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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Hundert Jahre Landwirtschaft in Deutschland

sich der Reichtum vieler unsrer Grundherren aus jener Zeit (d. h. aus den
vierziger und fünfziger Jahren) herschreibt, die Verarmten aber ihr Herabkommen
meistenteils ihrem beschränkten Verstände zuzuschreiben haben."

Auch diese Bereicherung der größern Landwirte hatte ihre Kehrseite an der
Not eines großen Teils der Bevölkerung. In Oberschlesien wütete 1847 der
Hungertyphus, und die ganzen fünfziger Jahre hindurch litt die ärmere Be¬
völkerung sehr empfindlich unter den hohen Getreidepreisen bei noch nicht ganz
überwundner Kartoffelkrankheit. Der Verkehr war hinlänglich entwickelt, einen
flotten Export deutschen Getreides nach Schweden und England im Gange zu
erhalten, aber noch nicht genug, aus entlegnern Gegenden für die notleidende
einheimische Bevölkerung Brot herbeizuschaffen. Nur schlechte ungarische und
rumänische Getreidesorten, die zu einem groben, schwer verdaulichen Brote ver¬
backen wurden, brachten einige Erleichterung. Den Gutsbesitzern schmeckten
natürlich die hohen Preise, aber trotzdem daß diese noch länger anhielten,
stiegen doch von den sechziger Jahren ab einige Wölkchen an ihrem Himmel
auf. Das Rapsöl wurde durch das Petroleum, die einheimische Wolle durch
die australische verdrängt. Das zweite Unheil, unter dem am meisten die
schlesischen Landwirte litten, hatten diese selbst heraufbeschworen, indem sie mit
dem Verkauf von Zuchtmiddern nach Australien gute Geschäfte gemacht hatten.
Sie halfen sich zunächst damit, daß sie mehr auf Fleisch- als auf Wollproduk¬
tion züchteten; später haben sie die Schafzucht fast ganz aufgegeben und sich
an der Zuckerrübe schadlos gehalten, bis sie die Überproduktion von Zucker in
den Zuckerkrach stürzte.

Vorher schon, von 1879 an, hatte die amerikanische, dann die indische
und die argentinische Weizeneinfuhr nebst der russischen Noggencinfuhr ange-
fangen, gefährlich zu werden. Die Getreidepreise gingen zurück, und die be¬
ginnenden Notstandsklagen veranlaßten die Untersuchungen des Vereins für
Sozialpolitik, die von 1883 an veröffentlicht worden sind. Der Hauptsache
uach haben sie ergeben, was jeder denkende Kenner des deutschen Vaterlands
voraussehen mußte, daß nämlich bei der ungeheuern Verschiedenheit der land¬
wirtschaftlichen Zustände in seinen verschiednen Gauen der Ausdruck "deutsche
Landwirtschaft" nur einen logischen Begriff bezeichnet, nicht ein wirkliches ein¬
heitliches Wesen, von dem matt irgend etwas aussagen könnte. Wenn demnach
jemand sagt: Die deutsche Landwirtschaft blüht, oder sie ist in Not, oder sie
braucht diese oder jene Änderung der Gesetze, so muß man ihn zuvörderst
fragen: Meinst du die Landwirtschaft im Regierungsbezirk Trier, oder die im
Regierungsbezirk Gumbinnen oder die in Oberbayern, meinst du Ritterguts¬
besitzer, Bauern oder Ackerhäusler? Geht er auf die Spezialisirung nicht ein.
so lasse man ihn stehen, denn es kann dann keine Diskussion, sondern nur ein
Gerede ins Blaue herauskommen. Der rheinische Rebbaucr und der nieder-
schlesische Großbauer, der Bauer in den Gemeinden Westdeutschlands, von


Hundert Jahre Landwirtschaft in Deutschland

sich der Reichtum vieler unsrer Grundherren aus jener Zeit (d. h. aus den
vierziger und fünfziger Jahren) herschreibt, die Verarmten aber ihr Herabkommen
meistenteils ihrem beschränkten Verstände zuzuschreiben haben."

Auch diese Bereicherung der größern Landwirte hatte ihre Kehrseite an der
Not eines großen Teils der Bevölkerung. In Oberschlesien wütete 1847 der
Hungertyphus, und die ganzen fünfziger Jahre hindurch litt die ärmere Be¬
völkerung sehr empfindlich unter den hohen Getreidepreisen bei noch nicht ganz
überwundner Kartoffelkrankheit. Der Verkehr war hinlänglich entwickelt, einen
flotten Export deutschen Getreides nach Schweden und England im Gange zu
erhalten, aber noch nicht genug, aus entlegnern Gegenden für die notleidende
einheimische Bevölkerung Brot herbeizuschaffen. Nur schlechte ungarische und
rumänische Getreidesorten, die zu einem groben, schwer verdaulichen Brote ver¬
backen wurden, brachten einige Erleichterung. Den Gutsbesitzern schmeckten
natürlich die hohen Preise, aber trotzdem daß diese noch länger anhielten,
stiegen doch von den sechziger Jahren ab einige Wölkchen an ihrem Himmel
auf. Das Rapsöl wurde durch das Petroleum, die einheimische Wolle durch
die australische verdrängt. Das zweite Unheil, unter dem am meisten die
schlesischen Landwirte litten, hatten diese selbst heraufbeschworen, indem sie mit
dem Verkauf von Zuchtmiddern nach Australien gute Geschäfte gemacht hatten.
Sie halfen sich zunächst damit, daß sie mehr auf Fleisch- als auf Wollproduk¬
tion züchteten; später haben sie die Schafzucht fast ganz aufgegeben und sich
an der Zuckerrübe schadlos gehalten, bis sie die Überproduktion von Zucker in
den Zuckerkrach stürzte.

