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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Hundert Jahre Landwirtschaft in Deutschland

die Mehrkosten aufgewogen wird, beweist die Steigerung der Pachtzinsen, die
in unserm Jahrhundert bis in die letzten Jahrzehnte hinein gedauert hat, und
die ohne Steigerung des Reinertrags nicht möglich gewesen wäre. Daß der
Rohertrag nur sehr allmählich gesteigert werden kann, wenn der Reinertrag
nicht durch die Kosten verloren gehen soll, und daß die Steigerung ihre
-- allerdings theoretisch nicht zu ermittelnde -- Grenze hat, versteht sich von
selbst, und da bei günstiger Konjunktur von den Sanguinikern beides über¬
sehen zu werden pflegt, so kann es ihnen nicht schaden, wenn Pessimisten ihren
hochgespannter Erwartungen einen Dämpfer aufsetzen. Es scheinen damals
Anschläge vorgekommen zu sein, die an die Rechnung von Lafontaines Luft¬
schlösser bauenden Milchmädchen erinnern. So wurden die 60 Gänse eines
Gutes auf 9000 Thäler geschützt. Man rechnete nämlich: jede Gaus kaun
jeden Sommer 12 Güuslein ausbrüten, jede junge Gans kann um 12 Groschen
verkauft werden. Jede Gans bringt demnach jährlich 6 Thaler, stellt also
beim vierprozentigen Zinsfuß ein Kapital von 150 Thalern dar; folglich sind
die 60 Gänse 9000 Thaler wert; der ganze Hühnerhof wurde nach dieser
famosen Methode auf 20000 Thaler geschätzt. Da haben wir zugleich ein
ergötzliches Beispiel davon, was unkritische Köpfe für Unheil anrichten, wenn
sie die Praxis nach allgemeinen Sätzen regeln, die, wie der Satz von der Er¬
mittlung des Kapitalwerts durch Multiplikation des Ertrags nach dem Zinsfuß,
an sich ganz richtig sein können, die sie aber nur mechanisch und daher falsch
anzuwenden vermögen.

Der Verfasser begeht jedoch selbst diesen Fehler, indem er meint, wenn
der Kulturfortschritt den Bodenertrag vermehrt hätte, so müßten die Getreide-
Preise nicht gestiegen, sondern gefallen sein. Daß Ertragvermehrung den Preis
erniedrigt, soweit ihr nicht der Bevölkerungszuwachs das Gleichgewicht hält,
ist an sich richtig; er vergißt aber, daß die Verwüstungen, die damals der Krieg
anrichtete, der Steigerung des Ertrags entgegenwirkten, und daß durch den
bessern Anbau Mißernten nicht gänzlich ausgeschlossen werden.. Einen andern
Grund der Preissteigerung giebt er selbst an: die Geldvermehrnng. Sein all¬
gemeiner Satz ist sehr beherzigenswert; er hält ihn der Behauptung entgegen,
daß hohe Getreidepreise die Bodenkultur förderten. Auch das ist richtig, und
solche periodisch eintretende Förderung mag für die Allgemeinheit sehr nützlich
sein, aber die Landwirte sollten nicht übersehen, daß jede Steigerung der Preise
ihrer Produkte, wenn sie die Bodenkultur fördert, sehr bald sich selbst auf¬
hebt; deun in dem Grade, wie die Produktenmenge steigt, sinkt natürlich der
Preis. Vollkommen richtig ist ferner die Bemerkung des Anonymus, daß eine
Preissteigerung dem Produzenten einer gewissen Klasse nur nütze, wenn sie
auf seine Ware beschränkt bleibe, weil eine gleichmäßige Steigerung aller
Preise deu Vorteil, den der Verkäufer hat, durch den Nachteil aufwiege, den
er als Käufer erleidet. Nun sei aber ein einseitiges Steigen der Preise für


Hundert Jahre Landwirtschaft in Deutschland

die Mehrkosten aufgewogen wird, beweist die Steigerung der Pachtzinsen, die
in unserm Jahrhundert bis in die letzten Jahrzehnte hinein gedauert hat, und
die ohne Steigerung des Reinertrags nicht möglich gewesen wäre. Daß der
Rohertrag nur sehr allmählich gesteigert werden kann, wenn der Reinertrag
nicht durch die Kosten verloren gehen soll, und daß die Steigerung ihre
— allerdings theoretisch nicht zu ermittelnde — Grenze hat, versteht sich von
selbst, und da bei günstiger Konjunktur von den Sanguinikern beides über¬
sehen zu werden pflegt, so kann es ihnen nicht schaden, wenn Pessimisten ihren
hochgespannter Erwartungen einen Dämpfer aufsetzen. Es scheinen damals
Anschläge vorgekommen zu sein, die an die Rechnung von Lafontaines Luft¬
schlösser bauenden Milchmädchen erinnern. So wurden die 60 Gänse eines
Gutes auf 9000 Thäler geschützt. Man rechnete nämlich: jede Gaus kaun
jeden Sommer 12 Güuslein ausbrüten, jede junge Gans kann um 12 Groschen
verkauft werden. Jede Gans bringt demnach jährlich 6 Thaler, stellt also
beim vierprozentigen Zinsfuß ein Kapital von 150 Thalern dar; folglich sind
die 60 Gänse 9000 Thaler wert; der ganze Hühnerhof wurde nach dieser
famosen Methode auf 20000 Thaler geschätzt. Da haben wir zugleich ein
ergötzliches Beispiel davon, was unkritische Köpfe für Unheil anrichten, wenn
sie die Praxis nach allgemeinen Sätzen regeln, die, wie der Satz von der Er¬
mittlung des Kapitalwerts durch Multiplikation des Ertrags nach dem Zinsfuß,
an sich ganz richtig sein können, die sie aber nur mechanisch und daher falsch
anzuwenden vermögen.

