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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Politische Reisebetrachtungen aus dein deutschen Süden

deutschen Schweiz erleben. Wirklich scheint jedes nationale Ehrgefühl im
Schweizer erstorben zu sein, dessen Ahnen sür die deutsche Freiheit gegen
Burgunder und Franzosen stritten und ihr Leben ließen. Heuer soll in Neuen¬
burg das Bundesschießen abgehalten werden. In allen Ortschaften der deutschen
Schweiz hängt eine französische Bekanntmachung aus. Würde es in einer
deutschen Stadt gefeiert, würde man natürlich uicht wagen, deutsche Anschläge
"ach Neuenburg zu senden.

Unter dem Vorwande der Gleichberechtigung der französischen und der
italienischen Minderheit wird die deutsche Sprache geknechtet und zurückgedrängt.
Italienisch erklimmt schon den Alpenkamm. Auf dem simpeln und dem Gott-
hurd hört man schon italienische Laute, während einst noch am Langensee
Rutsch gesprochen wurde. Auch in der Schweiz wie in Elsaß-Lothringen hat
erst die 'französische Revolution das Deutschtum bedrängt. Das Wahnbild der
französischen Freiheit, die beiden kerndeutschen Landen die Knechtschaft brachte,
hat das nationale Empfinden zu Gunsten politischer Ideale so geschwächt, daß
der Geschichtsirrtum der Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit, der zum blu¬
tigen Cäsarentum führte, in diesen Landschaften noch heute als bare Münze
angesehen wird und zum beispiellosen Erfolge des französischen Unterdrückers
auch nach dessen wiederholten Niederlagen beigetragen hat. Die Schweizer
Demokratie feiert die französische Schwesterrepublik, obschon nur Deutschland
seine Alpentochter vor der Begehrlichkeit des westlichen Nachbarn schützt. Eung
wie den deutschen Gesinnungsgenossen schwärmt sie freilich für den Juden
Dreyfus. ohne daß diese Empfindsamkeit ihrer Liebe für die ArWÄö nawu
Abbruch thäte. Während man anderwärts in Begeisterung von der Schweizer
Freiheit des Mittelalters bis zur Franzosenzeit redet, ahnt man wohl nicht,
daß diese in einer starren aristokratischen Herrschaft der Urkantone bestand.
Freilich gebührt dem Vorort Bern das Verdienst, daß er sich seiner nationalen
Sendung an den Ufern des Genfer- wie des Lcmgensces. wo die Unterthanen¬
lande lagen, immer bewußt gewesen ist. Bis dahin wurde die ganze Schweiz
Rutsch verwaltet, und das begehrliche Frcmzosentum blieb auf seine Heimat
Genf beschränkt. Preußen schaltete in Neuenburg in nationalem Unverstande
freilich anders und hat auch die Folgen dieser Gleichgiltigkeit gegen das eigne
Volkstum mit dem Verluste des schönen Fürstentums zu bezahlen gehabt.

Selbst die schweizerischen Preußenhasser, und es sind dies alle Schweizer,
huben bei der Jubelfeier des Neuenburger Aufstands dem preußischen Könige
sür sein damaliges Verhalten keinen Vorwurf machen können. Nur wir
Deutschen müssen seine Schwäche beklagen, die wir freilich dem todkranken
Schwärmer auf dem Throne verzeihen. Das Deutsche Reich aber hat eme
schwere Einbuße durch den preußischen Verzicht erlitten; ein wieder verdeutschtes
Neuenburg gäbe auch dem Volkstum der Schweizer einen festen Halt zum Wider¬
stande gegen französische Aneignungsgelüste. Ein schwaches Deutschland, von


Politische Reisebetrachtungen aus dein deutschen Süden

deutschen Schweiz erleben. Wirklich scheint jedes nationale Ehrgefühl im
Schweizer erstorben zu sein, dessen Ahnen sür die deutsche Freiheit gegen
Burgunder und Franzosen stritten und ihr Leben ließen. Heuer soll in Neuen¬
burg das Bundesschießen abgehalten werden. In allen Ortschaften der deutschen
Schweiz hängt eine französische Bekanntmachung aus. Würde es in einer
deutschen Stadt gefeiert, würde man natürlich uicht wagen, deutsche Anschläge
»ach Neuenburg zu senden.

Unter dem Vorwande der Gleichberechtigung der französischen und der
italienischen Minderheit wird die deutsche Sprache geknechtet und zurückgedrängt.
Italienisch erklimmt schon den Alpenkamm. Auf dem simpeln und dem Gott-
hurd hört man schon italienische Laute, während einst noch am Langensee
Rutsch gesprochen wurde. Auch in der Schweiz wie in Elsaß-Lothringen hat
erst die 'französische Revolution das Deutschtum bedrängt. Das Wahnbild der
französischen Freiheit, die beiden kerndeutschen Landen die Knechtschaft brachte,
hat das nationale Empfinden zu Gunsten politischer Ideale so geschwächt, daß
der Geschichtsirrtum der Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit, der zum blu¬
tigen Cäsarentum führte, in diesen Landschaften noch heute als bare Münze
angesehen wird und zum beispiellosen Erfolge des französischen Unterdrückers
auch nach dessen wiederholten Niederlagen beigetragen hat. Die Schweizer
Demokratie feiert die französische Schwesterrepublik, obschon nur Deutschland
seine Alpentochter vor der Begehrlichkeit des westlichen Nachbarn schützt. Eung
wie den deutschen Gesinnungsgenossen schwärmt sie freilich für den Juden
Dreyfus. ohne daß diese Empfindsamkeit ihrer Liebe für die ArWÄö nawu
Abbruch thäte. Während man anderwärts in Begeisterung von der Schweizer
Freiheit des Mittelalters bis zur Franzosenzeit redet, ahnt man wohl nicht,
daß diese in einer starren aristokratischen Herrschaft der Urkantone bestand.
Freilich gebührt dem Vorort Bern das Verdienst, daß er sich seiner nationalen
Sendung an den Ufern des Genfer- wie des Lcmgensces. wo die Unterthanen¬
lande lagen, immer bewußt gewesen ist. Bis dahin wurde die ganze Schweiz
Rutsch verwaltet, und das begehrliche Frcmzosentum blieb auf seine Heimat
Genf beschränkt. Preußen schaltete in Neuenburg in nationalem Unverstande
freilich anders und hat auch die Folgen dieser Gleichgiltigkeit gegen das eigne
Volkstum mit dem Verluste des schönen Fürstentums zu bezahlen gehabt.

