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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Zwei Artikel zur Arbeiterwohnungsfrage

kommne Übereinstimmung beider in denk Bestreben erkennen, dem erwerbthätigen
Teile der Bevölkerung zu Wohnungen zu verhelfen, denen die zur Gesundung un¬
entbehrliche Menge von Luft und Licht zugeführt werden. Insoweit wird von
einer Prüfung der einzelnen vom Verein aufgestellten Sätze um so mehr Ab¬
stand genommen werden können, als er mit Fachkenntnis uneigennützig, vor¬
urteilsfrei, unbefangen die einschlägigen Verhältnisse geprüft und reiflich er¬
wogen hat, bevor eine Entscheidung getroffen wurde. Dennoch erscheint die
Festsetzung dieses geringsten Raumgehalts und Lichtzuflusfes für die einzelne
Person als unabweisbare Voraussetzung der Bewohnbarkeit von Räumen be¬
denklich. Man will doch ein Gesetz schaffen, das dem Wohle der arbeitenden
Bevölkerung dienen soll, und da müßte man zunächst verhüten, daß das Dar-
gebotne zum Danaergeschenk werden kann. Und gerade dies ist mit Wahr¬
scheinlichkeit zu befürchten. Wird nämlich die Thatsache berücksichtigt, daß das
Streben der arbeitenden Bevölkerung nach einem Normalarbeitstag und nach
einem Normalarbeitsverdienst zu dem Endergebnis führen muß, daß alle Berufs¬
arbeiter desselben Jndustriezweigs unter sich ein ziemlich gleiches Einkommen
haben müssen, daß also die Einkünfte eines Mannes mit großer Familie die¬
selben wie die eines Arbeiters mit kleiner sind, so kann "der kinderreiche Ar¬
beiter nicht mehr, eher weniger auf Mietzins verwenden, als sein kinderarmer
Berufsgenosse." Die Aussichten, eine geräumige, gute Wohnung zu bekommen,
sind für kinderreiche Arbeiter natürlich schwächer und ungünstiger als für den
kinderarmer. Aber gerade hierin liegt der Schwerpunkt der Bedenken gegen
das vorgeschlagne Prinzip, also der Widerspruch zwischen dem theoretischen
Gedanken und seiner praktischen Verwertung. Überwinden läßt sich diese
Schwierigkeit nur, wenn das Reich, der Staat, die Gemeinde oder Vereine
Mietgelasse Herrichten, die den gesetzlichen Voraussetzungen entsprechen und
kinderreichen Familien zu einem niedrigen Mietzinse überlassen werden, womit
man auf das hinauskommt, was Ferdinand Lassalle und Karl Marx als
Aufgaben des Zuknnftsstaats bezeichnen, auch Hertzka sich als Ziel seiner Frei¬
landträume vorstellt.

Abgesehen von diesem volkswirtschaftlichen Bedenken ist der Grundsatz im
Z 58 über die Räumung unzulänglicher Wohnungen schwer durchzuführen.
Zunächst pflegt erfahrungsgemäß das kinderreiche Familienoberhaupt beim
Mieter der Wohnung die Zahl seiner Kinder geringer anzugeben, um nicht
von vornherein den Vermieter abzuschrecken. Würde der geplante Grundsatz
gesetzliche Anerkennung finden, dann würde eine derartige wahrheitswidrige
Angabe ein straffälliger Betrug sein. Es müßten dem Mieter die gemieteten
Räume versagt, er also von vornherein obdachlos gemacht werden. Auch kann
in der Zeit, wo der Mietvertrag abgeschlossen wird, die Wohnung noch aus¬
reichend sein, was nicht mehr zuträfe, wenn sich durch Neugeburten die Zahl
der Familie vergrößert, oder eines der Kinder allmählich den Nciumgehalt Er-


Zwei Artikel zur Arbeiterwohnungsfrage

kommne Übereinstimmung beider in denk Bestreben erkennen, dem erwerbthätigen
Teile der Bevölkerung zu Wohnungen zu verhelfen, denen die zur Gesundung un¬
entbehrliche Menge von Luft und Licht zugeführt werden. Insoweit wird von
einer Prüfung der einzelnen vom Verein aufgestellten Sätze um so mehr Ab¬
stand genommen werden können, als er mit Fachkenntnis uneigennützig, vor¬
urteilsfrei, unbefangen die einschlägigen Verhältnisse geprüft und reiflich er¬
wogen hat, bevor eine Entscheidung getroffen wurde. Dennoch erscheint die
Festsetzung dieses geringsten Raumgehalts und Lichtzuflusfes für die einzelne
Person als unabweisbare Voraussetzung der Bewohnbarkeit von Räumen be¬
denklich. Man will doch ein Gesetz schaffen, das dem Wohle der arbeitenden
Bevölkerung dienen soll, und da müßte man zunächst verhüten, daß das Dar-
gebotne zum Danaergeschenk werden kann. Und gerade dies ist mit Wahr¬
scheinlichkeit zu befürchten. Wird nämlich die Thatsache berücksichtigt, daß das
Streben der arbeitenden Bevölkerung nach einem Normalarbeitstag und nach
einem Normalarbeitsverdienst zu dem Endergebnis führen muß, daß alle Berufs¬
arbeiter desselben Jndustriezweigs unter sich ein ziemlich gleiches Einkommen
haben müssen, daß also die Einkünfte eines Mannes mit großer Familie die¬
selben wie die eines Arbeiters mit kleiner sind, so kann „der kinderreiche Ar¬
beiter nicht mehr, eher weniger auf Mietzins verwenden, als sein kinderarmer
Berufsgenosse." Die Aussichten, eine geräumige, gute Wohnung zu bekommen,
sind für kinderreiche Arbeiter natürlich schwächer und ungünstiger als für den
kinderarmer. Aber gerade hierin liegt der Schwerpunkt der Bedenken gegen
das vorgeschlagne Prinzip, also der Widerspruch zwischen dem theoretischen
Gedanken und seiner praktischen Verwertung. Überwinden läßt sich diese
Schwierigkeit nur, wenn das Reich, der Staat, die Gemeinde oder Vereine
Mietgelasse Herrichten, die den gesetzlichen Voraussetzungen entsprechen und
kinderreichen Familien zu einem niedrigen Mietzinse überlassen werden, womit
man auf das hinauskommt, was Ferdinand Lassalle und Karl Marx als
Aufgaben des Zuknnftsstaats bezeichnen, auch Hertzka sich als Ziel seiner Frei¬
landträume vorstellt.

