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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Tastbare Malerei

wären sie mit einem Kopfhalter photographirt. Die Geburt der Maria sei
noch außerdem verdorben durch ein antikes Relief, womit der Künstler sich als
Altertumskenner brüsten wolle (aber thun das nicht fast alle bis Lionardo und
Michelangelo?), und durch die allbekannte Figur der Magd, die "in einer Ge¬
wandung, als wühlte ein wahrer Wirbelsturm darin herum, Wasser ausgießt,
was Geschicklichkeit in der Darstellung von Bewegung zeigen soll." Wie man
sieht, hat hier dem Verfasser sein Verdruß über den Mangel an Tastwerten
die Freude an den Vorzügen dieses köstlichen Frestanten vergällt. Ghir-
landajos Kunst hat nicht nur äußere Pracht, sondern auch Größe und Ernst,
aber sie ist nicht tief, zu den eigentlichen Erfindern gehört Ghirlandajo nicht,
auch war er kein Spezialist der Form, kein "wissenschaftlicher" Maler, wie
Paolo Uccelli oder Andrea del Ccistagno. Wenn es aber Befriedigung gewährt,
das, was viele im Laufe eines längern Zeitraums suchen, finden und unter
einander verschieden darstellen, am Schluß der Periode von einem glücklich zu¬
sammengefaßt zu sehen, so hat Ghirlandajo ganz gewiß seinen Platz in der
Malerei der Frührenaissance ausgefüllt.

Außer der Tastbarkeit behandelt Berenson ausführlicher einige andre Eigen¬
schaften seiner Bilder (nicht alle, z. B. nicht die Farbe), vor allem "drei
Richtungen," in denen die Malerei nach Masaccio, namentlich durch Pollajuolo
und Verrocchio gefördert worden sei: "Landschaft, Bewegung und das Nackte."
Diese Zusammenstellung, Seite 58, ist nicht glücklich. Landschaft und Nacktes
sind Stoffgebiete, Bewegung ist etwas formales, was auch mit dem Nackten
verbunden sogleich bei Antonio Pollajuolo abgehandelt wird. Die Darstellung
der Bewegung hätte neben die des Raumes (des Verfassers Tastwerte) gestellt
werden müssen. Ganz gelegentlich erscheinen beide Begriffe so gestellt einige
Seiten früher bei Domenico Veneziano. Aber die Tattilität hat es dem Ver¬
fasser offenbar derart angethan, daß sie eine Abteilung für sich bilden muß
und überall als der Demiurg, der Maschinengott, durchbricht und einspringt,
nicht immer zur Vereinfachung der Sache. Nehmen wir z. B., was Berenson
über die Behandlung der Landschaft bei den einzelnen Künstlern sagt: Giotto,
Fiesole, Masaccio, Filippo Lippi. Das ist natürlich, hübsch, verständlich.
Aber nun kommt die Landschaft Pollajuolos und Verrocchios, modellirt wie
Bildhauerarbeit, scharf umrissen, deutlich in den Formen bis in die Ferne,
ohne Luftperspektive und Farbenabtönung; sie ist ganz korrekt und als Porträt
einer bestimmten Gegend nicht uninteressant, aber ohne die Stimmung eines
Naturbildes. Der Leser wird sich bei diesen kurzen Worten annähernd denken
können, was gemeint ist. Nun höre er jedoch Berensons Analyse. Es sei
wohl ein Genuß, eine derartige Landschaft zu betrachten, aber nur ein solcher,
wie er von Taktilwerten vermittelt werde. Anstatt die Schwierigkeit zu haben,
wie in der Natur, ferne Punkte deutlich zu unterscheiden, sähen wir sie hier
vollkommen und ohne Anstrengung und fühlten infolge dessen eine große Be-


Tastbare Malerei

wären sie mit einem Kopfhalter photographirt. Die Geburt der Maria sei
noch außerdem verdorben durch ein antikes Relief, womit der Künstler sich als
Altertumskenner brüsten wolle (aber thun das nicht fast alle bis Lionardo und
Michelangelo?), und durch die allbekannte Figur der Magd, die „in einer Ge¬
wandung, als wühlte ein wahrer Wirbelsturm darin herum, Wasser ausgießt,
was Geschicklichkeit in der Darstellung von Bewegung zeigen soll." Wie man
sieht, hat hier dem Verfasser sein Verdruß über den Mangel an Tastwerten
die Freude an den Vorzügen dieses köstlichen Frestanten vergällt. Ghir-
landajos Kunst hat nicht nur äußere Pracht, sondern auch Größe und Ernst,
aber sie ist nicht tief, zu den eigentlichen Erfindern gehört Ghirlandajo nicht,
auch war er kein Spezialist der Form, kein „wissenschaftlicher" Maler, wie
Paolo Uccelli oder Andrea del Ccistagno. Wenn es aber Befriedigung gewährt,
das, was viele im Laufe eines längern Zeitraums suchen, finden und unter
einander verschieden darstellen, am Schluß der Periode von einem glücklich zu¬
sammengefaßt zu sehen, so hat Ghirlandajo ganz gewiß seinen Platz in der
Malerei der Frührenaissance ausgefüllt.