Selbst die schweizerischen Preußenhasser, und es sind dies alle Schweizer,
huben bei der Jubelfeier des Neuenburger Aufstands dem preußischen Könige
sür sein damaliges Verhalten keinen Vorwurf machen können. Nur wir
Deutschen müssen seine Schwäche beklagen, die wir freilich dem todkranken
Schwärmer auf dem Throne verzeihen. Das Deutsche Reich aber hat eme
schwere Einbuße durch den preußischen Verzicht erlitten; ein wieder verdeutschtes
Neuenburg gäbe auch dem Volkstum der Schweizer einen festen Halt zum Wider¬
stande gegen französische Aneignungsgelüste. Ein schwaches Deutschland, von


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[0584] Politische Reisebetrachtungen aus dein deutschen Süden deutschen Schweiz erleben. Wirklich scheint jedes nationale Ehrgefühl im Schweizer erstorben zu sein, dessen Ahnen sür die deutsche Freiheit gegen Burgunder und Franzosen stritten und ihr Leben ließen. Heuer soll in Neuen¬ burg das Bundesschießen abgehalten werden. In allen Ortschaften der deutschen Schweiz hängt eine französische Bekanntmachung aus. Würde es in einer deutschen Stadt gefeiert, würde man natürlich uicht wagen, deutsche Anschläge »ach Neuenburg zu senden. Unter dem Vorwande der Gleichberechtigung der französischen und der italienischen Minderheit wird die deutsche Sprache geknechtet und zurückgedrängt. Italienisch erklimmt schon den Alpenkamm. Auf dem simpeln und dem Gott- hurd hört man schon italienische Laute, während einst noch am Langensee Rutsch gesprochen wurde. Auch in der Schweiz wie in Elsaß-Lothringen hat erst die 'französische Revolution das Deutschtum bedrängt. Das Wahnbild der französischen Freiheit, die beiden kerndeutschen Landen die Knechtschaft brachte, hat das nationale Empfinden zu Gunsten politischer Ideale so geschwächt, daß der Geschichtsirrtum der Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit, der zum blu¬ tigen Cäsarentum führte, in diesen Landschaften noch heute als bare Münze angesehen wird und zum beispiellosen Erfolge des französischen Unterdrückers auch nach dessen wiederholten Niederlagen beigetragen hat. Die Schweizer Demokratie feiert die französische Schwesterrepublik, obschon nur Deutschland seine Alpentochter vor der Begehrlichkeit des westlichen Nachbarn schützt. Eung wie den deutschen Gesinnungsgenossen schwärmt sie freilich für den Juden Dreyfus. ohne daß diese Empfindsamkeit ihrer Liebe für die ArWÄö nawu Abbruch thäte. Während man anderwärts in Begeisterung von der Schweizer Freiheit des Mittelalters bis zur Franzosenzeit redet, ahnt man wohl nicht, daß diese in einer starren aristokratischen Herrschaft der Urkantone bestand. Freilich gebührt dem Vorort Bern das Verdienst, daß er sich seiner nationalen Sendung an den Ufern des Genfer- wie des Lcmgensces. wo die Unterthanen¬ lande lagen, immer bewußt gewesen ist. Bis dahin wurde die ganze Schweiz Rutsch verwaltet, und das begehrliche Frcmzosentum blieb auf seine Heimat Genf beschränkt. Preußen schaltete in Neuenburg in nationalem Unverstande freilich anders und hat auch die Folgen dieser Gleichgiltigkeit gegen das eigne Volkstum mit dem Verluste des schönen Fürstentums zu bezahlen gehabt. Selbst die schweizerischen Preußenhasser, und es sind dies alle Schweizer, huben bei der Jubelfeier des Neuenburger Aufstands dem preußischen Könige sür sein damaliges Verhalten keinen Vorwurf machen können. Nur wir Deutschen müssen seine Schwäche beklagen, die wir freilich dem todkranken Schwärmer auf dem Throne verzeihen. Das Deutsche Reich aber hat eme schwere Einbuße durch den preußischen Verzicht erlitten; ein wieder verdeutschtes Neuenburg gäbe auch dem Volkstum der Schweizer einen festen Halt zum Wider¬ stande gegen französische Aneignungsgelüste. Ein schwaches Deutschland, von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/584>, abgerufen am 24.07.2024.