Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche Sittenberger nennt sich, wie wir sahen, einen Realisten, er ist jedenfalls Grenzboten IV 1898 11
Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche Sittenberger nennt sich, wie wir sahen, einen Realisten, er ist jedenfalls Grenzboten IV 1898 11
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0093" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/229041"/> <fw type="header" place="top"> Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche</fw><lb/> <p xml:id="ID_193"> Sittenberger nennt sich, wie wir sahen, einen Realisten, er ist jedenfalls<lb/> ein gemäßigter, mit dem sich reden lassen wird. Das Drama soll individuelle<lb/> Gestalten haben, aber es braucht nicht „auf typische Bedeutung ihrer Gebilde<lb/> zu verzichten," „der Typus als solcher" ist unbrauchbar für die Kunst, nicht<lb/> aber der „typische Mensch," diesen darzustellen ist die „Erfüllung der Kunst."<lb/> Die „rein typische Kunst," also die zu vermeidende, zeigt sich „in den An¬<lb/> fängen des Dramas bei allen Völkern." So saßt er auch das griechische<lb/> Drama auf, es strebe dem „Realen" zu, dieses werde aber nicht vollkommen<lb/> erreicht. Dies mag im großen und ganzen richtig sein. Aber den Satz, daß<lb/> dieses Verhalten der Griechen nicht auf einer künstlerischen Absicht, sondern<lb/> auf einem Mangel an Können beruhe, halte ich für falsch. Die Griechen sind,<lb/> wenn sie wollen, die größten Realisten, auch in Sittenbergers Sinne, aber die<lb/> typische Gestaltung entspricht ihrem Kunstbedürfnis und beruht auch auf einem<lb/> bewußten Willen. Der Beweis wäre nicht schwer zu führen. In der Re¬<lb/> naissancebewegung, sagt Sittenberger, knüpften die Italiener an die Antike an,<lb/> aber sie schritten in Wirklichkeit vorwärts, die neudeutsche Renaissance der<lb/> Weimarer war hingegen ein Rückschritt, den wir ihnen nicht nachmachen sollen.<lb/> Dies kann man mit den Einschränkungen, die Sittenberger selbst an Goethes<lb/> Götz oder Faust macht, gelten lassen. Daß er Schillers „Darstellungsart,"<lb/> eben diese klassizistische, nicht für nachahmenswert hält, muß ebenfalls Zu¬<lb/> stimmung finden, die Litteraturgeschichte steht, wenn man z. B. an Körner<lb/> denkt, auf seiner Seite. Aber wenn er trotzdem Schillers Dramen noch Wir¬<lb/> kung zugesteht und diese auf die „Genialität" des Dichters zurückführt, so<lb/> wäre darauf zu erwidern, daß eine strengere Analyse diesen etwas vagen<lb/> Begriff recht oft durch jenen verlangten „Realismus" ersetzen könnte und<lb/> müßte. Sehr beachtenswert ist, was Sittenberger über die nach unsern heu¬<lb/> tigen Ansprüchen erforderliche Art, den Dialekt im Drama zu verwenden, sagt.<lb/> Abgesehen von dem unverfälschten Dialekt einzelner Bühnenstücke, z. B. der<lb/> Hauptmcmnschen Weber, giebt man gewöhnlich einen „Kompromißdialekt."<lb/> Wie sieht dieser aus? Er kramt unverständig in Äußerlichkeiten, giebt einzelne<lb/> Idiotismen neben Ausdrücken der Schriftsprache, behält zufällige Formen, die<lb/> am schwersten verständlich sind, bei, giebt aber den volksmüßigen Ausdruck in<lb/> der Syntax preis. Man soll gerade umgekehrt das Einzelne weglassen und den<lb/> Ausdruck im ganzen umgestalten nach der Art, wie das Volk denkt und spricht,<lb/> konkret, in Bildern und Gleichnissen, nach der sinnlichen Bedeutung der Worte.<lb/> Abstrakte Denkweise in bäuerlichen Dialekt wörtlich übersetzt wäre geradezu<lb/> lächerlich. Man sieht, der Realist entfernt sich in der That sehr weit von<lb/> den modernen Naturburschen. Er trifft ganz mit Goethe überein, der es in<lb/> seinem Götz ebenso gemacht hat, wie noch heute jeder norddeutsche empfinden<lb/> kann, wenn er zum erstenmale an den Mittelrhein kommt und die Menschen<lb/> dort sprechen hört.</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV 1898 11</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0093]
Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche
Sittenberger nennt sich, wie wir sahen, einen Realisten, er ist jedenfalls
ein gemäßigter, mit dem sich reden lassen wird. Das Drama soll individuelle
Gestalten haben, aber es braucht nicht „auf typische Bedeutung ihrer Gebilde
zu verzichten," „der Typus als solcher" ist unbrauchbar für die Kunst, nicht
aber der „typische Mensch," diesen darzustellen ist die „Erfüllung der Kunst."
