Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Gin Neulutheraner

schon in Amerika war, und ihm ein zweijähriges Söhnlein hinterlassen hat.
Ich denke mir daher, daß die wirkliche Schwindsucht gemeint ist. Bekanntlich
rafft die nicht selten ganze Familien weg. Hätte die Gattin dem Söhnlein
und ihm selbst einen deutlich erkennbaren Schwindsuchtkeim hinterlassen, so
wäre die Stimmung leicht zu erklären, aus der seine "Wiedergeburt" hervor¬
gegangen ist.

Leute, die sich ihrer Wiedergeburt bewußt sind, und Altlutheraner, wie
sich die Neulutheraner nennen -- beiden Klassen gehört der Verfasser dieser
Ergüsse an --, machen oft, vielleicht meistens, den Eindruck von Muckern.
Von muckerischem hat nun der Schwindsuchtsmann gar nichts an sich. Er ist
ein philosophisch und theologisch durchgebildeter Gelehrter, dem auch die Natur¬
wissenschaften nicht fremd sind, wohlbewandert in der schönen Litteratur und
so voll Wirklichkeitssinn und poetischer Kraft, daß auch die Bezeichnung "Ge¬
lehrter" eigentlich nicht auf ihn paßt, weil er sein Wissen nicht nach Gelehrten¬
art verwendet, sondern im Dienste Gottes, der ihm als einziges Lebensziel
und einziger Lebenszweck übrig geblieben ist, mit überschäumender Leidenschaft
und guter Laune von sich giebt. Ein paar Proben! "Daß wir zur Zeit in
der Epoche der empirischen Forschung stehen, läßt sich nicht bestreiten. Daß
wir aber erst das Kindesalter des Empirismus durchmachen, dürfte eine eben
so unbestreitbare Thatsache sein. Denn wie das Kind zuerst die Gegenstände
um sich her beobachtet und, unbewußt seiner eignen Jchheit, alles, was es
wahrnimmt, objektivirt, selbst Teile seiner eignen Person, ja diese Person
selber, gerade so unsre kindisch-materialistische Zeit; sie objektivirt, sensualisirt,


Gin Neulutheraner

schon in Amerika war, und ihm ein zweijähriges Söhnlein hinterlassen hat.
Ich denke mir daher, daß die wirkliche Schwindsucht gemeint ist. Bekanntlich
rafft die nicht selten ganze Familien weg. Hätte die Gattin dem Söhnlein
und ihm selbst einen deutlich erkennbaren Schwindsuchtkeim hinterlassen, so
wäre die Stimmung leicht zu erklären, aus der seine „Wiedergeburt" hervor¬
gegangen ist.

