge¬
ordneten Verfahren anfechtbar sein, wie der Verein „Reichswohnuugsgesetz" sich
die Organisation dreigliedrig als Bau- und Wohnungsrat, Wohnungsinspektor,
Reichswohnungsamt denkt, damit das Verwaltungsrecht auch hier Schutz gegen
Mißb H. rauch und Willkür bietet.


2

Zu der Frage der Wohnungsnot und Wohnungsreform liegt ein neues
Aktenstück vor, das zunächst zwar nur die Verhältnisse einer einzelnen Stadt
behandelt, aber eine weit darüber hinausgehende allgemeine Bedeutung be¬
ansprucht: die Flugschrift des Frankfurter Mietervereins über „Das Woh¬
nungselend und seine Abhilfe in Frankfurt a. M."*)

Dieser Verein hat im Herbste des vorigen Jahres eine Untersuchung der
Wohnungen in den ältesten Stadtteilen veranstaltet und legt nun das dabei
gewonnene Material über 215 Wohnungen, das nach den hauptsächlichsten Ge¬
sichtspunkten statistisch verarbeitet worden ist, in dieser Schrift vor. Beigefügt
sind im letzten Abschnitt praktische Vorschläge zur Abhilfe der Wohnungsnot,
die aus der Feder des auf diesem Gebiete sehr verdienten Dr. Karl von Mangoldt
stammen, und die wegen ihrer klaren und besonnenen Fassung ganz besondre
Beachtung verdienen.

Schon das Material an sich ist durch den Einblick, den es wieder einmal
in das Wohnungselend einer Großstadt thun läßt, von großem Interesse,
freilich auch betrübender Art. Mancher wird, wenn er die Schrift liest, staunen,
welche Zustände selbst in einer so reichen Stadt wie Frankfurt möglich sind,
einer Stadt überdies, die wegen ihrer öffentlichen und privaten sozialen Für-



Flugschriften des Frankfurter Mietervereins, Ur. 2, Dus Wohnungsclend und seine
Abhilfe in Frankfurt a, M, Frankfurt a, M,, Druck von Benno Schmidt, 1898. K0 Pfg.
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[0255] Zwei Artikel zur Arbeiterwohnmigsfrage wachsamer beansprucht. Wer soll dies überwachen und die Strafen aus K 79 erleiden, der Mieter oder der Vermieter? In solchen Fällen die Räumung zu erzwingen, wäre eine Härte, die dem Arbeiter nicht zum Wohle, sondern zum Unheil gereichte. Man könnte dies zwar in der Weise mildern, daß nicht die ganze Familie hinaufgesetzt und obdachlos gemacht wird, vielmehr bloß die überschießenden Glieder, die dem Asyle für Obdachlose oder dem Waisen¬ hause zuzuführen wären. Aber dieses Mittel wäre hart und grausam. Ganz konsequent würde sich aus dieser Raumbestimmnng auch das Verbot ergeben, den Luftraum durch nufgeuommne Gäste oder durch gehaltne Haustiere zu verkümmern, d. h. dem kinderreichen Arbeiter eine Freude versagen, die dem kinderarmer Berufsgenossen unbeanstandet erlaubt wird. Unter keinen Umstanden darf es dem Ermessen der Polizei überlassen werden, über die Wohnungen endgiltige Entscheidungen zu treffen, soll nicht eine besondre Ge¬ fahr geschaffen werden; vielmehr müßte die Entscheidung der Polizei im ge¬ ordneten Verfahren anfechtbar sein, wie der Verein „Reichswohnuugsgesetz" sich die Organisation dreigliedrig als Bau- und Wohnungsrat, Wohnungsinspektor, Reichswohnungsamt denkt, damit das Verwaltungsrecht auch hier Schutz gegen Mißb H. rauch und Willkür bietet. 2 Zu der Frage der Wohnungsnot und Wohnungsreform liegt ein neues Aktenstück vor, das zunächst zwar nur die Verhältnisse einer einzelnen Stadt behandelt, aber eine weit darüber hinausgehende allgemeine Bedeutung be¬ ansprucht: die Flugschrift des Frankfurter Mietervereins über „Das Woh¬ nungselend und seine Abhilfe in Frankfurt a. M."*) Dieser Verein hat im Herbste des vorigen Jahres eine Untersuchung der Wohnungen in den ältesten Stadtteilen veranstaltet und legt nun das dabei gewonnene Material über 215 Wohnungen, das nach den hauptsächlichsten Ge¬ sichtspunkten statistisch verarbeitet worden ist, in dieser Schrift vor. Beigefügt sind im letzten Abschnitt praktische Vorschläge zur Abhilfe der Wohnungsnot, die aus der Feder des auf diesem Gebiete sehr verdienten Dr. Karl von Mangoldt stammen, und die wegen ihrer klaren und besonnenen Fassung ganz besondre Beachtung verdienen. Schon das Material an sich ist durch den Einblick, den es wieder einmal in das Wohnungselend einer Großstadt thun läßt, von großem Interesse, freilich auch betrübender Art. Mancher wird, wenn er die Schrift liest, staunen, welche Zustände selbst in einer so reichen Stadt wie Frankfurt möglich sind, einer Stadt überdies, die wegen ihrer öffentlichen und privaten sozialen Für- Flugschriften des Frankfurter Mietervereins, Ur. 2, Dus Wohnungsclend und seine Abhilfe in Frankfurt a, M, Frankfurt a, M,, Druck von Benno Schmidt, 1898. K0 Pfg.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/255>, abgerufen am 23.07.2024.