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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Die Devortatiönsfrage vor dem deutschen Zuristentage in Posen

Sträflingen -- er nannte die Zahl hundert -- beschränken müsse, und in einem
Briefe (abgedruckt in einer Schrift des Pfarrer Dr. Sehfarth: "Hinter eisernen
Gittern") sagt Herr Leutwein wörtlich: "Ich halte mich zu einem abschließenden
Urteil über die Deportationsfrage nicht befähigt, da letzteres überhaupt nur an
der Hand von Erfahrungen gewonnen werden kann. Um solche zu gewinnen,
muß indessen ein Versuch gewagt werden, und wurde ich daher die Frage,
ob ein solcher (aber nur ein solcher) empfehlenswert sein würde, unbedingt
bejahend beantworten."

Ganz derselben Ansicht, d. h. für einen Versuch sind übrigens die besten
Kenner unsers Schutzgebiets wie Kurt von Franyois, Dr. Esser und Franz
von Bülow. Ein solcher Versuch verursacht weder große Kosten noch sonst
irgend welche Nachteile für das Reich. Wenn irgend wo, so gilt in Sachen
des Strafvollzugs, insbesondre in Sachen der Deportation der Satz, daß
Probiren über Studiren geht. Soviel steht fest, daß sich durch die Einführung
der Deportationsstrafe die ungeheuern Kosten des Strafvollzugs mit der Zeit
fehr vermindern werden. Diese Summen würden dann zum größten Nutzen
des Reichs in seinem Schutzgebiete verwertet werden. Gerade in Deutsch-
Südwestafrika ist die Vermehrung intelligenter Arbeitskräfte eine Lebensfrage.
Hier fehlt es an Händen, während in den Strafanstalten des Mutterlandes
die Kräfte vergeudet werden.

Auch in sozialpolitischer Hinsicht kann die Deportationsstrafe für Deutsch¬
land, das an Übervölkerung leidet (der Geburtenüberschuß beträgt jährlich
600000), von hervorragender Bedeutung werden; denn die Hauptquelle der
meisten Verbrechen ist hier die Not, entstanden aus der Schwierigkeit der
Erwerbsverhültnisse. Sie treibt alljährlich Tausende von Volksgenossen, und
nicht die schlechtesten, für die ihr Vaterland zu eng ist, übers Meer, wo sie
sich in der neuen Heimat mit der äußersten Anspannung aller Kräfte ein
menschenwürdiges Dasein gründen. Die Unglücklichen aber, denen die Mittel
fehlen, ihr unbarmherziges Geschick zu ändern, die schon durch die Not entkräftet,
entmutigt und demoralisirt sind, sie sind die Kandidaten unsrer Zuchthäuser.
Die Not ist die Hauptursache ihrer schlechten Erziehung und der sich daran
knüpfenden Verkommenheit, die schließlich zum Verbrechen führen muß. Können
alle diese Personen im Vaterlande nicht mit lohnender Arbeit versehen werden,
so kann wenigstens denen, die wegen Arbeitsscheu wiederholt im Arbeitshause
gesessen haben, oder die durch Begehung von Eigentumsdelikten schon ihre
Unfähigkeit, sich selber zu ernähren, bewiesen haben, ferner den Personen, die
wiederholt durch ihr unsittliches Verhalten die Kulturgemeinschaft gestört haben
und deshalb dem Strafrichter verfallen sind, die Möglichkeit gewährt werden,
ihre Kräfte in einer für ihr eignes und das Wohl des Vaterlandes geeigneten
Weise zu verwerten. Der Staat muß diese Unglücklichen zwangsweise in eine
Lage setzen, wo sich energische Naturen aus eigner Kraft zu retten vermögen,


Die Devortatiönsfrage vor dem deutschen Zuristentage in Posen

Sträflingen — er nannte die Zahl hundert — beschränken müsse, und in einem
Briefe (abgedruckt in einer Schrift des Pfarrer Dr. Sehfarth: „Hinter eisernen
Gittern") sagt Herr Leutwein wörtlich: „Ich halte mich zu einem abschließenden
Urteil über die Deportationsfrage nicht befähigt, da letzteres überhaupt nur an
der Hand von Erfahrungen gewonnen werden kann. Um solche zu gewinnen,
muß indessen ein Versuch gewagt werden, und wurde ich daher die Frage,
ob ein solcher (aber nur ein solcher) empfehlenswert sein würde, unbedingt
bejahend beantworten."

Ganz derselben Ansicht, d. h. für einen Versuch sind übrigens die besten
Kenner unsers Schutzgebiets wie Kurt von Franyois, Dr. Esser und Franz
von Bülow. Ein solcher Versuch verursacht weder große Kosten noch sonst
irgend welche Nachteile für das Reich. Wenn irgend wo, so gilt in Sachen
des Strafvollzugs, insbesondre in Sachen der Deportation der Satz, daß
Probiren über Studiren geht. Soviel steht fest, daß sich durch die Einführung
der Deportationsstrafe die ungeheuern Kosten des Strafvollzugs mit der Zeit
fehr vermindern werden. Diese Summen würden dann zum größten Nutzen
des Reichs in seinem Schutzgebiete verwertet werden. Gerade in Deutsch-
Südwestafrika ist die Vermehrung intelligenter Arbeitskräfte eine Lebensfrage.
Hier fehlt es an Händen, während in den Strafanstalten des Mutterlandes
die Kräfte vergeudet werden.

