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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Tastbare Malerei

Es liegt nun in der That bei den Malern seit Masaccio ein Hauptreiz in
der Greifbarkeit ihrer Figuren, und der Verfasser versteht es, uns in anregender
und sogar spannender Weise daran zu erinnern, zu zeigen, wie bei Fiesoles
überirdischen Gestalten "die Taktilwerte uus zwingen, die Wirklichkeit der Szenen
als ausgemacht hinzunehmen, obwohl in einer Welt, wo wirkliche Leute,
wir wissen und kümmern uns auch nicht worauf, stehen, sitzen und knieen,"
wie Masaccios ungeheurer Fortschritt und sein "nie versagendes Gefühl für
materielle Signifikanz" ihn veranlaßte, durch einzelne Figuren, Gruppen und
landschaftliche Umgebung "gnr rasch unsre Tastvorstellung anzuregen," wie
Pollajuolo wiederum dieses Gefühl bedeutend gesteigert zeigt und nur noch
von Michelangelo darin übertroffen wird. Andre Künstler wieder zeigen um¬
gekehrt "kein echtes Gefühl" für diese Werte, so Filippo Lippi, dessen Reize
ganz wo anders liegen, oder Benozzo Gozzoli, dessen kostbares Talent erdrückt
wird von "dem Verderben aller Genremalerei, unbedeutendem Detail und posi¬
tivem schlechtem Geschmack." Nicht gerade passend wird bei diesem an Teniers
erinnert. "In seinen Fresken im Palast Riccardi ist er bereits soweit gesunken,
daß er des Florentiner Lehrlings Traum von einem Feiertage auf dem Lande
am Se. Johannistage schildert; aber was für ein naives Ideal von Luxus
und Glanz ist das! Hiermit begann der Zauber, in dem er die Welt sah, zu
schwinden, und in seinen Pisanischen Fresken haben wir gar manchen leckern
Bissen von Genre, aber nie wieder das Feenmärchen!" Gewiß eine berückende
Schilderung! Aber wenn der Verfasser darin recht hat, so fragt der nach¬
denkende Leser verwundert, welches denn "seine frühern Werke" sein sollen,
deren Zauber niemand zu widerstehen vermöge? Wir bestimmen Benozzos
Anteil an den Aufgaben der florentinischen Malerei wesentlich anders. Ihn,
der keine einzige Form anatomisch erschöpfen konnte und wollte (so wenig wie
sein Lehrer Fiesole), führte seine Entwicklung natürlich zu einer für ihn be¬
sondern Gattung, eben jenen Fresken, leicht, reich und willkürlich in der Er¬
findung, leichtgeschürzt und schnellgeformt, heiter und anregend zum Ansehen
und Weiterdenken. Wir sollen froh sein, daß er, anstatt andern nachznstümpern,
sich in seinen Neigungen gehen ließ; sonst wäre die florentinische Malerei um
eine reizende Spezialität ärmer. Am schlechtesten kommt Domenico Ghirlandajo
weg. Alles, meint Verenson, was Fleiß, was Liebe zu seiner Beschäftigung,
was sogar Talent für einen Menschen thun können, thaten sie sür ihn, aber
unglücklicherweise hatte er auch nicht einen Funken von Genius. Er wußte
Masaceios Taktilwerte, Pollajuolos Bewegung, Verrocchios Lichteffekte (?) zu
schätze", und es glückte ihm, alles das so zu überzuckern, daß der Philister von
Florenz sagen konnte: Das ist mein Mann. Seine Fresken in S. Maria
Novella seien mit unnützen Nebendingen überfüllt wie eine illustrirte Zeitung,
undekorativ und nur in einzelnen Figuren signifikant, aber auch diese, darunter
die berühmten Familienporträts, seien durch Putz entstellt und so steif, als


