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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche
2

Was die Poesie ist und will, und was der Dichter, insbesondre der
tragische, soll, wollen wir um mit Berücksichtigung der in dem ersten Artikel
besprochnen Werke von Bruchmann und Steiger zu ermitteln versuchen. Un¬
anfechtbare, haarscharfe Definitionen giebt es nicht und wird es nicht geben, es
kann sich immer nur um Verständigungen auf Grund der litteraturgeschicht¬
lichen Thatsachen zwischen Menschen handeln, die über gewisse Voraussetzungen
einig sind. Die Philosophen haben hier weniger genützt als solche Dichter,
die zugleich über ihr Handwerk nachgedacht und sich geäußert haben, und die
besten von ihnen haben sich über die nur annähernde Sicherheit und Brauch¬
barkeit ihrer Formulirungen nicht getäuscht. Unsre beiden Schriftsteller ver¬
fahren sehr verschieden. Bruchmann giebt auf Grund einer umfassenden Be¬
lesenheit ruhig und vorsichtig in einer gut getroffnen Auswahl von Ansichten
sozusagen annähernde Werte und verzichtet darauf, das Lebendige in philo¬
sophische Kunstausdrücke einzuschließen, wir spüren in seinen Darlegungen noch
etwas von dem warmen Hauche der poetischen Erzeugnisse, von denen sie
handeln, und empfinden, daß da mit dem Verstände allein nichts auszurichten
ist, und daraus ergiebt sich am Schluß etwas, was wir ungefähr so auch ge¬
wußt haben oder doch hätten wissen können, wenigstens spricht der Verfasser
meistens so zu seinem Leser, daß dieser meint, die Gedanken seien auch mit
sein Eigentum. Steiger hingegen hat Hegel wieder entdeckt und läßt Ich und
Nicht-Ich, gegensätzliche Pole und Dreiklänge spielen, Kreise sich schließen,
Empfindungen und Begriffe ausgehen, einmünden und zu sich selber zurück¬
kehren, und wenn sich unsre Augen an dies Feuerwerk gewöhnt haben, so
haben wir auch schon die Grundlinien einer neuen, dem Naturalismus der
Modernen auf den Leib geschulteren Kunstlehre in uns aufgenommen, die wir
uns etwas näher ansehen müssen- Aber vorher wollen wir aus dem in Bruch¬
manns Werke verarbeiteten historischen Material einiges zusammenstellen, was
uns als Stab und Stecken dienen mag.

Wenn auch die Poesie nicht zum Zweck der Nachahmung entstanden ist,
wie die Griechen, z. B. Aristoteles meinten, so haftet ihr doch natürlich
häufig der Charakter der Nachahmung an. Die Poesie entspringt einem Aus¬
drucksbedürfnis, einer Empfindung, einer Steigerung des gewöhnlichen Em¬
pfindens, die sie auch bei andern bewirken will. Der Dichter will sich aus¬
sprechen, einen Stimmungsüberschuß los werden; damit er auf andre wirken
könne, muß er diese Steigerung in einer auf andre Eindruck machenden Weise
ausdrücken, durch Auswahl seines Themas und durch eine von der gewöhnlichen
abweichende schmückende oder charakteristische Redeweise. Die Natur wird z. B.
durch Menschlichkeit gesteigert (Personifikation), der Mensch in seiner Erschei¬
nung oder Wirksamkeit erhöht. Dabei kann der Ausdruck höchst einfach sein.
In Goethes Über allen Wipfeln oder in den Versen des Faust: Wenn über


Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche
2

Was die Poesie ist und will, und was der Dichter, insbesondre der
tragische, soll, wollen wir um mit Berücksichtigung der in dem ersten Artikel
besprochnen Werke von Bruchmann und Steiger zu ermitteln versuchen. Un¬
anfechtbare, haarscharfe Definitionen giebt es nicht und wird es nicht geben, es
kann sich immer nur um Verständigungen auf Grund der litteraturgeschicht¬
lichen Thatsachen zwischen Menschen handeln, die über gewisse Voraussetzungen
einig sind. Die Philosophen haben hier weniger genützt als solche Dichter,
die zugleich über ihr Handwerk nachgedacht und sich geäußert haben, und die
besten von ihnen haben sich über die nur annähernde Sicherheit und Brauch¬
barkeit ihrer Formulirungen nicht getäuscht. Unsre beiden Schriftsteller ver¬
fahren sehr verschieden. Bruchmann giebt auf Grund einer umfassenden Be¬
lesenheit ruhig und vorsichtig in einer gut getroffnen Auswahl von Ansichten
sozusagen annähernde Werte und verzichtet darauf, das Lebendige in philo¬
sophische Kunstausdrücke einzuschließen, wir spüren in seinen Darlegungen noch
etwas von dem warmen Hauche der poetischen Erzeugnisse, von denen sie
handeln, und empfinden, daß da mit dem Verstände allein nichts auszurichten
ist, und daraus ergiebt sich am Schluß etwas, was wir ungefähr so auch ge¬
wußt haben oder doch hätten wissen können, wenigstens spricht der Verfasser
meistens so zu seinem Leser, daß dieser meint, die Gedanken seien auch mit
sein Eigentum. Steiger hingegen hat Hegel wieder entdeckt und läßt Ich und
Nicht-Ich, gegensätzliche Pole und Dreiklänge spielen, Kreise sich schließen,
Empfindungen und Begriffe ausgehen, einmünden und zu sich selber zurück¬
kehren, und wenn sich unsre Augen an dies Feuerwerk gewöhnt haben, so
haben wir auch schon die Grundlinien einer neuen, dem Naturalismus der
Modernen auf den Leib geschulteren Kunstlehre in uns aufgenommen, die wir
uns etwas näher ansehen müssen- Aber vorher wollen wir aus dem in Bruch¬
manns Werke verarbeiteten historischen Material einiges zusammenstellen, was
uns als Stab und Stecken dienen mag.