Die „rein typische Kunst," also die zu vermeidende, zeigt sich „in den An¬
fängen des Dramas bei allen Völkern." So saßt er auch das griechische
Drama auf, es strebe dem „Realen" zu, dieses werde aber nicht vollkommen
erreicht. Dies mag im großen und ganzen richtig sein. Aber den Satz, daß
dieses Verhalten der Griechen nicht auf einer künstlerischen Absicht, sondern
auf einem Mangel an Können beruhe, halte ich für falsch. Die Griechen sind,
wenn sie wollen, die größten Realisten, auch in Sittenbergers Sinne, aber die
typische Gestaltung entspricht ihrem Kunstbedürfnis und beruht auch auf einem
bewußten Willen. Der Beweis wäre nicht schwer zu führen. In der Re¬
naissancebewegung, sagt Sittenberger, knüpften die Italiener an die Antike an,
aber sie schritten in Wirklichkeit vorwärts, die neudeutsche Renaissance der
Weimarer war hingegen ein Rückschritt, den wir ihnen nicht nachmachen sollen.
Dies kann man mit den Einschränkungen, die Sittenberger selbst an Goethes
Götz oder Faust macht, gelten lassen. Daß er Schillers „Darstellungsart,"
eben diese klassizistische, nicht für nachahmenswert hält, muß ebenfalls Zu¬
stimmung finden, die Litteraturgeschichte steht, wenn man z. B. an Körner
denkt, auf seiner Seite. Aber wenn er trotzdem Schillers Dramen noch Wir¬
kung zugesteht und diese auf die „Genialität" des Dichters zurückführt, so
wäre darauf zu erwidern, daß eine strengere Analyse diesen etwas vagen
Begriff recht oft durch jenen verlangten „Realismus" ersetzen könnte und
müßte. Sehr beachtenswert ist, was Sittenberger über die nach unsern heu¬
tigen Ansprüchen erforderliche Art, den Dialekt im Drama zu verwenden, sagt.
Abgesehen von dem unverfälschten Dialekt einzelner Bühnenstücke, z. B. der
Hauptmcmnschen Weber, giebt man gewöhnlich einen „Kompromißdialekt."
Wie sieht dieser aus? Er kramt unverständig in Äußerlichkeiten, giebt einzelne
Idiotismen neben Ausdrücken der Schriftsprache, behält zufällige Formen, die
am schwersten verständlich sind, bei, giebt aber den volksmüßigen Ausdruck in
der Syntax preis. Man soll gerade umgekehrt das Einzelne weglassen und den
Ausdruck im ganzen umgestalten nach der Art, wie das Volk denkt und spricht,
konkret, in Bildern und Gleichnissen, nach der sinnlichen Bedeutung der Worte.
Abstrakte Denkweise in bäuerlichen Dialekt wörtlich übersetzt wäre geradezu
lächerlich. Man sieht, der Realist entfernt sich in der That sehr weit von
den modernen Naturburschen. Er trifft ganz mit Goethe überein, der es in
seinem Götz ebenso gemacht hat, wie noch heute jeder norddeutsche empfinden
kann, wenn er zum erstenmale an den Mittelrhein kommt und die Menschen
dort sprechen hört.
Grenzboten IV 1898 11
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