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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Tastbare Malerei

kräftigung der Lebenskapazität. Wenn die Landschaft, wie die meisten Leute
dunkel glaubten, bloß mit den Augen genossen würde, so könnte Pvllajuolos
Behandlung nur noch von den frühen Niederländern und Deutschen übertroffen
werden, die meilenweit entfernte Dinge prcizis und lokalfarbig sehen ließen, als
stünden wir zehn Fuß von ihnen. "Wäre die Landschaft wirklich dies, dann
gäbe es nichts, was unkünstlerischer wäre als Abtönung, Atmosphäre und
xloin g.ir, was alles dazu hilft, entfernte Objekte weniger klar zu machen, und
was deshalb in keiner Weise dahin abzielt, unser Kapazitätsgefühl zu steigern.
Aber thatsächlich ist das Vergnügen, das wir an der wirklichen Landschaft
empfinden, nur in beschränktem Maße Sache des Auges und in hohem Maße
die eines ungewöhnlich intensiven Wohlbefindens. Des Malers Aufgabe ist
daher nicht lediglich, die Tciktilwerte der sichtbaren Objekte wiederzugeben,
sondern rascher und unfehlbarer, als die Natur das thun würde, das Bewußt¬
sein eines ungewöhnlich intensiven Grades von Wohlbefinden zu vermitteln.
Diese Aufgabe, durch rein visuale Mittel Gefühle mitzuteilen, die hauptsächlich
durch nichtvisuale Sinneswahrnehmungen veranlaßt werden, ist so schwierig,
daß erst in unsern Tagen usw." Wir glauben, daß es für Leser, die ein Buch
über florentinische Malerei verstehen können, eines so weiten Umwegs in einer
so einfachen Sache nicht bedurft hätte, daß insonderheit die Taktilwerte hier
ganz unnötig waren, außer wenn etwa dem Leser damit ein Vergnügen bereitet
werden sollte, wie man es vielleicht beim Einüben eines neugelernten Rech¬
nungsansatzes oder auch beim Probiren eines eben gekauften Kunstschlosses
empfinden mag.

Mit großem Genuß haben wir die Charakteristiken von Sandro Botticelli,
Fra Bartolommeo und Andrea del Sarto gelesen. An Fra Bartolommeo
mißfüllt dem Verfasser das Streben nach dem "Runden um jeden Preis," das
Kolossale und Pomphafte; er übertreibt also die Taktilwerte. Sandro sollte
ihm eigentlich aus dem entgegengesetzten Grunde nicht sympathisch sein: er
giebt Umrisse und Bewegung, Dekoration mit Linien und farbigen Flächen,
aber kein hohes Relief, keine vertieften Hintergründe, keine Raumillusion.
Berenson kann sich aber den Reizen dieses eindrucksvoller und ganz besondern
Künstlers nicht entziehen, und er schildert sie lebendig mit natürlichen Aus¬
drücken sowohl als mit Hilfe seiner Formeln: Sandro habe "in seinen glück¬
lichsten Augenblicken eine unvergleichliche Macht, Tastwerte mit Bewegungs¬
werten zu verquicken." Richtiger heißt es gleich darauf: "sie so treu als
möglich in Bewegungswerte umzusetzen." Denn das ists. Sandro verzichtet
oft auf Rundung, auf Licht und Schatten und giebt dafür Konturen, Aus¬
druck der Bewegung, Linien, die an sich unsre Einbildungskraft, unsre Be¬
wegungsvorstellung reizen. "Man stelle sich eine Kunst vor, die gänzlich aus
diesen Quintessenzen von Bewegungswerten besteht, etwas, was sich zu einer
bestimmten Darstellung verhält wie Musik zur Sprache; diese Kunst existirt


Tastbare Malerei

kräftigung der Lebenskapazität. Wenn die Landschaft, wie die meisten Leute
dunkel glaubten, bloß mit den Augen genossen würde, so könnte Pvllajuolos
Behandlung nur noch von den frühen Niederländern und Deutschen übertroffen
werden, die meilenweit entfernte Dinge prcizis und lokalfarbig sehen ließen, als
stünden wir zehn Fuß von ihnen. „Wäre die Landschaft wirklich dies, dann
gäbe es nichts, was unkünstlerischer wäre als Abtönung, Atmosphäre und
xloin g.ir, was alles dazu hilft, entfernte Objekte weniger klar zu machen, und
was deshalb in keiner Weise dahin abzielt, unser Kapazitätsgefühl zu steigern.
Aber thatsächlich ist das Vergnügen, das wir an der wirklichen Landschaft
empfinden, nur in beschränktem Maße Sache des Auges und in hohem Maße
die eines ungewöhnlich intensiven Wohlbefindens. Des Malers Aufgabe ist
daher nicht lediglich, die Tciktilwerte der sichtbaren Objekte wiederzugeben,
sondern rascher und unfehlbarer, als die Natur das thun würde, das Bewußt¬
sein eines ungewöhnlich intensiven Grades von Wohlbefinden zu vermitteln.
Diese Aufgabe, durch rein visuale Mittel Gefühle mitzuteilen, die hauptsächlich
durch nichtvisuale Sinneswahrnehmungen veranlaßt werden, ist so schwierig,
daß erst in unsern Tagen usw." Wir glauben, daß es für Leser, die ein Buch
über florentinische Malerei verstehen können, eines so weiten Umwegs in einer
so einfachen Sache nicht bedurft hätte, daß insonderheit die Taktilwerte hier
ganz unnötig waren, außer wenn etwa dem Leser damit ein Vergnügen bereitet
werden sollte, wie man es vielleicht beim Einüben eines neugelernten Rech¬
nungsansatzes oder auch beim Probiren eines eben gekauften Kunstschlosses
empfinden mag.