Leute, die sich ihrer Wiedergeburt bewußt sind, und Altlutheraner, wie
sich die Neulutheraner nennen — beiden Klassen gehört der Verfasser dieser
Ergüsse an —, machen oft, vielleicht meistens, den Eindruck von Muckern.
Von muckerischem hat nun der Schwindsuchtsmann gar nichts an sich. Er ist
ein philosophisch und theologisch durchgebildeter Gelehrter, dem auch die Natur¬
wissenschaften nicht fremd sind, wohlbewandert in der schönen Litteratur und
so voll Wirklichkeitssinn und poetischer Kraft, daß auch die Bezeichnung „Ge¬
lehrter" eigentlich nicht auf ihn paßt, weil er sein Wissen nicht nach Gelehrten¬
art verwendet, sondern im Dienste Gottes, der ihm als einziges Lebensziel
und einziger Lebenszweck übrig geblieben ist, mit überschäumender Leidenschaft
und guter Laune von sich giebt. Ein paar Proben! „Daß wir zur Zeit in
der Epoche der empirischen Forschung stehen, läßt sich nicht bestreiten. Daß
wir aber erst das Kindesalter des Empirismus durchmachen, dürfte eine eben
so unbestreitbare Thatsache sein. Denn wie das Kind zuerst die Gegenstände
um sich her beobachtet und, unbewußt seiner eignen Jchheit, alles, was es
wahrnimmt, objektivirt, selbst Teile seiner eignen Person, ja diese Person
selber, gerade so unsre kindisch-materialistische Zeit; sie objektivirt, sensualisirt,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0099" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/229047"/>
          <fw type="header" place="top"> Gin Neulutheraner</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_206" prev="#ID_205"> schon in Amerika war, und ihm ein zweijähriges Söhnlein hinterlassen hat.<lb/>
Ich denke mir daher, daß die wirkliche Schwindsucht gemeint ist. Bekanntlich<lb/>
rafft die nicht selten ganze Familien weg. Hätte die Gattin dem Söhnlein<lb/>
und ihm selbst einen deutlich erkennbaren Schwindsuchtkeim hinterlassen, so<lb/>
wäre die Stimmung leicht zu erklären, aus der seine &#x201E;Wiedergeburt" hervor¬<lb/>
gegangen ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_207" next="#ID_208"> Leute, die sich ihrer Wiedergeburt bewußt sind, und Altlutheraner, wie<lb/>
sich die Neulutheraner nennen &#x2014; beiden Klassen gehört der Verfasser dieser<lb/>
Ergüsse an &#x2014;, machen oft, vielleicht meistens, den Eindruck von Muckern.<lb/>
Von muckerischem hat nun der Schwindsuchtsmann gar nichts an sich. Er ist<lb/>
ein philosophisch und theologisch durchgebildeter Gelehrter, dem auch die Natur¬<lb/>
wissenschaften nicht fremd sind, wohlbewandert in der schönen Litteratur und<lb/>
so voll Wirklichkeitssinn und poetischer Kraft, daß auch die Bezeichnung &#x201E;Ge¬<lb/>
lehrter" eigentlich nicht auf ihn paßt, weil er sein Wissen nicht nach Gelehrten¬<lb/>
art verwendet, sondern im Dienste Gottes, der ihm als einziges Lebensziel<lb/>
und einziger Lebenszweck übrig geblieben ist, mit überschäumender Leidenschaft<lb/>
und guter Laune von sich giebt. Ein paar Proben! &#x201E;Daß wir zur Zeit in<lb/>
der Epoche der empirischen Forschung stehen, läßt sich nicht bestreiten. Daß<lb/>
wir aber erst das Kindesalter des Empirismus durchmachen, dürfte eine eben<lb/>
so unbestreitbare Thatsache sein. Denn wie das Kind zuerst die Gegenstände<lb/>
um sich her beobachtet und, unbewußt seiner eignen Jchheit, alles, was es<lb/>
wahrnimmt, objektivirt, selbst Teile seiner eignen Person, ja diese Person<lb/>
selber, gerade so unsre kindisch-materialistische Zeit; sie objektivirt, sensualisirt,</p><lb/>
          <note xml:id="FID_10" prev="#FID_9" place="foot">
            <lg xml:id="POEMID_2" type="poem">
              <l/>
            </lg>
          </note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0099] Gin Neulutheraner schon in Amerika war, und ihm ein zweijähriges Söhnlein hinterlassen hat. Ich denke mir daher, daß die wirkliche Schwindsucht gemeint ist. Bekanntlich rafft die nicht selten ganze Familien weg. Hätte die Gattin dem Söhnlein und ihm selbst einen deutlich erkennbaren Schwindsuchtkeim hinterlassen, so wäre die Stimmung leicht zu erklären, aus der seine „Wiedergeburt" hervor¬ gegangen ist. Leute, die sich ihrer Wiedergeburt bewußt sind, und Altlutheraner, wie sich die Neulutheraner nennen — beiden Klassen gehört der Verfasser dieser Ergüsse an —, machen oft, vielleicht meistens, den Eindruck von Muckern. Von muckerischem hat nun der Schwindsuchtsmann gar nichts an sich. Er ist ein philosophisch und theologisch durchgebildeter Gelehrter, dem auch die Natur¬ wissenschaften nicht fremd sind, wohlbewandert in der schönen Litteratur und so voll Wirklichkeitssinn und poetischer Kraft, daß auch die Bezeichnung „Ge¬ lehrter" eigentlich nicht auf ihn paßt, weil er sein Wissen nicht nach Gelehrten¬ art verwendet, sondern im Dienste Gottes, der ihm als einziges Lebensziel und einziger Lebenszweck übrig geblieben ist, mit überschäumender Leidenschaft und guter Laune von sich giebt. Ein paar Proben! „Daß wir zur Zeit in der Epoche der empirischen Forschung stehen, läßt sich nicht bestreiten. Daß wir aber erst das Kindesalter des Empirismus durchmachen, dürfte eine eben so unbestreitbare Thatsache sein. Denn wie das Kind zuerst die Gegenstände um sich her beobachtet und, unbewußt seiner eignen Jchheit, alles, was es wahrnimmt, objektivirt, selbst Teile seiner eignen Person, ja diese Person selber, gerade so unsre kindisch-materialistische Zeit; sie objektivirt, sensualisirt,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/99
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/99>, abgerufen am 12.12.2024.