Außer der Tastbarkeit behandelt Berenson ausführlicher einige andre Eigen¬
schaften seiner Bilder (nicht alle, z. B. nicht die Farbe), vor allem „drei
Richtungen," in denen die Malerei nach Masaccio, namentlich durch Pollajuolo
und Verrocchio gefördert worden sei: „Landschaft, Bewegung und das Nackte."
Diese Zusammenstellung, Seite 58, ist nicht glücklich. Landschaft und Nacktes
sind Stoffgebiete, Bewegung ist etwas formales, was auch mit dem Nackten
verbunden sogleich bei Antonio Pollajuolo abgehandelt wird. Die Darstellung
der Bewegung hätte neben die des Raumes (des Verfassers Tastwerte) gestellt
werden müssen. Ganz gelegentlich erscheinen beide Begriffe so gestellt einige
Seiten früher bei Domenico Veneziano. Aber die Tattilität hat es dem Ver¬
fasser offenbar derart angethan, daß sie eine Abteilung für sich bilden muß
und überall als der Demiurg, der Maschinengott, durchbricht und einspringt,
nicht immer zur Vereinfachung der Sache. Nehmen wir z. B., was Berenson
über die Behandlung der Landschaft bei den einzelnen Künstlern sagt: Giotto,
Fiesole, Masaccio, Filippo Lippi. Das ist natürlich, hübsch, verständlich.
Aber nun kommt die Landschaft Pollajuolos und Verrocchios, modellirt wie
Bildhauerarbeit, scharf umrissen, deutlich in den Formen bis in die Ferne,
ohne Luftperspektive und Farbenabtönung; sie ist ganz korrekt und als Porträt
einer bestimmten Gegend nicht uninteressant, aber ohne die Stimmung eines
Naturbildes. Der Leser wird sich bei diesen kurzen Worten annähernd denken
können, was gemeint ist. Nun höre er jedoch Berensons Analyse. Es sei
wohl ein Genuß, eine derartige Landschaft zu betrachten, aber nur ein solcher,
wie er von Taktilwerten vermittelt werde. Anstatt die Schwierigkeit zu haben,
wie in der Natur, ferne Punkte deutlich zu unterscheiden, sähen wir sie hier
vollkommen und ohne Anstrengung und fühlten infolge dessen eine große Be-


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[0317] Tastbare Malerei wären sie mit einem Kopfhalter photographirt. Die Geburt der Maria sei noch außerdem verdorben durch ein antikes Relief, womit der Künstler sich als Altertumskenner brüsten wolle (aber thun das nicht fast alle bis Lionardo und Michelangelo?), und durch die allbekannte Figur der Magd, die „in einer Ge¬ wandung, als wühlte ein wahrer Wirbelsturm darin herum, Wasser ausgießt, was Geschicklichkeit in der Darstellung von Bewegung zeigen soll." Wie man sieht, hat hier dem Verfasser sein Verdruß über den Mangel an Tastwerten die Freude an den Vorzügen dieses köstlichen Frestanten vergällt. Ghir- landajos Kunst hat nicht nur äußere Pracht, sondern auch Größe und Ernst, aber sie ist nicht tief, zu den eigentlichen Erfindern gehört Ghirlandajo nicht, auch war er kein Spezialist der Form, kein „wissenschaftlicher" Maler, wie Paolo Uccelli oder Andrea del Ccistagno. Wenn es aber Befriedigung gewährt, das, was viele im Laufe eines längern Zeitraums suchen, finden und unter einander verschieden darstellen, am Schluß der Periode von einem glücklich zu¬ sammengefaßt zu sehen, so hat Ghirlandajo ganz gewiß seinen Platz in der Malerei der Frührenaissance ausgefüllt. Außer der Tastbarkeit behandelt Berenson ausführlicher einige andre Eigen¬ schaften seiner Bilder (nicht alle, z. B. nicht die Farbe), vor allem „drei Richtungen," in denen die Malerei nach Masaccio, namentlich durch Pollajuolo und Verrocchio gefördert worden sei: „Landschaft, Bewegung und das Nackte." Diese Zusammenstellung, Seite 58, ist nicht glücklich. Landschaft und Nacktes sind Stoffgebiete, Bewegung ist etwas formales, was auch mit dem Nackten verbunden sogleich bei Antonio Pollajuolo abgehandelt wird. Die Darstellung der Bewegung hätte neben die des Raumes (des Verfassers Tastwerte) gestellt werden müssen. Ganz gelegentlich erscheinen beide Begriffe so gestellt einige Seiten früher bei Domenico Veneziano. Aber die Tattilität hat es dem Ver¬ fasser offenbar derart angethan, daß sie eine Abteilung für sich bilden muß und überall als der Demiurg, der Maschinengott, durchbricht und einspringt, nicht immer zur Vereinfachung der Sache. Nehmen wir z. B., was Berenson über die Behandlung der Landschaft bei den einzelnen Künstlern sagt: Giotto, Fiesole, Masaccio, Filippo Lippi. Das ist natürlich, hübsch, verständlich. Aber nun kommt die Landschaft Pollajuolos und Verrocchios, modellirt wie Bildhauerarbeit, scharf umrissen, deutlich in den Formen bis in die Ferne, ohne Luftperspektive und Farbenabtönung; sie ist ganz korrekt und als Porträt einer bestimmten Gegend nicht uninteressant, aber ohne die Stimmung eines Naturbildes. Der Leser wird sich bei diesen kurzen Worten annähernd denken können, was gemeint ist. Nun höre er jedoch Berensons Analyse. Es sei wohl ein Genuß, eine derartige Landschaft zu betrachten, aber nur ein solcher, wie er von Taktilwerten vermittelt werde. Anstatt die Schwierigkeit zu haben, wie in der Natur, ferne Punkte deutlich zu unterscheiden, sähen wir sie hier vollkommen und ohne Anstrengung und fühlten infolge dessen eine große Be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/317>, abgerufen am 24.07.2024.