Wenn auch die Poesie nicht zum Zweck der Nachahmung entstanden ist,
wie die Griechen, z. B. Aristoteles meinten, so haftet ihr doch natürlich
häufig der Charakter der Nachahmung an. Die Poesie entspringt einem Aus¬
drucksbedürfnis, einer Empfindung, einer Steigerung des gewöhnlichen Em¬
pfindens, die sie auch bei andern bewirken will. Der Dichter will sich aus¬
sprechen, einen Stimmungsüberschuß los werden; damit er auf andre wirken
könne, muß er diese Steigerung in einer auf andre Eindruck machenden Weise
ausdrücken, durch Auswahl seines Themas und durch eine von der gewöhnlichen
abweichende schmückende oder charakteristische Redeweise. Die Natur wird z. B.
durch Menschlichkeit gesteigert (Personifikation), der Mensch in seiner Erschei¬
nung oder Wirksamkeit erhöht. Dabei kann der Ausdruck höchst einfach sein.
In Goethes Über allen Wipfeln oder in den Versen des Faust: Wenn über


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[0094] Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche 2 Was die Poesie ist und will, und was der Dichter, insbesondre der tragische, soll, wollen wir um mit Berücksichtigung der in dem ersten Artikel besprochnen Werke von Bruchmann und Steiger zu ermitteln versuchen. Un¬ anfechtbare, haarscharfe Definitionen giebt es nicht und wird es nicht geben, es kann sich immer nur um Verständigungen auf Grund der litteraturgeschicht¬ lichen Thatsachen zwischen Menschen handeln, die über gewisse Voraussetzungen einig sind. Die Philosophen haben hier weniger genützt als solche Dichter, die zugleich über ihr Handwerk nachgedacht und sich geäußert haben, und die besten von ihnen haben sich über die nur annähernde Sicherheit und Brauch¬ barkeit ihrer Formulirungen nicht getäuscht. Unsre beiden Schriftsteller ver¬ fahren sehr verschieden. Bruchmann giebt auf Grund einer umfassenden Be¬ lesenheit ruhig und vorsichtig in einer gut getroffnen Auswahl von Ansichten sozusagen annähernde Werte und verzichtet darauf, das Lebendige in philo¬ sophische Kunstausdrücke einzuschließen, wir spüren in seinen Darlegungen noch etwas von dem warmen Hauche der poetischen Erzeugnisse, von denen sie handeln, und empfinden, daß da mit dem Verstände allein nichts auszurichten ist, und daraus ergiebt sich am Schluß etwas, was wir ungefähr so auch ge¬ wußt haben oder doch hätten wissen können, wenigstens spricht der Verfasser meistens so zu seinem Leser, daß dieser meint, die Gedanken seien auch mit sein Eigentum. Steiger hingegen hat Hegel wieder entdeckt und läßt Ich und Nicht-Ich, gegensätzliche Pole und Dreiklänge spielen, Kreise sich schließen, Empfindungen und Begriffe ausgehen, einmünden und zu sich selber zurück¬ kehren, und wenn sich unsre Augen an dies Feuerwerk gewöhnt haben, so haben wir auch schon die Grundlinien einer neuen, dem Naturalismus der Modernen auf den Leib geschulteren Kunstlehre in uns aufgenommen, die wir uns etwas näher ansehen müssen- Aber vorher wollen wir aus dem in Bruch¬ manns Werke verarbeiteten historischen Material einiges zusammenstellen, was uns als Stab und Stecken dienen mag. Wenn auch die Poesie nicht zum Zweck der Nachahmung entstanden ist, wie die Griechen, z. B. Aristoteles meinten, so haftet ihr doch natürlich häufig der Charakter der Nachahmung an. Die Poesie entspringt einem Aus¬ drucksbedürfnis, einer Empfindung, einer Steigerung des gewöhnlichen Em¬ pfindens, die sie auch bei andern bewirken will. Der Dichter will sich aus¬ sprechen, einen Stimmungsüberschuß los werden; damit er auf andre wirken könne, muß er diese Steigerung in einer auf andre Eindruck machenden Weise ausdrücken, durch Auswahl seines Themas und durch eine von der gewöhnlichen abweichende schmückende oder charakteristische Redeweise. Die Natur wird z. B. durch Menschlichkeit gesteigert (Personifikation), der Mensch in seiner Erschei¬ nung oder Wirksamkeit erhöht. Dabei kann der Ausdruck höchst einfach sein. In Goethes Über allen Wipfeln oder in den Versen des Faust: Wenn über

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/94>, abgerufen am 04.07.2024.