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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche

geschmacklos. In der Kunst giebt es keine Polizeivorschriften, wenn aber
jemand in einem Trasiktürken den Triumph der Malerei erblickt, wird er
schwerlich in den Geruch kommen, besonders kunstverständig zu sein." Bekannt¬
lich hat sich Nosegger auch einmal selbst als Dramatiker versucht mit einem
Volksschauspiel: "Am Tage des Gerichts." Er hat damit keinen großen Erfolg
gehabt und auf weitere Beziehung zu der Bühne verzichtet; man müsse zu
sehr "Knecht der Menge" sein, und "verinnerlichte Gestalten," d. h. doch eben
solche, wie seine eignen in dem "Tag des Gerichts," ließen sich in einem
Drama nicht gut veranschaulichen. Sittenberger findet diese Begründung an¬
maßend und zeigt, wie Nosegger aus einem schönen Grundgedanken infolge
mangelhafter Kenntnis der Menschen, der Verhältnisse des Lebens und des
dramatischen Wesens ein trotz manchen guten Einzelheiten ganz ungenügendes
Theaterstück gemacht habe, und wendet sich darauf in einigen recht guten Be¬
merkungen jener angeblich dem Dramatiker nicht erreichbaren "Verinnerlichung"
zu. Dramatische Gestalten, so etwa drückt er sich aus, haben grundsätzlich
nicht weniger Seele als epische (in Gedichten oder Prosaerzählungen), sind
also mindestens ebenso innerlich, und beide müssen durch die Darstellung gleich
sehr ausgestaltet werden. Aber im Drama ist dies schwerer. Der Erzähler
kann überall erklären, der Epiker seinen Stoff nach Gutdünken gruppiren, er
ist an kein Lokal gebunden, kann gleichzeitig verschiedne Orte und was an
ihnen vorgeht berücksichtigen. Der Dramatiker stört mit dem Erklären des
Erzählers die Illusion, was der Erzähler offen bekennt, muß er kunstvoll ver¬
heimlichen, die Ereignisse müssen sich ganz in der natürlich und notwendig
scheinenden Reihenfolge abspielen, Parallelhandlung vorzuführen ist unmöglich,
häufiger Szenenwechsel durch den heutigen Gebrauch ausgeschlossen. Monologe
sind ein Auskunftsmittel, nicht zu entbehren, aber nicht zu übertreiben; voll¬
kommen erfahrungsgemäß und natürlich erscheinende Selbstgespräche sind selten.
Des Dramatikers schwere Kunst ist, des Menschen Wesen aus seinen Hand¬
lungen ersichtlich zu machen, aber darum tritt das Seelenleben doch nicht hinter
die Äußerlichkeit der That zurück.

Es giebt heute Schriftgelehrte, die behaupten, das Drama habe gar nicht
notwendig mit Handlung zu schaffen, das sei ein Irrtum oder eine Schrulle
des Aristoteles. Wir könnten ja auch sagen, im Drama brauche nicht geredet
zu werden, denn auf mancher Seite eines modernen sogenannten Dramas haben
ja nur die Regiebemerkungen Satzbau, alles andre wird gestammelt und geächzt.
Sittenberger gehört also nicht zu diesen Kunstrichtern. Daß mit der bühnen¬
mäßig geführten Handlung eine hinlänglich vertiefte Darstellung des Seelen¬
lebens vereint werden kann, ist zweifellos, und daß es so sein solle, ist das
Recht seiner Forderung. Es gehört zu seiner dramatischen Theorie, aus der
noch einiges mit unmaßgeblichen Zwischenbemerkungen und Fragezeichen hervor¬
gehoben sein mag.


Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche

geschmacklos. In der Kunst giebt es keine Polizeivorschriften, wenn aber
jemand in einem Trasiktürken den Triumph der Malerei erblickt, wird er
schwerlich in den Geruch kommen, besonders kunstverständig zu sein." Bekannt¬
lich hat sich Nosegger auch einmal selbst als Dramatiker versucht mit einem
Volksschauspiel: „Am Tage des Gerichts." Er hat damit keinen großen Erfolg
gehabt und auf weitere Beziehung zu der Bühne verzichtet; man müsse zu
sehr „Knecht der Menge" sein, und „verinnerlichte Gestalten," d. h. doch eben
solche, wie seine eignen in dem „Tag des Gerichts," ließen sich in einem
Drama nicht gut veranschaulichen. Sittenberger findet diese Begründung an¬
maßend und zeigt, wie Nosegger aus einem schönen Grundgedanken infolge
mangelhafter Kenntnis der Menschen, der Verhältnisse des Lebens und des
dramatischen Wesens ein trotz manchen guten Einzelheiten ganz ungenügendes
Theaterstück gemacht habe, und wendet sich darauf in einigen recht guten Be¬
merkungen jener angeblich dem Dramatiker nicht erreichbaren „Verinnerlichung"
zu. Dramatische Gestalten, so etwa drückt er sich aus, haben grundsätzlich
nicht weniger Seele als epische (in Gedichten oder Prosaerzählungen), sind
also mindestens ebenso innerlich, und beide müssen durch die Darstellung gleich
sehr ausgestaltet werden. Aber im Drama ist dies schwerer. Der Erzähler
kann überall erklären, der Epiker seinen Stoff nach Gutdünken gruppiren, er
ist an kein Lokal gebunden, kann gleichzeitig verschiedne Orte und was an
ihnen vorgeht berücksichtigen. Der Dramatiker stört mit dem Erklären des
Erzählers die Illusion, was der Erzähler offen bekennt, muß er kunstvoll ver¬
heimlichen, die Ereignisse müssen sich ganz in der natürlich und notwendig
scheinenden Reihenfolge abspielen, Parallelhandlung vorzuführen ist unmöglich,
häufiger Szenenwechsel durch den heutigen Gebrauch ausgeschlossen. Monologe
sind ein Auskunftsmittel, nicht zu entbehren, aber nicht zu übertreiben; voll¬
kommen erfahrungsgemäß und natürlich erscheinende Selbstgespräche sind selten.
Des Dramatikers schwere Kunst ist, des Menschen Wesen aus seinen Hand¬
lungen ersichtlich zu machen, aber darum tritt das Seelenleben doch nicht hinter
die Äußerlichkeit der That zurück.

Es giebt heute Schriftgelehrte, die behaupten, das Drama habe gar nicht
notwendig mit Handlung zu schaffen, das sei ein Irrtum oder eine Schrulle
des Aristoteles. Wir könnten ja auch sagen, im Drama brauche nicht geredet
zu werden, denn auf mancher Seite eines modernen sogenannten Dramas haben
ja nur die Regiebemerkungen Satzbau, alles andre wird gestammelt und geächzt.
Sittenberger gehört also nicht zu diesen Kunstrichtern. Daß mit der bühnen¬
mäßig geführten Handlung eine hinlänglich vertiefte Darstellung des Seelen¬
lebens vereint werden kann, ist zweifellos, und daß es so sein solle, ist das
Recht seiner Forderung. Es gehört zu seiner dramatischen Theorie, aus der
noch einiges mit unmaßgeblichen Zwischenbemerkungen und Fragezeichen hervor¬
gehoben sein mag.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/92>, abgerufen am 12.12.2024.