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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Gerhart Hauptmann "ut sein Biograph

Kraft, sich auf dem neuen schwankenden Grunde ein festes Gebäude aufzuführen,
sein haltloser Charakter ist dazu ungeeignet. Deshalb gerät er bei der ersten
Gelegenheit in einen für ihn unlöslichen Konflikt und geht zu Grunde. Diese
Auffassung widerstreitet natürlich der naturalistischen Anschauung Schlenthers.
Seine Abneigung gegen alle sittlichen oder gar christlichen Mächte kommt hier
deutlich zum Ausdruck. Er sieht die Hauptschuld auf feiten der alten frommen
Eltern, besonders der Mutter, die den Sohn auf die Gefahren hinweist, die
in seinem Verhältnis zu der fremden Studentin liegen. "Aus dem unrechten
Glauben (des Sohnes), sagt er, sieht diese "alte erfahrne Frau" in der Borniert¬
heit ihres Herzens unrechte Werke kommen; sie ruft sich ihren Mann zu Hilfe,
und die das Unrecht verhüten wollen, führen es herbei. Der Argwohn der
andern bringt erst etwas Gefährliches in dieses Verhältnis."

Das ist natürlich ganz schief und nur Sand in die Augen. Niemand, der
das Stück unbefangen steht, wird diesen Eindruck gewinnen. Nehmen wir ein¬
mal die Eltern ganz aus dem Drama heraus. Fassen wir bloß die drei Haupt¬
personen ins Auge: die gute, unbedeutende, aber herzige Frau, die die hoch¬
fliegenden Pläne und Ideen ihres Mannes nicht versteht, diesen Dr. Vockerath
felbst und das gelehrte und aufgeklärte Fräulein Anna Mähr. Wäre es nicht
auch so unausbleiblich zu einer Katastrophe gekommen? Oder sollen wir die
Lösung in einer Doppelehe suchen, einer geistigen und einer leiblichen? Offen¬
bar wird die Entscheidung nicht durch die in Schlenthers Augen engherzige,
altgläubige Mutter herbeigeführt, sondern sie wird durch sie nur beschleunigt.
Die alte, sittliche Weltanschauung und die Zukunftsmusik stoßen hier aufeinander,
und der Vertreter der letzten ist zu schwach, diesen Stoß auszuhalten. Das ist
seine eigne Schuld. Schlenther aber formuliert das so: "Ju der Widmung erklärt
Gerhart Hauptmann, er lege sein Drama in die Hände derjenigen, die es gelebt
haben. Schon damit deutet er an, daß nicht alle, die es lebten, wie Johannes
Vockerath, den Tod suchen. Die meisten kommen mit blauem Auge davon,
denn die meisten trösten sich und überwinden, resignieren und kompromittieren.
Aber unter Hunderten ist immer einer, der dran glauben muß, der die Schlu߬
folgerungen seines Schicksals zieht. Das ist dann, so individuell und besonders
sich dieses Schicksal auch gestalten mag, der typische Fall, das von der Natur
statuierte Exempel, die große einzige dichterische Eins, welche all die vielen
Zufallsnulleu der Wirklichkeit hinter sich her führt und ihnen erst den hohen
Nennwert giebt." Es erhellt, wie schief diese Auffassung ist. Sie stempelt
den I)r. Vockerath zu einem Helden, der ans Tapferkeit, aus innerer Tüchtig¬
keit die letzten Konferenzen zieht, indem er sich das Leben nimmt. Wir dagegen
sehen in ihm einen Schwächling, der das Leben von sich wirft, weil er nicht
die sittliche Kraft hat, sich mit seinen Realitäten abzufinden oder es nach seiner
Weise zu gestalten. Der Schlußsatz dieser Stelle aber ist beachtenswert, indem
er anerkennt, daß der Naturalismus als Kunstprinzip überwunden werden muß.


Gerhart Hauptmann »ut sein Biograph

Kraft, sich auf dem neuen schwankenden Grunde ein festes Gebäude aufzuführen,
sein haltloser Charakter ist dazu ungeeignet. Deshalb gerät er bei der ersten
Gelegenheit in einen für ihn unlöslichen Konflikt und geht zu Grunde. Diese
Auffassung widerstreitet natürlich der naturalistischen Anschauung Schlenthers.
Seine Abneigung gegen alle sittlichen oder gar christlichen Mächte kommt hier
deutlich zum Ausdruck. Er sieht die Hauptschuld auf feiten der alten frommen
Eltern, besonders der Mutter, die den Sohn auf die Gefahren hinweist, die
in seinem Verhältnis zu der fremden Studentin liegen. „Aus dem unrechten
Glauben (des Sohnes), sagt er, sieht diese »alte erfahrne Frau« in der Borniert¬
heit ihres Herzens unrechte Werke kommen; sie ruft sich ihren Mann zu Hilfe,
und die das Unrecht verhüten wollen, führen es herbei. Der Argwohn der
andern bringt erst etwas Gefährliches in dieses Verhältnis."

