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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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August Strindbergs Inferno

seinem stürmischen Auftreten in der Frauenfrage geschieden worden, doch leben
die Kinder noch in einigem äußern Zusammenhang mit dem Vater, aber fern
von ihm. Der Dichter selbst hat sich nach vielem rastlosen Hin- und Her¬
ziehen -- diese Ruhelosigkeit ist nicht bloß für viele Genies, sondern ganz
besonders für Strindbergs Art recht bezeichnend -- in Osterreich zum zweiten¬
mal verheiratet und dann in Paris für einige Jahre vor Anker gelegt. Hier
trennt er sich nun im November 1894 von seiner "schönen Kerkermeisterin,
die Tag und Nacht seine Seele belauert, seine geheimen Gedanken erraten
und voll Eifersucht auf seine Liebe zur Erkenntnis den Lauf seiner Ideen
überwacht hat" (S. 1). Er opfert in seiner Wahl zwischen Liebe und Wissen¬
schaft sein schuldloses Weib auf dem Altar seines Ehrgeizes oder besser: seines
innern Berufs (S. 2). Die Frau reist in die Heimat nach Osterreich zu der
plötzlich erkrankten Tochter und kommt uicht wieder, weil ihr Gatte, der "die
vergangne Ehe aus einer seelischen Reinheit, einer männlichen Jungfräulichkeit
heraus als etwas Unreines zu betrachten" anfängt (S. 3), ihr "durch Vor¬
spiegelung einer neuen Liebschaft den Laufpaß giebt."

Die Strafe für solche in die Praxis übersetzten Tolstoischen Gedanken
und gar für seinen "unverzeihlich nichtswürdigen Brief" bleibt nicht lange aus.
Er wird auf der Straße von einer Bande Kokotten mehrfach belästigt(I) und
kommt schließlich ins Ludwigkrankenhaus, weil er sich bei anstrengenden und
wichtigen chemischen Experimenten seine Hände schwer verletzt hat. Hier "im
Fegefeuer des heiligen Ludwig" beginnt nach Strindbergs Ansicht seine innere
Läuterung. Der Leser merkt freilich nicht recht, auf welche Weise sie vor sich
geht, da meist nur von Chemischen die Rede ist, namentlich von Strindbergs
experimentellem Nachweis, daß der Schwefel Kohlenstoff enthält. Sollte dieser
vielleicht --? Immerhin hat der heilige Ludwig das nicht zu unterschätzende
Verdienst, daß er den harmlos spazierengehenden Dichter an der Auslage von
Blanchcirds Buchhandlung plötzlich mit einem alten Chemieband von Orfila
bekannt macht, worin zu lesen steht, daß der Schwefel außer Wasserstoff und
Sauerstoff noch eine besondre Base enthalte, deren Ausscheidung bisher nicht
gelungen ist: diese Base ist Strindbergs Kohlenstoff! "Man urteile über
meine geradezu religiöse Ekstase vor dieser an ein Wunder grenzenden Ent¬
hüllung; -- mir also kommt es zu, die Form des Schwefels aufzustellen,"
ruft S. 20 der Dichter ans und verwirrt damit den arglosen Leser immer
mehr, der gar nicht begreifen kann, was hier die Religion soll, und warum
der so viel wissenschaftlich thätige Strindberg erst so spät zu dieser Kenntnis
kommt. Daß gar der heilige Ludwig als sein Patron und Schutzengel ihn
ins Krankenhaus getrieben haben solle, damit er, vom Feuer der Herzensangst
geläutert, jenen Ruhm wiedererlange, der zu Unehren und Verachtung führt
(S. 21), dürfte noch unverständlicher sein. Wir hören indessen hier zum
erstenmal deutlich den dunkeln mystischen Ton, auf den das Ganze gestimmt


August Strindbergs Inferno

seinem stürmischen Auftreten in der Frauenfrage geschieden worden, doch leben
die Kinder noch in einigem äußern Zusammenhang mit dem Vater, aber fern
von ihm. Der Dichter selbst hat sich nach vielem rastlosen Hin- und Her¬
ziehen — diese Ruhelosigkeit ist nicht bloß für viele Genies, sondern ganz
besonders für Strindbergs Art recht bezeichnend — in Osterreich zum zweiten¬
mal verheiratet und dann in Paris für einige Jahre vor Anker gelegt. Hier
trennt er sich nun im November 1894 von seiner „schönen Kerkermeisterin,
die Tag und Nacht seine Seele belauert, seine geheimen Gedanken erraten
und voll Eifersucht auf seine Liebe zur Erkenntnis den Lauf seiner Ideen
überwacht hat" (S. 1). Er opfert in seiner Wahl zwischen Liebe und Wissen¬
schaft sein schuldloses Weib auf dem Altar seines Ehrgeizes oder besser: seines
innern Berufs (S. 2). Die Frau reist in die Heimat nach Osterreich zu der
plötzlich erkrankten Tochter und kommt uicht wieder, weil ihr Gatte, der „die
vergangne Ehe aus einer seelischen Reinheit, einer männlichen Jungfräulichkeit
heraus als etwas Unreines zu betrachten" anfängt (S. 3), ihr „durch Vor¬
spiegelung einer neuen Liebschaft den Laufpaß giebt."

Die Strafe für solche in die Praxis übersetzten Tolstoischen Gedanken
und gar für seinen „unverzeihlich nichtswürdigen Brief" bleibt nicht lange aus.
Er wird auf der Straße von einer Bande Kokotten mehrfach belästigt(I) und
kommt schließlich ins Ludwigkrankenhaus, weil er sich bei anstrengenden und
wichtigen chemischen Experimenten seine Hände schwer verletzt hat. Hier „im
Fegefeuer des heiligen Ludwig" beginnt nach Strindbergs Ansicht seine innere
Läuterung. Der Leser merkt freilich nicht recht, auf welche Weise sie vor sich
geht, da meist nur von Chemischen die Rede ist, namentlich von Strindbergs
experimentellem Nachweis, daß der Schwefel Kohlenstoff enthält. Sollte dieser
vielleicht —? Immerhin hat der heilige Ludwig das nicht zu unterschätzende
Verdienst, daß er den harmlos spazierengehenden Dichter an der Auslage von
Blanchcirds Buchhandlung plötzlich mit einem alten Chemieband von Orfila
bekannt macht, worin zu lesen steht, daß der Schwefel außer Wasserstoff und
Sauerstoff noch eine besondre Base enthalte, deren Ausscheidung bisher nicht
gelungen ist: diese Base ist Strindbergs Kohlenstoff! „Man urteile über
meine geradezu religiöse Ekstase vor dieser an ein Wunder grenzenden Ent¬
hüllung; — mir also kommt es zu, die Form des Schwefels aufzustellen,"
ruft S. 20 der Dichter ans und verwirrt damit den arglosen Leser immer
mehr, der gar nicht begreifen kann, was hier die Religion soll, und warum
der so viel wissenschaftlich thätige Strindberg erst so spät zu dieser Kenntnis
kommt. Daß gar der heilige Ludwig als sein Patron und Schutzengel ihn
ins Krankenhaus getrieben haben solle, damit er, vom Feuer der Herzensangst
geläutert, jenen Ruhm wiedererlange, der zu Unehren und Verachtung führt
(S. 21), dürfte noch unverständlicher sein. Wir hören indessen hier zum
erstenmal deutlich den dunkeln mystischen Ton, auf den das Ganze gestimmt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/595>, abgerufen am 04.07.2024.