Abgesehen von diesem volkswirtschaftlichen Bedenken ist der Grundsatz im
Z 58 über die Räumung unzulänglicher Wohnungen schwer durchzuführen.
Zunächst pflegt erfahrungsgemäß das kinderreiche Familienoberhaupt beim
Mieter der Wohnung die Zahl seiner Kinder geringer anzugeben, um nicht
von vornherein den Vermieter abzuschrecken. Würde der geplante Grundsatz
gesetzliche Anerkennung finden, dann würde eine derartige wahrheitswidrige
Angabe ein straffälliger Betrug sein. Es müßten dem Mieter die gemieteten
Räume versagt, er also von vornherein obdachlos gemacht werden. Auch kann
in der Zeit, wo der Mietvertrag abgeschlossen wird, die Wohnung noch aus¬
reichend sein, was nicht mehr zuträfe, wenn sich durch Neugeburten die Zahl
der Familie vergrößert, oder eines der Kinder allmählich den Nciumgehalt Er-


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[0254] Zwei Artikel zur Arbeiterwohnungsfrage kommne Übereinstimmung beider in denk Bestreben erkennen, dem erwerbthätigen Teile der Bevölkerung zu Wohnungen zu verhelfen, denen die zur Gesundung un¬ entbehrliche Menge von Luft und Licht zugeführt werden. Insoweit wird von einer Prüfung der einzelnen vom Verein aufgestellten Sätze um so mehr Ab¬ stand genommen werden können, als er mit Fachkenntnis uneigennützig, vor¬ urteilsfrei, unbefangen die einschlägigen Verhältnisse geprüft und reiflich er¬ wogen hat, bevor eine Entscheidung getroffen wurde. Dennoch erscheint die Festsetzung dieses geringsten Raumgehalts und Lichtzuflusfes für die einzelne Person als unabweisbare Voraussetzung der Bewohnbarkeit von Räumen be¬ denklich. Man will doch ein Gesetz schaffen, das dem Wohle der arbeitenden Bevölkerung dienen soll, und da müßte man zunächst verhüten, daß das Dar- gebotne zum Danaergeschenk werden kann. Und gerade dies ist mit Wahr¬ scheinlichkeit zu befürchten. Wird nämlich die Thatsache berücksichtigt, daß das Streben der arbeitenden Bevölkerung nach einem Normalarbeitstag und nach einem Normalarbeitsverdienst zu dem Endergebnis führen muß, daß alle Berufs¬ arbeiter desselben Jndustriezweigs unter sich ein ziemlich gleiches Einkommen haben müssen, daß also die Einkünfte eines Mannes mit großer Familie die¬ selben wie die eines Arbeiters mit kleiner sind, so kann „der kinderreiche Ar¬ beiter nicht mehr, eher weniger auf Mietzins verwenden, als sein kinderarmer Berufsgenosse." Die Aussichten, eine geräumige, gute Wohnung zu bekommen, sind für kinderreiche Arbeiter natürlich schwächer und ungünstiger als für den kinderarmer. Aber gerade hierin liegt der Schwerpunkt der Bedenken gegen das vorgeschlagne Prinzip, also der Widerspruch zwischen dem theoretischen Gedanken und seiner praktischen Verwertung. Überwinden läßt sich diese Schwierigkeit nur, wenn das Reich, der Staat, die Gemeinde oder Vereine Mietgelasse Herrichten, die den gesetzlichen Voraussetzungen entsprechen und kinderreichen Familien zu einem niedrigen Mietzinse überlassen werden, womit man auf das hinauskommt, was Ferdinand Lassalle und Karl Marx als Aufgaben des Zuknnftsstaats bezeichnen, auch Hertzka sich als Ziel seiner Frei¬ landträume vorstellt. Abgesehen von diesem volkswirtschaftlichen Bedenken ist der Grundsatz im Z 58 über die Räumung unzulänglicher Wohnungen schwer durchzuführen. Zunächst pflegt erfahrungsgemäß das kinderreiche Familienoberhaupt beim Mieter der Wohnung die Zahl seiner Kinder geringer anzugeben, um nicht von vornherein den Vermieter abzuschrecken. Würde der geplante Grundsatz gesetzliche Anerkennung finden, dann würde eine derartige wahrheitswidrige Angabe ein straffälliger Betrug sein. Es müßten dem Mieter die gemieteten Räume versagt, er also von vornherein obdachlos gemacht werden. Auch kann in der Zeit, wo der Mietvertrag abgeschlossen wird, die Wohnung noch aus¬ reichend sein, was nicht mehr zuträfe, wenn sich durch Neugeburten die Zahl der Familie vergrößert, oder eines der Kinder allmählich den Nciumgehalt Er-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/254>, abgerufen am 23.07.2024.