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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Gerhart Hauptmcin" und sein Biograph

historisch objektive Werk Alfred Zimmermanns hingewiesen usw. Niemals ist
diesem historisch-kritischen Werke eine aufrührerische und umstürzlerische Tendenz
nachgesagt worden. Ohne viel drüber nachzudenken, stellte man es wie jedes
andre Werk freier Forschung nnter den bekannten Verfassungsparagraphen: Die
Wissenschaft und ihre Lehre sind frei. Sollte nun, was der Wissenschaft recht
ist, der Kunst nicht billig sein? Sollte der Künstler, der Dichter nicht genau
so wie der Forscher das Recht haben, ohne viel nach Wiederhall und Tendenz
zu fragen, einen historisch beglaubigten Vorgang historisch treu darzustellen?
Sollte Hauptmann, der schlesische Weberenkel, ans die künstlerische Formulierung
eines Stoffes verzichten, der ihm seit seinen frühen Kindheitstagen aus den
Erzählungen des eignen Vaters ans mitleidvolle Herz gewachsen war? Nur
deshalb darauf verzichten, weil seine historisch treue Darstellung dieses Stoffes
zu aufreizenden Vergleichen mit der sozial bewegten Gegenwart unliebsamen
Anlaß geben könnte? Das hieße, dem Adler den Fittich stutzen!"

Hier tritt nun also der innere Widerspruch dieses Prinzips klar zu Tage,
Kunst ist eben nicht Geschichte, ist nicht Wissenschaft, ist weder dazu da, etwas
zu lehren noch etwas zu erweisen. Die Kunst ist durchaus aktuell, für die
Gegenwart bestimmt und muß nach ihrer Wirkung auf die Gemüter bemessen
werden, für die sie doch unmittelbar bestimmt ist. Die Geschichtsforscher haben
es nur zu thun mit der Wahrheit und Erkennbarkeit, ihr Organ ist der Ver¬
stand, unbeeinflußt durch andre Teile der Seele. Die Kunst dagegen hat
es mit der Wirkung auf Phantasie und Gemüt zu thun! Dem Anatom kann
das Widerwärtigste, Gemeinste, Ekelerregende Gegenstand der Forschung, der
Darstellung und der belehrenden Abbildung werden. Der Bildhauer darf es
darum noch nicht zur Statue, Gruppe oder zum Relief verwerten, und der
Dramatiker auch nicht. Denn die Künstler suchen die unmittelbare Wirkung
auf die Menge; das müssen sie bedenken, bei der Wahl ihres Stoffes wie bei
deren Gestaltung. Darin liegen die Schranken ihres Waltens. Diese lassen
sich freilich nicht gesetzlich paragraphieren. Die ästhetische Bildung des Dichters
und des Publikums, die Zeiten und die Umstände reden da ein Wort mit.
Aber die Grenzen selbst sind ohne Zweifel vorhanden. Freilich nicht für einen
Ästhetiker, der wie Schlenther bei Gelegenheit seiner Schwärmerei für die
"Weber" folgende Definitionen von Kunstwerk und Drama abgiebt: "Ein Kunst¬
werk ist ein Werk, das in sich eine Welt in bestimmter Form umschließt. . . .
Ein Drama aber ist eine Dichtung, die auf der Bühne wirkt." Von diesem
Standpunkt sind allerdings die "Weber" ein Kunstwerk und ein Drama! Und
wer das nicht anerkennt, ist in Schlenthers Augen ein "unlitterarischer Kunst¬
freund."

Über den "Kollegen Crampton" gehen bekanntlich die Ansichten auch unter
den ernst zu nehmenden Kritikern, die nicht unbedingte Parteigänger Haupt¬
manns sind, ziemlich weit aus einander. Manche verwerfen die Dichtung unter


Gerhart Hauptmcin» und sein Biograph

historisch objektive Werk Alfred Zimmermanns hingewiesen usw. Niemals ist
diesem historisch-kritischen Werke eine aufrührerische und umstürzlerische Tendenz
nachgesagt worden. Ohne viel drüber nachzudenken, stellte man es wie jedes
andre Werk freier Forschung nnter den bekannten Verfassungsparagraphen: Die
Wissenschaft und ihre Lehre sind frei. Sollte nun, was der Wissenschaft recht
ist, der Kunst nicht billig sein? Sollte der Künstler, der Dichter nicht genau
so wie der Forscher das Recht haben, ohne viel nach Wiederhall und Tendenz
zu fragen, einen historisch beglaubigten Vorgang historisch treu darzustellen?
Sollte Hauptmann, der schlesische Weberenkel, ans die künstlerische Formulierung
eines Stoffes verzichten, der ihm seit seinen frühen Kindheitstagen aus den
Erzählungen des eignen Vaters ans mitleidvolle Herz gewachsen war? Nur
deshalb darauf verzichten, weil seine historisch treue Darstellung dieses Stoffes
zu aufreizenden Vergleichen mit der sozial bewegten Gegenwart unliebsamen
Anlaß geben könnte? Das hieße, dem Adler den Fittich stutzen!"

Hier tritt nun also der innere Widerspruch dieses Prinzips klar zu Tage,
Kunst ist eben nicht Geschichte, ist nicht Wissenschaft, ist weder dazu da, etwas
zu lehren noch etwas zu erweisen. Die Kunst ist durchaus aktuell, für die
Gegenwart bestimmt und muß nach ihrer Wirkung auf die Gemüter bemessen
werden, für die sie doch unmittelbar bestimmt ist. Die Geschichtsforscher haben
es nur zu thun mit der Wahrheit und Erkennbarkeit, ihr Organ ist der Ver¬
stand, unbeeinflußt durch andre Teile der Seele. Die Kunst dagegen hat
es mit der Wirkung auf Phantasie und Gemüt zu thun! Dem Anatom kann
das Widerwärtigste, Gemeinste, Ekelerregende Gegenstand der Forschung, der
Darstellung und der belehrenden Abbildung werden. Der Bildhauer darf es
darum noch nicht zur Statue, Gruppe oder zum Relief verwerten, und der
Dramatiker auch nicht. Denn die Künstler suchen die unmittelbare Wirkung
auf die Menge; das müssen sie bedenken, bei der Wahl ihres Stoffes wie bei
deren Gestaltung. Darin liegen die Schranken ihres Waltens. Diese lassen
sich freilich nicht gesetzlich paragraphieren. Die ästhetische Bildung des Dichters
und des Publikums, die Zeiten und die Umstände reden da ein Wort mit.
Aber die Grenzen selbst sind ohne Zweifel vorhanden. Freilich nicht für einen
Ästhetiker, der wie Schlenther bei Gelegenheit seiner Schwärmerei für die
„Weber" folgende Definitionen von Kunstwerk und Drama abgiebt: „Ein Kunst¬
werk ist ein Werk, das in sich eine Welt in bestimmter Form umschließt. . . .
Ein Drama aber ist eine Dichtung, die auf der Bühne wirkt." Von diesem
Standpunkt sind allerdings die „Weber" ein Kunstwerk und ein Drama! Und
wer das nicht anerkennt, ist in Schlenthers Augen ein „unlitterarischer Kunst¬
freund."

Über den „Kollegen Crampton" gehen bekanntlich die Ansichten auch unter
den ernst zu nehmenden Kritikern, die nicht unbedingte Parteigänger Haupt¬
manns sind, ziemlich weit aus einander. Manche verwerfen die Dichtung unter


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/101>, abgerufen am 23.07.2024.