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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Judentum und Revolution

gegeben werden, die theoretisch und in ihrem praktischen Verhalten das größte
Gewicht ans die Thatsache legen, daß Jesus Christus nach dem Fleisch, wie
der Apostel sagt, doch auch ein Jude gewesen ist.


Die Rasseufrage

Die neuere Geschichtsforschung und Geschichtsbetrachtung, die überall be¬
müht ist, sich von der Herrschaft der früher üblichen teleologischen Abstrak¬
tionen loszumachen und mehr dem Ursächlichen im Entwicklungsprozeß der
einzelnen Volker und der gesamten Menschheit nachzugehen, pflegt mit sehr viel
größerm Nachdruck, als dies früher der Fall war, die Nasseeigenschaften und
deren Verschiedenheit hervorzuheben. Dabei kann man nicht umhin, auch den
Antipathien Aufmerksamkeit zu schenken, die erfahrungsmäßig bei gegenseitiger
Berührung von Bevölkerungsgruppen, die aus verschiednen Nassen hervor¬
gegangen sind, zu Tage treten. Da es indessen bis jetzt nicht gelungen ist und
voraussichtlich auch nicht gelingen wird, irgendwo auf der Erdoberfläche zwei
neben einander wohnende Nassen zu entdecken, die jeglicher Entwicklung in der
Kultur bar wären, so ist klar, daß die Frage durch die Erfahrung niemals
wird genau beantwortet werden können, ob ein zu Antipathien reizender Gegen¬
satz aus der natürlichen, biologischen Rassenverschiedenheit erklärt werden kann
und nicht vielmehr einer historisch erwachsenen Besonderheit der Kultur zu¬
geschrieben werden muß.

Heinrich von Treitschke will die Antipathie zwischen Weißen und Negern
auf rein natürliche Ursachen zurückführen, indem er (Politik S. 275) schreibt:
"Zwischen der weißen und der schwarzen Rasse besteht ein körperlicher Ekel;
der Weiße kann es nicht zwischen Negern in einem geschlossenen Raum aus¬
halten. Die Staaten Amerikas müssen auf den Eisenbahnen sogenannte Neger¬
waggons halten, weil die Weißen die scharfe Ausdünstung des Negers auf die
Dauer nicht ertragen." Das Beispiel beweist gar nichts für die These einer
in der Naturbeschaffenheit der Nassen begründeten Antipathie. Nichts ist ver¬
änderlicher, von äußern Einflüssen und von Gewohnheiten abhängiger, als die
Beschaffenheit des Geruchsinns. Daß der Jankee von heute den Neger nicht
riechen mag, ist gewiß; aber es ist nicht einmal mit Sicherheit nachzuweisen, ob
beim ersten Seefahrer angelsächsischen Stammes, der in Afrika landete, schon
dasselbe der Fall war. Die Differenzirung zwischen Schwarzen und Weißen
liegt aber jedenfalls um eine erkleckliche Anzahl von Jahrtausenden zurück.
Was können wir von den Hautausdünstungeu und Gernchsaffektivnen jener
weit entlegnen Zeiten wissen?

Der als patriotisch gesinnter Publizist und als glänzender Darsteller der
staatlichen Geschichte Preußens und Deutschlands so hoch stehende Gelehrte
hat überhaupt an Oberflächlichkeit in der Behandlung der Nassentheorie, und
der Judenfrage insbesondre, geradezu Erstaunliches geleistet und viel dazu ben


Judentum und Revolution

gegeben werden, die theoretisch und in ihrem praktischen Verhalten das größte
Gewicht ans die Thatsache legen, daß Jesus Christus nach dem Fleisch, wie
der Apostel sagt, doch auch ein Jude gewesen ist.


Die Rasseufrage

Die neuere Geschichtsforschung und Geschichtsbetrachtung, die überall be¬
müht ist, sich von der Herrschaft der früher üblichen teleologischen Abstrak¬
tionen loszumachen und mehr dem Ursächlichen im Entwicklungsprozeß der
einzelnen Volker und der gesamten Menschheit nachzugehen, pflegt mit sehr viel
größerm Nachdruck, als dies früher der Fall war, die Nasseeigenschaften und
deren Verschiedenheit hervorzuheben. Dabei kann man nicht umhin, auch den
Antipathien Aufmerksamkeit zu schenken, die erfahrungsmäßig bei gegenseitiger
Berührung von Bevölkerungsgruppen, die aus verschiednen Nassen hervor¬
gegangen sind, zu Tage treten. Da es indessen bis jetzt nicht gelungen ist und
voraussichtlich auch nicht gelingen wird, irgendwo auf der Erdoberfläche zwei
neben einander wohnende Nassen zu entdecken, die jeglicher Entwicklung in der
Kultur bar wären, so ist klar, daß die Frage durch die Erfahrung niemals
wird genau beantwortet werden können, ob ein zu Antipathien reizender Gegen¬
satz aus der natürlichen, biologischen Rassenverschiedenheit erklärt werden kann
und nicht vielmehr einer historisch erwachsenen Besonderheit der Kultur zu¬
geschrieben werden muß.