Der Verfasser begeht jedoch selbst diesen Fehler, indem er meint, wenn
der Kulturfortschritt den Bodenertrag vermehrt hätte, so müßten die Getreide-
Preise nicht gestiegen, sondern gefallen sein. Daß Ertragvermehrung den Preis
erniedrigt, soweit ihr nicht der Bevölkerungszuwachs das Gleichgewicht hält,
ist an sich richtig; er vergißt aber, daß die Verwüstungen, die damals der Krieg
anrichtete, der Steigerung des Ertrags entgegenwirkten, und daß durch den
bessern Anbau Mißernten nicht gänzlich ausgeschlossen werden.. Einen andern
Grund der Preissteigerung giebt er selbst an: die Geldvermehrnng. Sein all¬
gemeiner Satz ist sehr beherzigenswert; er hält ihn der Behauptung entgegen,
daß hohe Getreidepreise die Bodenkultur förderten. Auch das ist richtig, und
solche periodisch eintretende Förderung mag für die Allgemeinheit sehr nützlich
sein, aber die Landwirte sollten nicht übersehen, daß jede Steigerung der Preise
ihrer Produkte, wenn sie die Bodenkultur fördert, sehr bald sich selbst auf¬
hebt; deun in dem Grade, wie die Produktenmenge steigt, sinkt natürlich der
Preis. Vollkommen richtig ist ferner die Bemerkung des Anonymus, daß eine
Preissteigerung dem Produzenten einer gewissen Klasse nur nütze, wenn sie
auf seine Ware beschränkt bleibe, weil eine gleichmäßige Steigerung aller
Preise deu Vorteil, den der Verkäufer hat, durch den Nachteil aufwiege, den
er als Käufer erleidet. Nun sei aber ein einseitiges Steigen der Preise für


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[0479] Hundert Jahre Landwirtschaft in Deutschland die Mehrkosten aufgewogen wird, beweist die Steigerung der Pachtzinsen, die in unserm Jahrhundert bis in die letzten Jahrzehnte hinein gedauert hat, und die ohne Steigerung des Reinertrags nicht möglich gewesen wäre. Daß der Rohertrag nur sehr allmählich gesteigert werden kann, wenn der Reinertrag nicht durch die Kosten verloren gehen soll, und daß die Steigerung ihre — allerdings theoretisch nicht zu ermittelnde — Grenze hat, versteht sich von selbst, und da bei günstiger Konjunktur von den Sanguinikern beides über¬ sehen zu werden pflegt, so kann es ihnen nicht schaden, wenn Pessimisten ihren hochgespannter Erwartungen einen Dämpfer aufsetzen. Es scheinen damals Anschläge vorgekommen zu sein, die an die Rechnung von Lafontaines Luft¬ schlösser bauenden Milchmädchen erinnern. So wurden die 60 Gänse eines Gutes auf 9000 Thäler geschützt. Man rechnete nämlich: jede Gaus kaun jeden Sommer 12 Güuslein ausbrüten, jede junge Gans kann um 12 Groschen verkauft werden. Jede Gans bringt demnach jährlich 6 Thaler, stellt also beim vierprozentigen Zinsfuß ein Kapital von 150 Thalern dar; folglich sind die 60 Gänse 9000 Thaler wert; der ganze Hühnerhof wurde nach dieser famosen Methode auf 20000 Thaler geschätzt. Da haben wir zugleich ein ergötzliches Beispiel davon, was unkritische Köpfe für Unheil anrichten, wenn sie die Praxis nach allgemeinen Sätzen regeln, die, wie der Satz von der Er¬ mittlung des Kapitalwerts durch Multiplikation des Ertrags nach dem Zinsfuß, an sich ganz richtig sein können, die sie aber nur mechanisch und daher falsch anzuwenden vermögen. Der Verfasser begeht jedoch selbst diesen Fehler, indem er meint, wenn der Kulturfortschritt den Bodenertrag vermehrt hätte, so müßten die Getreide- Preise nicht gestiegen, sondern gefallen sein. Daß Ertragvermehrung den Preis erniedrigt, soweit ihr nicht der Bevölkerungszuwachs das Gleichgewicht hält, ist an sich richtig; er vergißt aber, daß die Verwüstungen, die damals der Krieg anrichtete, der Steigerung des Ertrags entgegenwirkten, und daß durch den bessern Anbau Mißernten nicht gänzlich ausgeschlossen werden.. Einen andern Grund der Preissteigerung giebt er selbst an: die Geldvermehrnng. Sein all¬ gemeiner Satz ist sehr beherzigenswert; er hält ihn der Behauptung entgegen, daß hohe Getreidepreise die Bodenkultur förderten. Auch das ist richtig, und solche periodisch eintretende Förderung mag für die Allgemeinheit sehr nützlich sein, aber die Landwirte sollten nicht übersehen, daß jede Steigerung der Preise ihrer Produkte, wenn sie die Bodenkultur fördert, sehr bald sich selbst auf¬ hebt; deun in dem Grade, wie die Produktenmenge steigt, sinkt natürlich der Preis. Vollkommen richtig ist ferner die Bemerkung des Anonymus, daß eine Preissteigerung dem Produzenten einer gewissen Klasse nur nütze, wenn sie auf seine Ware beschränkt bleibe, weil eine gleichmäßige Steigerung aller Preise deu Vorteil, den der Verkäufer hat, durch den Nachteil aufwiege, den er als Käufer erleidet. Nun sei aber ein einseitiges Steigen der Preise für

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/479>, abgerufen am 24.07.2024.