Auch in sozialpolitischer Hinsicht kann die Deportationsstrafe für Deutsch¬
land, das an Übervölkerung leidet (der Geburtenüberschuß beträgt jährlich
600000), von hervorragender Bedeutung werden; denn die Hauptquelle der
meisten Verbrechen ist hier die Not, entstanden aus der Schwierigkeit der
Erwerbsverhültnisse. Sie treibt alljährlich Tausende von Volksgenossen, und
nicht die schlechtesten, für die ihr Vaterland zu eng ist, übers Meer, wo sie
sich in der neuen Heimat mit der äußersten Anspannung aller Kräfte ein
menschenwürdiges Dasein gründen. Die Unglücklichen aber, denen die Mittel
fehlen, ihr unbarmherziges Geschick zu ändern, die schon durch die Not entkräftet,
entmutigt und demoralisirt sind, sie sind die Kandidaten unsrer Zuchthäuser.
Die Not ist die Hauptursache ihrer schlechten Erziehung und der sich daran
knüpfenden Verkommenheit, die schließlich zum Verbrechen führen muß. Können
alle diese Personen im Vaterlande nicht mit lohnender Arbeit versehen werden,
so kann wenigstens denen, die wegen Arbeitsscheu wiederholt im Arbeitshause
gesessen haben, oder die durch Begehung von Eigentumsdelikten schon ihre
Unfähigkeit, sich selber zu ernähren, bewiesen haben, ferner den Personen, die
wiederholt durch ihr unsittliches Verhalten die Kulturgemeinschaft gestört haben
und deshalb dem Strafrichter verfallen sind, die Möglichkeit gewährt werden,
ihre Kräfte in einer für ihr eignes und das Wohl des Vaterlandes geeigneten
Weise zu verwerten. Der Staat muß diese Unglücklichen zwangsweise in eine
Lage setzen, wo sich energische Naturen aus eigner Kraft zu retten vermögen,


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[0577] Die Devortatiönsfrage vor dem deutschen Zuristentage in Posen Sträflingen — er nannte die Zahl hundert — beschränken müsse, und in einem Briefe (abgedruckt in einer Schrift des Pfarrer Dr. Sehfarth: „Hinter eisernen Gittern") sagt Herr Leutwein wörtlich: „Ich halte mich zu einem abschließenden Urteil über die Deportationsfrage nicht befähigt, da letzteres überhaupt nur an der Hand von Erfahrungen gewonnen werden kann. Um solche zu gewinnen, muß indessen ein Versuch gewagt werden, und wurde ich daher die Frage, ob ein solcher (aber nur ein solcher) empfehlenswert sein würde, unbedingt bejahend beantworten." Ganz derselben Ansicht, d. h. für einen Versuch sind übrigens die besten Kenner unsers Schutzgebiets wie Kurt von Franyois, Dr. Esser und Franz von Bülow. Ein solcher Versuch verursacht weder große Kosten noch sonst irgend welche Nachteile für das Reich. Wenn irgend wo, so gilt in Sachen des Strafvollzugs, insbesondre in Sachen der Deportation der Satz, daß Probiren über Studiren geht. Soviel steht fest, daß sich durch die Einführung der Deportationsstrafe die ungeheuern Kosten des Strafvollzugs mit der Zeit fehr vermindern werden. Diese Summen würden dann zum größten Nutzen des Reichs in seinem Schutzgebiete verwertet werden. Gerade in Deutsch- Südwestafrika ist die Vermehrung intelligenter Arbeitskräfte eine Lebensfrage. Hier fehlt es an Händen, während in den Strafanstalten des Mutterlandes die Kräfte vergeudet werden. Auch in sozialpolitischer Hinsicht kann die Deportationsstrafe für Deutsch¬ land, das an Übervölkerung leidet (der Geburtenüberschuß beträgt jährlich 600000), von hervorragender Bedeutung werden; denn die Hauptquelle der meisten Verbrechen ist hier die Not, entstanden aus der Schwierigkeit der Erwerbsverhültnisse. Sie treibt alljährlich Tausende von Volksgenossen, und nicht die schlechtesten, für die ihr Vaterland zu eng ist, übers Meer, wo sie sich in der neuen Heimat mit der äußersten Anspannung aller Kräfte ein menschenwürdiges Dasein gründen. Die Unglücklichen aber, denen die Mittel fehlen, ihr unbarmherziges Geschick zu ändern, die schon durch die Not entkräftet, entmutigt und demoralisirt sind, sie sind die Kandidaten unsrer Zuchthäuser. Die Not ist die Hauptursache ihrer schlechten Erziehung und der sich daran knüpfenden Verkommenheit, die schließlich zum Verbrechen führen muß. Können alle diese Personen im Vaterlande nicht mit lohnender Arbeit versehen werden, so kann wenigstens denen, die wegen Arbeitsscheu wiederholt im Arbeitshause gesessen haben, oder die durch Begehung von Eigentumsdelikten schon ihre Unfähigkeit, sich selber zu ernähren, bewiesen haben, ferner den Personen, die wiederholt durch ihr unsittliches Verhalten die Kulturgemeinschaft gestört haben und deshalb dem Strafrichter verfallen sind, die Möglichkeit gewährt werden, ihre Kräfte in einer für ihr eignes und das Wohl des Vaterlandes geeigneten Weise zu verwerten. Der Staat muß diese Unglücklichen zwangsweise in eine Lage setzen, wo sich energische Naturen aus eigner Kraft zu retten vermögen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/577>, abgerufen am 12.12.2024.