Heinrich von Treitschke will die Antipathie zwischen Weißen und Negern
auf rein natürliche Ursachen zurückführen, indem er (Politik S. 275) schreibt:
„Zwischen der weißen und der schwarzen Rasse besteht ein körperlicher Ekel;
der Weiße kann es nicht zwischen Negern in einem geschlossenen Raum aus¬
halten. Die Staaten Amerikas müssen auf den Eisenbahnen sogenannte Neger¬
waggons halten, weil die Weißen die scharfe Ausdünstung des Negers auf die
Dauer nicht ertragen." Das Beispiel beweist gar nichts für die These einer
in der Naturbeschaffenheit der Nassen begründeten Antipathie. Nichts ist ver¬
änderlicher, von äußern Einflüssen und von Gewohnheiten abhängiger, als die
Beschaffenheit des Geruchsinns. Daß der Jankee von heute den Neger nicht
riechen mag, ist gewiß; aber es ist nicht einmal mit Sicherheit nachzuweisen, ob
beim ersten Seefahrer angelsächsischen Stammes, der in Afrika landete, schon
dasselbe der Fall war. Die Differenzirung zwischen Schwarzen und Weißen
liegt aber jedenfalls um eine erkleckliche Anzahl von Jahrtausenden zurück.
Was können wir von den Hautausdünstungeu und Gernchsaffektivnen jener
weit entlegnen Zeiten wissen?

Der als patriotisch gesinnter Publizist und als glänzender Darsteller der
staatlichen Geschichte Preußens und Deutschlands so hoch stehende Gelehrte
hat überhaupt an Oberflächlichkeit in der Behandlung der Nassentheorie, und
der Judenfrage insbesondre, geradezu Erstaunliches geleistet und viel dazu ben


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[0465] Judentum und Revolution gegeben werden, die theoretisch und in ihrem praktischen Verhalten das größte Gewicht ans die Thatsache legen, daß Jesus Christus nach dem Fleisch, wie der Apostel sagt, doch auch ein Jude gewesen ist. Die Rasseufrage Die neuere Geschichtsforschung und Geschichtsbetrachtung, die überall be¬ müht ist, sich von der Herrschaft der früher üblichen teleologischen Abstrak¬ tionen loszumachen und mehr dem Ursächlichen im Entwicklungsprozeß der einzelnen Volker und der gesamten Menschheit nachzugehen, pflegt mit sehr viel größerm Nachdruck, als dies früher der Fall war, die Nasseeigenschaften und deren Verschiedenheit hervorzuheben. Dabei kann man nicht umhin, auch den Antipathien Aufmerksamkeit zu schenken, die erfahrungsmäßig bei gegenseitiger Berührung von Bevölkerungsgruppen, die aus verschiednen Nassen hervor¬ gegangen sind, zu Tage treten. Da es indessen bis jetzt nicht gelungen ist und voraussichtlich auch nicht gelingen wird, irgendwo auf der Erdoberfläche zwei neben einander wohnende Nassen zu entdecken, die jeglicher Entwicklung in der Kultur bar wären, so ist klar, daß die Frage durch die Erfahrung niemals wird genau beantwortet werden können, ob ein zu Antipathien reizender Gegen¬ satz aus der natürlichen, biologischen Rassenverschiedenheit erklärt werden kann und nicht vielmehr einer historisch erwachsenen Besonderheit der Kultur zu¬ geschrieben werden muß. Heinrich von Treitschke will die Antipathie zwischen Weißen und Negern auf rein natürliche Ursachen zurückführen, indem er (Politik S. 275) schreibt: „Zwischen der weißen und der schwarzen Rasse besteht ein körperlicher Ekel; der Weiße kann es nicht zwischen Negern in einem geschlossenen Raum aus¬ halten. Die Staaten Amerikas müssen auf den Eisenbahnen sogenannte Neger¬ waggons halten, weil die Weißen die scharfe Ausdünstung des Negers auf die Dauer nicht ertragen." Das Beispiel beweist gar nichts für die These einer in der Naturbeschaffenheit der Nassen begründeten Antipathie. Nichts ist ver¬ änderlicher, von äußern Einflüssen und von Gewohnheiten abhängiger, als die Beschaffenheit des Geruchsinns. Daß der Jankee von heute den Neger nicht riechen mag, ist gewiß; aber es ist nicht einmal mit Sicherheit nachzuweisen, ob beim ersten Seefahrer angelsächsischen Stammes, der in Afrika landete, schon dasselbe der Fall war. Die Differenzirung zwischen Schwarzen und Weißen liegt aber jedenfalls um eine erkleckliche Anzahl von Jahrtausenden zurück. Was können wir von den Hautausdünstungeu und Gernchsaffektivnen jener weit entlegnen Zeiten wissen? Der als patriotisch gesinnter Publizist und als glänzender Darsteller der staatlichen Geschichte Preußens und Deutschlands so hoch stehende Gelehrte hat überhaupt an Oberflächlichkeit in der Behandlung der Nassentheorie, und der Judenfrage insbesondre, geradezu Erstaunliches geleistet und viel dazu ben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/465>, abgerufen am 12.12.2024.