Grenzboten IV 1808 3V
Tastbare Malerei

Es liegt nun in der That bei den Malern seit Masaccio ein Hauptreiz in
der Greifbarkeit ihrer Figuren, und der Verfasser versteht es, uns in anregender
und sogar spannender Weise daran zu erinnern, zu zeigen, wie bei Fiesoles
überirdischen Gestalten „die Taktilwerte uus zwingen, die Wirklichkeit der Szenen
als ausgemacht hinzunehmen, obwohl in einer Welt, wo wirkliche Leute,
wir wissen und kümmern uns auch nicht worauf, stehen, sitzen und knieen,"
wie Masaccios ungeheurer Fortschritt und sein „nie versagendes Gefühl für
materielle Signifikanz" ihn veranlaßte, durch einzelne Figuren, Gruppen und
landschaftliche Umgebung „gnr rasch unsre Tastvorstellung anzuregen," wie
Pollajuolo wiederum dieses Gefühl bedeutend gesteigert zeigt und nur noch
von Michelangelo darin übertroffen wird. Andre Künstler wieder zeigen um¬
gekehrt „kein echtes Gefühl" für diese Werte, so Filippo Lippi, dessen Reize
ganz wo anders liegen, oder Benozzo Gozzoli, dessen kostbares Talent erdrückt
wird von „dem Verderben aller Genremalerei, unbedeutendem Detail und posi¬
tivem schlechtem Geschmack." Nicht gerade passend wird bei diesem an Teniers
erinnert. „In seinen Fresken im Palast Riccardi ist er bereits soweit gesunken,
daß er des Florentiner Lehrlings Traum von einem Feiertage auf dem Lande
am Se. Johannistage schildert; aber was für ein naives Ideal von Luxus
und Glanz ist das! Hiermit begann der Zauber, in dem er die Welt sah, zu
schwinden, und in seinen Pisanischen Fresken haben wir gar manchen leckern
Bissen von Genre, aber nie wieder das Feenmärchen!" Gewiß eine berückende
Schilderung! Aber wenn der Verfasser darin recht hat, so fragt der nach¬
denkende Leser verwundert, welches denn „seine frühern Werke" sein sollen,
deren Zauber niemand zu widerstehen vermöge? Wir bestimmen Benozzos
Anteil an den Aufgaben der florentinischen Malerei wesentlich anders. Ihn,
der keine einzige Form anatomisch erschöpfen konnte und wollte (so wenig wie
sein Lehrer Fiesole), führte seine Entwicklung natürlich zu einer für ihn be¬
sondern Gattung, eben jenen Fresken, leicht, reich und willkürlich in der Er¬
findung, leichtgeschürzt und schnellgeformt, heiter und anregend zum Ansehen
und Weiterdenken. Wir sollen froh sein, daß er, anstatt andern nachznstümpern,
sich in seinen Neigungen gehen ließ; sonst wäre die florentinische Malerei um
eine reizende Spezialität ärmer. Am schlechtesten kommt Domenico Ghirlandajo
weg. Alles, meint Verenson, was Fleiß, was Liebe zu seiner Beschäftigung,
was sogar Talent für einen Menschen thun können, thaten sie sür ihn, aber
unglücklicherweise hatte er auch nicht einen Funken von Genius. Er wußte
Masaceios Taktilwerte, Pollajuolos Bewegung, Verrocchios Lichteffekte (?) zu
schätze», und es glückte ihm, alles das so zu überzuckern, daß der Philister von
Florenz sagen konnte: Das ist mein Mann. Seine Fresken in S. Maria
Novella seien mit unnützen Nebendingen überfüllt wie eine illustrirte Zeitung,
undekorativ und nur in einzelnen Figuren signifikant, aber auch diese, darunter
die berühmten Familienporträts, seien durch Putz entstellt und so steif, als


Grenzboten IV 1808 3V
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[0316] Tastbare Malerei Es liegt nun in der That bei den Malern seit Masaccio ein Hauptreiz in der Greifbarkeit ihrer Figuren, und der Verfasser versteht es, uns in anregender und sogar spannender Weise daran zu erinnern, zu zeigen, wie bei Fiesoles überirdischen Gestalten „die Taktilwerte uus zwingen, die Wirklichkeit der Szenen als ausgemacht hinzunehmen, obwohl in einer Welt, wo wirkliche Leute, wir wissen und kümmern uns auch nicht worauf, stehen, sitzen und knieen," wie Masaccios ungeheurer Fortschritt und sein „nie versagendes Gefühl für materielle Signifikanz" ihn veranlaßte, durch einzelne Figuren, Gruppen und landschaftliche Umgebung „gnr rasch unsre Tastvorstellung anzuregen," wie Pollajuolo wiederum dieses Gefühl bedeutend gesteigert zeigt und nur noch von Michelangelo darin übertroffen wird. Andre Künstler wieder zeigen um¬ gekehrt „kein echtes Gefühl" für diese Werte, so Filippo Lippi, dessen Reize ganz wo anders liegen, oder Benozzo Gozzoli, dessen kostbares Talent erdrückt wird von „dem Verderben aller Genremalerei, unbedeutendem Detail und posi¬ tivem schlechtem Geschmack." Nicht gerade passend wird bei diesem an Teniers erinnert. „In seinen Fresken im Palast Riccardi ist er bereits soweit gesunken, daß er des Florentiner Lehrlings Traum von einem Feiertage auf dem Lande am Se. Johannistage schildert; aber was für ein naives Ideal von Luxus und Glanz ist das! Hiermit begann der Zauber, in dem er die Welt sah, zu schwinden, und in seinen Pisanischen Fresken haben wir gar manchen leckern Bissen von Genre, aber nie wieder das Feenmärchen!" Gewiß eine berückende Schilderung! Aber wenn der Verfasser darin recht hat, so fragt der nach¬ denkende Leser verwundert, welches denn „seine frühern Werke" sein sollen, deren Zauber niemand zu widerstehen vermöge? Wir bestimmen Benozzos Anteil an den Aufgaben der florentinischen Malerei wesentlich anders. Ihn, der keine einzige Form anatomisch erschöpfen konnte und wollte (so wenig wie sein Lehrer Fiesole), führte seine Entwicklung natürlich zu einer für ihn be¬ sondern Gattung, eben jenen Fresken, leicht, reich und willkürlich in der Er¬ findung, leichtgeschürzt und schnellgeformt, heiter und anregend zum Ansehen und Weiterdenken. Wir sollen froh sein, daß er, anstatt andern nachznstümpern, sich in seinen Neigungen gehen ließ; sonst wäre die florentinische Malerei um eine reizende Spezialität ärmer. Am schlechtesten kommt Domenico Ghirlandajo weg. Alles, meint Verenson, was Fleiß, was Liebe zu seiner Beschäftigung, was sogar Talent für einen Menschen thun können, thaten sie sür ihn, aber unglücklicherweise hatte er auch nicht einen Funken von Genius. Er wußte Masaceios Taktilwerte, Pollajuolos Bewegung, Verrocchios Lichteffekte (?) zu schätze», und es glückte ihm, alles das so zu überzuckern, daß der Philister von Florenz sagen konnte: Das ist mein Mann. Seine Fresken in S. Maria Novella seien mit unnützen Nebendingen überfüllt wie eine illustrirte Zeitung, undekorativ und nur in einzelnen Figuren signifikant, aber auch diese, darunter die berühmten Familienporträts, seien durch Putz entstellt und so steif, als Grenzboten IV 1808 3V

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/316>, abgerufen am 24.07.2024.