Mit großem Genuß haben wir die Charakteristiken von Sandro Botticelli,
Fra Bartolommeo und Andrea del Sarto gelesen. An Fra Bartolommeo
mißfüllt dem Verfasser das Streben nach dem „Runden um jeden Preis," das
Kolossale und Pomphafte; er übertreibt also die Taktilwerte. Sandro sollte
ihm eigentlich aus dem entgegengesetzten Grunde nicht sympathisch sein: er
giebt Umrisse und Bewegung, Dekoration mit Linien und farbigen Flächen,
aber kein hohes Relief, keine vertieften Hintergründe, keine Raumillusion.
Berenson kann sich aber den Reizen dieses eindrucksvoller und ganz besondern
Künstlers nicht entziehen, und er schildert sie lebendig mit natürlichen Aus¬
drücken sowohl als mit Hilfe seiner Formeln: Sandro habe „in seinen glück¬
lichsten Augenblicken eine unvergleichliche Macht, Tastwerte mit Bewegungs¬
werten zu verquicken." Richtiger heißt es gleich darauf: „sie so treu als
möglich in Bewegungswerte umzusetzen." Denn das ists. Sandro verzichtet
oft auf Rundung, auf Licht und Schatten und giebt dafür Konturen, Aus¬
druck der Bewegung, Linien, die an sich unsre Einbildungskraft, unsre Be¬
wegungsvorstellung reizen. „Man stelle sich eine Kunst vor, die gänzlich aus
diesen Quintessenzen von Bewegungswerten besteht, etwas, was sich zu einer
bestimmten Darstellung verhält wie Musik zur Sprache; diese Kunst existirt


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[0318] Tastbare Malerei kräftigung der Lebenskapazität. Wenn die Landschaft, wie die meisten Leute dunkel glaubten, bloß mit den Augen genossen würde, so könnte Pvllajuolos Behandlung nur noch von den frühen Niederländern und Deutschen übertroffen werden, die meilenweit entfernte Dinge prcizis und lokalfarbig sehen ließen, als stünden wir zehn Fuß von ihnen. „Wäre die Landschaft wirklich dies, dann gäbe es nichts, was unkünstlerischer wäre als Abtönung, Atmosphäre und xloin g.ir, was alles dazu hilft, entfernte Objekte weniger klar zu machen, und was deshalb in keiner Weise dahin abzielt, unser Kapazitätsgefühl zu steigern. Aber thatsächlich ist das Vergnügen, das wir an der wirklichen Landschaft empfinden, nur in beschränktem Maße Sache des Auges und in hohem Maße die eines ungewöhnlich intensiven Wohlbefindens. Des Malers Aufgabe ist daher nicht lediglich, die Tciktilwerte der sichtbaren Objekte wiederzugeben, sondern rascher und unfehlbarer, als die Natur das thun würde, das Bewußt¬ sein eines ungewöhnlich intensiven Grades von Wohlbefinden zu vermitteln. Diese Aufgabe, durch rein visuale Mittel Gefühle mitzuteilen, die hauptsächlich durch nichtvisuale Sinneswahrnehmungen veranlaßt werden, ist so schwierig, daß erst in unsern Tagen usw." Wir glauben, daß es für Leser, die ein Buch über florentinische Malerei verstehen können, eines so weiten Umwegs in einer so einfachen Sache nicht bedurft hätte, daß insonderheit die Taktilwerte hier ganz unnötig waren, außer wenn etwa dem Leser damit ein Vergnügen bereitet werden sollte, wie man es vielleicht beim Einüben eines neugelernten Rech¬ nungsansatzes oder auch beim Probiren eines eben gekauften Kunstschlosses empfinden mag. Mit großem Genuß haben wir die Charakteristiken von Sandro Botticelli, Fra Bartolommeo und Andrea del Sarto gelesen. An Fra Bartolommeo mißfüllt dem Verfasser das Streben nach dem „Runden um jeden Preis," das Kolossale und Pomphafte; er übertreibt also die Taktilwerte. Sandro sollte ihm eigentlich aus dem entgegengesetzten Grunde nicht sympathisch sein: er giebt Umrisse und Bewegung, Dekoration mit Linien und farbigen Flächen, aber kein hohes Relief, keine vertieften Hintergründe, keine Raumillusion. Berenson kann sich aber den Reizen dieses eindrucksvoller und ganz besondern Künstlers nicht entziehen, und er schildert sie lebendig mit natürlichen Aus¬ drücken sowohl als mit Hilfe seiner Formeln: Sandro habe „in seinen glück¬ lichsten Augenblicken eine unvergleichliche Macht, Tastwerte mit Bewegungs¬ werten zu verquicken." Richtiger heißt es gleich darauf: „sie so treu als möglich in Bewegungswerte umzusetzen." Denn das ists. Sandro verzichtet oft auf Rundung, auf Licht und Schatten und giebt dafür Konturen, Aus¬ druck der Bewegung, Linien, die an sich unsre Einbildungskraft, unsre Be¬ wegungsvorstellung reizen. „Man stelle sich eine Kunst vor, die gänzlich aus diesen Quintessenzen von Bewegungswerten besteht, etwas, was sich zu einer bestimmten Darstellung verhält wie Musik zur Sprache; diese Kunst existirt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/318>, abgerufen am 24.07.2024.