Vorher schon, von 1879 an, hatte die amerikanische, dann die indische
und die argentinische Weizeneinfuhr nebst der russischen Noggencinfuhr ange-
fangen, gefährlich zu werden. Die Getreidepreise gingen zurück, und die be¬
ginnenden Notstandsklagen veranlaßten die Untersuchungen des Vereins für
Sozialpolitik, die von 1883 an veröffentlicht worden sind. Der Hauptsache
uach haben sie ergeben, was jeder denkende Kenner des deutschen Vaterlands
voraussehen mußte, daß nämlich bei der ungeheuern Verschiedenheit der land¬
wirtschaftlichen Zustände in seinen verschiednen Gauen der Ausdruck „deutsche
Landwirtschaft" nur einen logischen Begriff bezeichnet, nicht ein wirkliches ein¬
heitliches Wesen, von dem matt irgend etwas aussagen könnte. Wenn demnach
jemand sagt: Die deutsche Landwirtschaft blüht, oder sie ist in Not, oder sie
braucht diese oder jene Änderung der Gesetze, so muß man ihn zuvörderst
fragen: Meinst du die Landwirtschaft im Regierungsbezirk Trier, oder die im
Regierungsbezirk Gumbinnen oder die in Oberbayern, meinst du Ritterguts¬
besitzer, Bauern oder Ackerhäusler? Geht er auf die Spezialisirung nicht ein.
so lasse man ihn stehen, denn es kann dann keine Diskussion, sondern nur ein
Gerede ins Blaue herauskommen. Der rheinische Rebbaucr und der nieder-
schlesische Großbauer, der Bauer in den Gemeinden Westdeutschlands, von


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[0535] Hundert Jahre Landwirtschaft in Deutschland sich der Reichtum vieler unsrer Grundherren aus jener Zeit (d. h. aus den vierziger und fünfziger Jahren) herschreibt, die Verarmten aber ihr Herabkommen meistenteils ihrem beschränkten Verstände zuzuschreiben haben." Auch diese Bereicherung der größern Landwirte hatte ihre Kehrseite an der Not eines großen Teils der Bevölkerung. In Oberschlesien wütete 1847 der Hungertyphus, und die ganzen fünfziger Jahre hindurch litt die ärmere Be¬ völkerung sehr empfindlich unter den hohen Getreidepreisen bei noch nicht ganz überwundner Kartoffelkrankheit. Der Verkehr war hinlänglich entwickelt, einen flotten Export deutschen Getreides nach Schweden und England im Gange zu erhalten, aber noch nicht genug, aus entlegnern Gegenden für die notleidende einheimische Bevölkerung Brot herbeizuschaffen. Nur schlechte ungarische und rumänische Getreidesorten, die zu einem groben, schwer verdaulichen Brote ver¬ backen wurden, brachten einige Erleichterung. Den Gutsbesitzern schmeckten natürlich die hohen Preise, aber trotzdem daß diese noch länger anhielten, stiegen doch von den sechziger Jahren ab einige Wölkchen an ihrem Himmel auf. Das Rapsöl wurde durch das Petroleum, die einheimische Wolle durch die australische verdrängt. Das zweite Unheil, unter dem am meisten die schlesischen Landwirte litten, hatten diese selbst heraufbeschworen, indem sie mit dem Verkauf von Zuchtmiddern nach Australien gute Geschäfte gemacht hatten. Sie halfen sich zunächst damit, daß sie mehr auf Fleisch- als auf Wollproduk¬ tion züchteten; später haben sie die Schafzucht fast ganz aufgegeben und sich an der Zuckerrübe schadlos gehalten, bis sie die Überproduktion von Zucker in den Zuckerkrach stürzte. Vorher schon, von 1879 an, hatte die amerikanische, dann die indische und die argentinische Weizeneinfuhr nebst der russischen Noggencinfuhr ange- fangen, gefährlich zu werden. Die Getreidepreise gingen zurück, und die be¬ ginnenden Notstandsklagen veranlaßten die Untersuchungen des Vereins für Sozialpolitik, die von 1883 an veröffentlicht worden sind. Der Hauptsache uach haben sie ergeben, was jeder denkende Kenner des deutschen Vaterlands voraussehen mußte, daß nämlich bei der ungeheuern Verschiedenheit der land¬ wirtschaftlichen Zustände in seinen verschiednen Gauen der Ausdruck „deutsche Landwirtschaft" nur einen logischen Begriff bezeichnet, nicht ein wirkliches ein¬ heitliches Wesen, von dem matt irgend etwas aussagen könnte. Wenn demnach jemand sagt: Die deutsche Landwirtschaft blüht, oder sie ist in Not, oder sie braucht diese oder jene Änderung der Gesetze, so muß man ihn zuvörderst fragen: Meinst du die Landwirtschaft im Regierungsbezirk Trier, oder die im Regierungsbezirk Gumbinnen oder die in Oberbayern, meinst du Ritterguts¬ besitzer, Bauern oder Ackerhäusler? Geht er auf die Spezialisirung nicht ein. so lasse man ihn stehen, denn es kann dann keine Diskussion, sondern nur ein Gerede ins Blaue herauskommen. Der rheinische Rebbaucr und der nieder- schlesische Großbauer, der Bauer in den Gemeinden Westdeutschlands, von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/535>, abgerufen am 12.12.2024.