Das ist natürlich ganz schief und nur Sand in die Augen. Niemand, der
das Stück unbefangen steht, wird diesen Eindruck gewinnen. Nehmen wir ein¬
mal die Eltern ganz aus dem Drama heraus. Fassen wir bloß die drei Haupt¬
personen ins Auge: die gute, unbedeutende, aber herzige Frau, die die hoch¬
fliegenden Pläne und Ideen ihres Mannes nicht versteht, diesen Dr. Vockerath
felbst und das gelehrte und aufgeklärte Fräulein Anna Mähr. Wäre es nicht
auch so unausbleiblich zu einer Katastrophe gekommen? Oder sollen wir die
Lösung in einer Doppelehe suchen, einer geistigen und einer leiblichen? Offen¬
bar wird die Entscheidung nicht durch die in Schlenthers Augen engherzige,
altgläubige Mutter herbeigeführt, sondern sie wird durch sie nur beschleunigt.
Die alte, sittliche Weltanschauung und die Zukunftsmusik stoßen hier aufeinander,
und der Vertreter der letzten ist zu schwach, diesen Stoß auszuhalten. Das ist
seine eigne Schuld. Schlenther aber formuliert das so: „Ju der Widmung erklärt
Gerhart Hauptmann, er lege sein Drama in die Hände derjenigen, die es gelebt
haben. Schon damit deutet er an, daß nicht alle, die es lebten, wie Johannes
Vockerath, den Tod suchen. Die meisten kommen mit blauem Auge davon,
denn die meisten trösten sich und überwinden, resignieren und kompromittieren.
Aber unter Hunderten ist immer einer, der dran glauben muß, der die Schlu߬
folgerungen seines Schicksals zieht. Das ist dann, so individuell und besonders
sich dieses Schicksal auch gestalten mag, der typische Fall, das von der Natur
statuierte Exempel, die große einzige dichterische Eins, welche all die vielen
Zufallsnulleu der Wirklichkeit hinter sich her führt und ihnen erst den hohen
Nennwert giebt." Es erhellt, wie schief diese Auffassung ist. Sie stempelt
den I)r. Vockerath zu einem Helden, der ans Tapferkeit, aus innerer Tüchtig¬
keit die letzten Konferenzen zieht, indem er sich das Leben nimmt. Wir dagegen
sehen in ihm einen Schwächling, der das Leben von sich wirft, weil er nicht
die sittliche Kraft hat, sich mit seinen Realitäten abzufinden oder es nach seiner
Weise zu gestalten. Der Schlußsatz dieser Stelle aber ist beachtenswert, indem
er anerkennt, daß der Naturalismus als Kunstprinzip überwunden werden muß.


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[0099] Gerhart Hauptmann »ut sein Biograph Kraft, sich auf dem neuen schwankenden Grunde ein festes Gebäude aufzuführen, sein haltloser Charakter ist dazu ungeeignet. Deshalb gerät er bei der ersten Gelegenheit in einen für ihn unlöslichen Konflikt und geht zu Grunde. Diese Auffassung widerstreitet natürlich der naturalistischen Anschauung Schlenthers. Seine Abneigung gegen alle sittlichen oder gar christlichen Mächte kommt hier deutlich zum Ausdruck. Er sieht die Hauptschuld auf feiten der alten frommen Eltern, besonders der Mutter, die den Sohn auf die Gefahren hinweist, die in seinem Verhältnis zu der fremden Studentin liegen. „Aus dem unrechten Glauben (des Sohnes), sagt er, sieht diese »alte erfahrne Frau« in der Borniert¬ heit ihres Herzens unrechte Werke kommen; sie ruft sich ihren Mann zu Hilfe, und die das Unrecht verhüten wollen, führen es herbei. Der Argwohn der andern bringt erst etwas Gefährliches in dieses Verhältnis." Das ist natürlich ganz schief und nur Sand in die Augen. Niemand, der das Stück unbefangen steht, wird diesen Eindruck gewinnen. Nehmen wir ein¬ mal die Eltern ganz aus dem Drama heraus. Fassen wir bloß die drei Haupt¬ personen ins Auge: die gute, unbedeutende, aber herzige Frau, die die hoch¬ fliegenden Pläne und Ideen ihres Mannes nicht versteht, diesen Dr. Vockerath felbst und das gelehrte und aufgeklärte Fräulein Anna Mähr. Wäre es nicht auch so unausbleiblich zu einer Katastrophe gekommen? Oder sollen wir die Lösung in einer Doppelehe suchen, einer geistigen und einer leiblichen? Offen¬ bar wird die Entscheidung nicht durch die in Schlenthers Augen engherzige, altgläubige Mutter herbeigeführt, sondern sie wird durch sie nur beschleunigt. Die alte, sittliche Weltanschauung und die Zukunftsmusik stoßen hier aufeinander, und der Vertreter der letzten ist zu schwach, diesen Stoß auszuhalten. Das ist seine eigne Schuld. Schlenther aber formuliert das so: „Ju der Widmung erklärt Gerhart Hauptmann, er lege sein Drama in die Hände derjenigen, die es gelebt haben. Schon damit deutet er an, daß nicht alle, die es lebten, wie Johannes Vockerath, den Tod suchen. Die meisten kommen mit blauem Auge davon, denn die meisten trösten sich und überwinden, resignieren und kompromittieren. Aber unter Hunderten ist immer einer, der dran glauben muß, der die Schlu߬ folgerungen seines Schicksals zieht. Das ist dann, so individuell und besonders sich dieses Schicksal auch gestalten mag, der typische Fall, das von der Natur statuierte Exempel, die große einzige dichterische Eins, welche all die vielen Zufallsnulleu der Wirklichkeit hinter sich her führt und ihnen erst den hohen Nennwert giebt." Es erhellt, wie schief diese Auffassung ist. Sie stempelt den I)r. Vockerath zu einem Helden, der ans Tapferkeit, aus innerer Tüchtig¬ keit die letzten Konferenzen zieht, indem er sich das Leben nimmt. Wir dagegen sehen in ihm einen Schwächling, der das Leben von sich wirft, weil er nicht die sittliche Kraft hat, sich mit seinen Realitäten abzufinden oder es nach seiner Weise zu gestalten. Der Schlußsatz dieser Stelle aber ist beachtenswert, indem er anerkennt, daß der Naturalismus als Kunstprinzip überwunden werden muß.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/99>, abgerufen am 23.07.2024.