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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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politische Reisebetrachtungen aus dem deutschen Süden

Frankreich besiegt, würde den Untergang der Schweiz bedeuten, die dem
Schicksal, eine französische Provinz zu werden, nicht entgehen würde. Deutsch¬
land bedroht niemals die Freiheit seiner entarteten Tochter, und im deutschen
Bundesstaat bliebe auch im Falle der Wiedervereinigung die innere Selbständig¬
keit der Schweiz gewahrt. Nach außen macht die Schweiz wohl selbst nicht
den Anspruch auf eine unabhängige Politik. Die Zeit dieser Kleinstaaten ist
vorüber, wo schon ein Mittelstaat wie Spanien grundlos oder doch unter
falschem Vorwande von der amerikanischen Großmacht überfallen werden konnte,
ohne daß sich eine Hand zu seinem Schutze rührte. Bei einem europäischen Kriege
wäre das Schicksal der Schweiz sicher ganz ähnlich. Ihr Milizsystem wird sie
bei aller Schießtüchtigkeit nicht vor dem Verderben bewahren, Oder hofft sie
vielleicht auf die Einmischung Englands als Garantiemacht? Je mehr sie
ihren deutschen Ursprung verleugnet, um so sicherer wird sie Frankreichs Beute
und fordert Deutschlands Mitwirkung zum Schutze des eignen und des gemein¬
samen Volkstums heraus. Preußen hat Belgien noch 1869 vor der franzö¬
sischen Besetzung gerettet; die Schweiz kann leicht in eine ähnliche Lage
geraten.

Sind wir den unerfreulichen Spuren nationaler Würdelosigkeit bisher
nachgegangen, so dürfen wir auch der Lichtseiten im Bilde dieser Schweizer
Eidgenossen nicht vergessen, die uns an der deutschen Lebenskraft des schönen
Alpenlandes nicht verzweifeln lassen. Der häufig lächerliche und doch politisch
folgenschwere Kantönligeist findet im Mutterland an dem verderblichen Sonder¬
sinn der deutschen Landschaften, ja selbst der Parteien sein würdiges Gegenstück.
Im monarchischen Deutschland mit seiner Kleinstaaterei erscheint diese bedauer¬
liche Zerrissenheit verstündlich. Aber wie ist sie mit der Gleichmacherei der
Schweizer Demokratie in Einklang zu bringen, wo bleibt die einheitliche Volks¬
herrschaft? Dieser Sondergeist ist ein aristokratischer Bursche, der eben die Volks¬
souveränität des alles nivellirenden Einheitsstaates nicht anerkennt. negiert
etwa das Volk in den Kantonen? Nein, noch giebt es führende Familien,
wie einst die stolzen Berner und Luzerner Ratsgeschlechter und der Grau-
bündner Adel. Ja die Schweizer Patrizier haben ihre Rolle noch nicht aus¬
gespielt. Nur haben sie neue Emporkömmlinge unter sich aufnehmen müssen-
Ach und wie reizend deutsch ist in seiner ganzen Lächerlichkeit diese undemo¬
kratische Titelsucht vom Gemeindeschreiber aufwärts bis zum Stünderat! Wer
vor einem Menschenalter einmal eine Würde bekleidet hat, nennt sich noch jetzt
stolz Altammcmn u. s. w. Der alte Heldengeist der Schweizer ist noch nicht
erloschen. Die mittelalterlichen Landsknechte und die fürstlichen Leibgarden
haben, wenn auch im fremden Solde, die stolze Überlieferung der Schweizer
Wehrhaftigkeit bis in die Gegenwart erhalten. Freilich fehlt der Scherz hierbei
auch nicht. Kein Jugendfest, kein Musikfest, kein Schießen und keine sonstige
Feier, die fast allsonntüglich begangen werden, ohne daß die eidgenössische Miliz


politische Reisebetrachtungen aus dem deutschen Süden

Frankreich besiegt, würde den Untergang der Schweiz bedeuten, die dem
Schicksal, eine französische Provinz zu werden, nicht entgehen würde. Deutsch¬
land bedroht niemals die Freiheit seiner entarteten Tochter, und im deutschen
Bundesstaat bliebe auch im Falle der Wiedervereinigung die innere Selbständig¬
keit der Schweiz gewahrt. Nach außen macht die Schweiz wohl selbst nicht
den Anspruch auf eine unabhängige Politik. Die Zeit dieser Kleinstaaten ist
vorüber, wo schon ein Mittelstaat wie Spanien grundlos oder doch unter
falschem Vorwande von der amerikanischen Großmacht überfallen werden konnte,
ohne daß sich eine Hand zu seinem Schutze rührte. Bei einem europäischen Kriege
wäre das Schicksal der Schweiz sicher ganz ähnlich. Ihr Milizsystem wird sie
bei aller Schießtüchtigkeit nicht vor dem Verderben bewahren, Oder hofft sie
vielleicht auf die Einmischung Englands als Garantiemacht? Je mehr sie
ihren deutschen Ursprung verleugnet, um so sicherer wird sie Frankreichs Beute
und fordert Deutschlands Mitwirkung zum Schutze des eignen und des gemein¬
samen Volkstums heraus. Preußen hat Belgien noch 1869 vor der franzö¬
sischen Besetzung gerettet; die Schweiz kann leicht in eine ähnliche Lage
geraten.

