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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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"Auch der sogenannte Naturalismus, sofern er poetische Rechte besaß, mußte
über die Nullen sort aus die große Eins losgehen. Das hat Gerhart Haupt¬
mann von vilen Anfang seiner steigenden Dichterkraft gefühlt und durch sein
drittes Drama in freier Herrschaft über die natürliche Kunstform erreicht."
Ein Wiener Kritiker hatte voll Bewunderung über die "Versunkene Glocke"
ausgerufen: "Wer hätte gedacht, daß uns die blaue Blume ans einem Mist¬
haufen wachsen werde." Schleuther ist der Ansicht, Hauptmann habe "den Dung,
der im Haushalte der Natur nicht unersprießlich ist, schon in seinem Erstlings¬
werk aufgebraucht." Also für dieses, für "Vor Sonnenaufgang" lehnt er doch
gelegentlich den Ausdruck "Misthaufen" nicht ganz ab, nur daß er ihn nach
seinem wirtschaftlichen Nutzen, nicht nach seinem Übeln Geruch und Aussehn
wertet!

Und die nun folgenden "Weber," die doch nach dieser Richtung auch
etwas anrüchig sind? Sie nennt Schlenther "eine große, weltumfassende littera¬
rische That," das Drama, "das wie kein andres aus den starken Wurzeln seiner
Kraft entstanden ist"! Was daran so hervorgehoben, so hoch bemertet wird,
ist natürlich wieder die genaue Nachahmung der Wirklichkeit, die historische
Treue. Die Darstellung Zimmermanns und die Berichte der Vossischen Zeitung
vom Jahre 1844 werden dafür zu Zeugen aufgerufen. Aber diese imponieren
nicht, weil der Kundige durchschaut, daß sie die Quellen des Dichters gewesen sein
werdeu, also in eigner Sache nichts bezeugen, nichts beweisen können- Es ist
aber im litterarischen Streit um die "Weber," der bei ihrem Erscheinen und
ihrer Aufführung entbrannte, längst nachgewiesen, daß ihre Darstellung einseitig,
lediglich vom Standpunkt der notleidenden Weber gemacht und keineswegs um¬
fassend und erschöpfend, ja in der Zeichnung des Geistlichen z. B. nicht ein¬
mal richtig ist. Wird das Werk also doch zum Teudenzwerk, so ist die Frage
nach seiner aufreizenden Wirkung nicht abzuweisen, und es ist interessant zu
sehen, wie listig sich Schlenther damit abzufinden weiß, und wie er dabei wieder
über die Haltlosigkeit seines Knnstprinzips stolpert. Wir setzen am besten seine
Worte ganz hierher: "Dennoch hat man das "Schauspiel aus den vierziger
Jahren" mit der Gegenwart in Beziehung gebracht und ihm vorgeworfen, es
predige den Aufruhr, es reize die unbefriedigten Massen zur Empörung gegen
Recht und Gesetz, es sei umstürzlerischer Tendenzen voll. Derartige Einwände, die
häufig zu polizeilichen Verboten der Theateraufführung verleitet haben und durch
eine weise Entscheidung des Königlichen Oberverwaltungsgerichts vom 2. Oktober
1893 widerlegt werden mußten, sind immer nur aus dem Stoff heraus
begründet worden. Niemals konnten sie einen Anhaltepunkt in der künstlerischen
Gestaltung finden.*) Was aber den Stoff betrifft, so sei nochmals auf das



Stoff ohne Form giebt es nicht. Hat aber je eine Zensurbehörde oder Polizei es mit
der Beurteilung der künstlerischen Form eines Werkes zu thun gehabt?

„Auch der sogenannte Naturalismus, sofern er poetische Rechte besaß, mußte
über die Nullen sort aus die große Eins losgehen. Das hat Gerhart Haupt¬
mann von vilen Anfang seiner steigenden Dichterkraft gefühlt und durch sein
drittes Drama in freier Herrschaft über die natürliche Kunstform erreicht."
Ein Wiener Kritiker hatte voll Bewunderung über die „Versunkene Glocke"
ausgerufen: „Wer hätte gedacht, daß uns die blaue Blume ans einem Mist¬
haufen wachsen werde." Schleuther ist der Ansicht, Hauptmann habe „den Dung,
der im Haushalte der Natur nicht unersprießlich ist, schon in seinem Erstlings¬
werk aufgebraucht." Also für dieses, für „Vor Sonnenaufgang" lehnt er doch
gelegentlich den Ausdruck „Misthaufen" nicht ganz ab, nur daß er ihn nach
seinem wirtschaftlichen Nutzen, nicht nach seinem Übeln Geruch und Aussehn
wertet!

Und die nun folgenden „Weber," die doch nach dieser Richtung auch
etwas anrüchig sind? Sie nennt Schlenther „eine große, weltumfassende littera¬
rische That," das Drama, „das wie kein andres aus den starken Wurzeln seiner
Kraft entstanden ist"! Was daran so hervorgehoben, so hoch bemertet wird,
ist natürlich wieder die genaue Nachahmung der Wirklichkeit, die historische
Treue. Die Darstellung Zimmermanns und die Berichte der Vossischen Zeitung
vom Jahre 1844 werden dafür zu Zeugen aufgerufen. Aber diese imponieren
nicht, weil der Kundige durchschaut, daß sie die Quellen des Dichters gewesen sein
werdeu, also in eigner Sache nichts bezeugen, nichts beweisen können- Es ist
aber im litterarischen Streit um die „Weber," der bei ihrem Erscheinen und
ihrer Aufführung entbrannte, längst nachgewiesen, daß ihre Darstellung einseitig,
lediglich vom Standpunkt der notleidenden Weber gemacht und keineswegs um¬
fassend und erschöpfend, ja in der Zeichnung des Geistlichen z. B. nicht ein¬
mal richtig ist. Wird das Werk also doch zum Teudenzwerk, so ist die Frage
nach seiner aufreizenden Wirkung nicht abzuweisen, und es ist interessant zu
sehen, wie listig sich Schlenther damit abzufinden weiß, und wie er dabei wieder
über die Haltlosigkeit seines Knnstprinzips stolpert. Wir setzen am besten seine
Worte ganz hierher: „Dennoch hat man das »Schauspiel aus den vierziger
Jahren« mit der Gegenwart in Beziehung gebracht und ihm vorgeworfen, es
predige den Aufruhr, es reize die unbefriedigten Massen zur Empörung gegen
Recht und Gesetz, es sei umstürzlerischer Tendenzen voll. Derartige Einwände, die
häufig zu polizeilichen Verboten der Theateraufführung verleitet haben und durch
eine weise Entscheidung des Königlichen Oberverwaltungsgerichts vom 2. Oktober
1893 widerlegt werden mußten, sind immer nur aus dem Stoff heraus
begründet worden. Niemals konnten sie einen Anhaltepunkt in der künstlerischen
Gestaltung finden.*) Was aber den Stoff betrifft, so sei nochmals auf das



Stoff ohne Form giebt es nicht. Hat aber je eine Zensurbehörde oder Polizei es mit
der Beurteilung der künstlerischen Form eines Werkes zu thun gehabt?
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/100>, abgerufen am 23.07.2024.