Sind wir den unerfreulichen Spuren nationaler Würdelosigkeit bisher
nachgegangen, so dürfen wir auch der Lichtseiten im Bilde dieser Schweizer
Eidgenossen nicht vergessen, die uns an der deutschen Lebenskraft des schönen
Alpenlandes nicht verzweifeln lassen. Der häufig lächerliche und doch politisch
folgenschwere Kantönligeist findet im Mutterland an dem verderblichen Sonder¬
sinn der deutschen Landschaften, ja selbst der Parteien sein würdiges Gegenstück.
Im monarchischen Deutschland mit seiner Kleinstaaterei erscheint diese bedauer¬
liche Zerrissenheit verstündlich. Aber wie ist sie mit der Gleichmacherei der
Schweizer Demokratie in Einklang zu bringen, wo bleibt die einheitliche Volks¬
herrschaft? Dieser Sondergeist ist ein aristokratischer Bursche, der eben die Volks¬
souveränität des alles nivellirenden Einheitsstaates nicht anerkennt. negiert
etwa das Volk in den Kantonen? Nein, noch giebt es führende Familien,
wie einst die stolzen Berner und Luzerner Ratsgeschlechter und der Grau-
bündner Adel. Ja die Schweizer Patrizier haben ihre Rolle noch nicht aus¬
gespielt. Nur haben sie neue Emporkömmlinge unter sich aufnehmen müssen-
Ach und wie reizend deutsch ist in seiner ganzen Lächerlichkeit diese undemo¬
kratische Titelsucht vom Gemeindeschreiber aufwärts bis zum Stünderat! Wer
vor einem Menschenalter einmal eine Würde bekleidet hat, nennt sich noch jetzt
stolz Altammcmn u. s. w. Der alte Heldengeist der Schweizer ist noch nicht
erloschen. Die mittelalterlichen Landsknechte und die fürstlichen Leibgarden
haben, wenn auch im fremden Solde, die stolze Überlieferung der Schweizer
Wehrhaftigkeit bis in die Gegenwart erhalten. Freilich fehlt der Scherz hierbei
auch nicht. Kein Jugendfest, kein Musikfest, kein Schießen und keine sonstige
Feier, die fast allsonntüglich begangen werden, ohne daß die eidgenössische Miliz


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[0585] politische Reisebetrachtungen aus dem deutschen Süden Frankreich besiegt, würde den Untergang der Schweiz bedeuten, die dem Schicksal, eine französische Provinz zu werden, nicht entgehen würde. Deutsch¬ land bedroht niemals die Freiheit seiner entarteten Tochter, und im deutschen Bundesstaat bliebe auch im Falle der Wiedervereinigung die innere Selbständig¬ keit der Schweiz gewahrt. Nach außen macht die Schweiz wohl selbst nicht den Anspruch auf eine unabhängige Politik. Die Zeit dieser Kleinstaaten ist vorüber, wo schon ein Mittelstaat wie Spanien grundlos oder doch unter falschem Vorwande von der amerikanischen Großmacht überfallen werden konnte, ohne daß sich eine Hand zu seinem Schutze rührte. Bei einem europäischen Kriege wäre das Schicksal der Schweiz sicher ganz ähnlich. Ihr Milizsystem wird sie bei aller Schießtüchtigkeit nicht vor dem Verderben bewahren, Oder hofft sie vielleicht auf die Einmischung Englands als Garantiemacht? Je mehr sie ihren deutschen Ursprung verleugnet, um so sicherer wird sie Frankreichs Beute und fordert Deutschlands Mitwirkung zum Schutze des eignen und des gemein¬ samen Volkstums heraus. Preußen hat Belgien noch 1869 vor der franzö¬ sischen Besetzung gerettet; die Schweiz kann leicht in eine ähnliche Lage geraten. Sind wir den unerfreulichen Spuren nationaler Würdelosigkeit bisher nachgegangen, so dürfen wir auch der Lichtseiten im Bilde dieser Schweizer Eidgenossen nicht vergessen, die uns an der deutschen Lebenskraft des schönen Alpenlandes nicht verzweifeln lassen. Der häufig lächerliche und doch politisch folgenschwere Kantönligeist findet im Mutterland an dem verderblichen Sonder¬ sinn der deutschen Landschaften, ja selbst der Parteien sein würdiges Gegenstück. Im monarchischen Deutschland mit seiner Kleinstaaterei erscheint diese bedauer¬ liche Zerrissenheit verstündlich. Aber wie ist sie mit der Gleichmacherei der Schweizer Demokratie in Einklang zu bringen, wo bleibt die einheitliche Volks¬ herrschaft? Dieser Sondergeist ist ein aristokratischer Bursche, der eben die Volks¬ souveränität des alles nivellirenden Einheitsstaates nicht anerkennt. negiert etwa das Volk in den Kantonen? Nein, noch giebt es führende Familien, wie einst die stolzen Berner und Luzerner Ratsgeschlechter und der Grau- bündner Adel. Ja die Schweizer Patrizier haben ihre Rolle noch nicht aus¬ gespielt. Nur haben sie neue Emporkömmlinge unter sich aufnehmen müssen- Ach und wie reizend deutsch ist in seiner ganzen Lächerlichkeit diese undemo¬ kratische Titelsucht vom Gemeindeschreiber aufwärts bis zum Stünderat! Wer vor einem Menschenalter einmal eine Würde bekleidet hat, nennt sich noch jetzt stolz Altammcmn u. s. w. Der alte Heldengeist der Schweizer ist noch nicht erloschen. Die mittelalterlichen Landsknechte und die fürstlichen Leibgarden haben, wenn auch im fremden Solde, die stolze Überlieferung der Schweizer Wehrhaftigkeit bis in die Gegenwart erhalten. Freilich fehlt der Scherz hierbei auch nicht. Kein Jugendfest, kein Musikfest, kein Schießen und keine sonstige Feier, die fast allsonntüglich begangen werden, ohne daß die eidgenössische Miliz

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/585>, abgerufen am 24.07.2024.