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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Die Sozialpolitik der nächsten Zeit

man gegen die Vergewaltigung der Streikbrecher schärfere Strafen verlangt,
so muß man, um ein gutes Gewissen zu behalten, gleichzeitig diesem Unfuge
steuern. Die Windrichtung, die man jetzt als die in den obern Regierungs¬
kreisen vorherrschende anzusehen gelehrt wird, ist sehr geeignet, diesen Fehler
unten im Übermaß zu steigern. Rücksichtslos wird man deshalb endlich die
zahlreichen Polizeiverwalter und Amtsvorsteher, die noch immer in augenfälliger
Pflichtverletzung die frivolen Vergehungen gegen die Schutzbestimmungen dulden
und vertuschen, zur Verantwortung ziehen müssen, und soweit sich die Schöffen¬
gerichte -- vielleicht dank der so viel gepriesenen Mitwirkung des Laien¬
elements -- unfähig erweisen, den weiten Spielraum in der Strafabmessung,
den ihnen die bestehenden Gesetze durchweg einräumen, gerecht zu benutzen, so
ist ungesäumt gesetzlich dem Mißbrauch ein Damm zu ziehen. Es ist leider
nicht zu bestreiten, daß der böse Wille, gesetzlich vorgeschriebnen Arbeiterschutz
im Interesse der Unternehmer unwirksam zu machen, in Preußen in besonderm
Maße zu finden ist, ja vielfach schon offen zur Schau getragen wird, in dem¬
selben Preußen, wo man durch Menschenalter mit Recht stolz darauf war, daß
Gesetze, die nur auf dem Papiere stünden, nicht denkbar wären. Diesen bösen
Willen zu brechen ist des Königs von Preußen erste und wichtigste Aufgabe
im Kampf gegen die Sozialdemokratie; sie ist noch dringender als die Ände¬
rung des Z 153 der Neichsgewerbeordnung.

Eng damit zusammen hängt in Preußen die Gefahr einer Vernachlässigung
der der Gewerbeaufsicht dienenden Institutionen. Es entspricht den reaktionären
Bestrebungen in der Sozialpolitik, die besondre Gewerbcciufsicht als überflüssig
und lustig darzustellen und die Aufwendungen dafür möglichst beschränkt wissen
zu wollen. Eine über den Interessengegensätzen stehende Regierung wird die
außerordentliche Bedeutung, die gerade für die nächste Zukunft der Gewerbe¬
aufsicht beigelegt werden muß, nicht verkennen, sie wird namentlich über den
Wert nicht zweifelhaft sein, den die unparteiische, unbeeinflußte Feststellung
der Wahrheit durch die Gewerbeaufsichtsbeamten sür sie hat. Sie wird sich
deshalb die Erweiterung und Festigung dieser Institution mit Ernst angelegen
sein lassen müssen und mit den dazu erforderlichen Mitteln nicht geizen dürfen.
Das aber geschieht in neuerer Zeit. Es ist gerade bei diesen Beamten un¬
begreiflich, wie man das überall zu bekämpfende Übermaß viele Jahre lang
nicht fest angestellter, sogenannter außeretatsmcißiger Beamten einreißen lassen
kann, wo alles darauf ankommt, das die Unparteilichkeit und Unbefangenheit
sichernde Beamtenbewußtsein zu Pflegen und zu erhalten.

Mehr ernsten Willen wird man -- um noch auf einzelne besonders brennende
Fragen als Beispiel einzugehen -- auch zu bethätigen haben in dem Kampfe
gegen die Gefahren für die Gesundheit und das Leben der Arbeiter, wie sie
sich in einigen Industriezweigen trotz der modernen Technik infolge der un¬
geheuer gesteigerten Intensität der Arbeit, der Ausnutzung der Naturkräfte und


Die Sozialpolitik der nächsten Zeit

man gegen die Vergewaltigung der Streikbrecher schärfere Strafen verlangt,
so muß man, um ein gutes Gewissen zu behalten, gleichzeitig diesem Unfuge
steuern. Die Windrichtung, die man jetzt als die in den obern Regierungs¬
kreisen vorherrschende anzusehen gelehrt wird, ist sehr geeignet, diesen Fehler
unten im Übermaß zu steigern. Rücksichtslos wird man deshalb endlich die
zahlreichen Polizeiverwalter und Amtsvorsteher, die noch immer in augenfälliger
Pflichtverletzung die frivolen Vergehungen gegen die Schutzbestimmungen dulden
und vertuschen, zur Verantwortung ziehen müssen, und soweit sich die Schöffen¬
gerichte — vielleicht dank der so viel gepriesenen Mitwirkung des Laien¬
elements — unfähig erweisen, den weiten Spielraum in der Strafabmessung,
den ihnen die bestehenden Gesetze durchweg einräumen, gerecht zu benutzen, so
ist ungesäumt gesetzlich dem Mißbrauch ein Damm zu ziehen. Es ist leider
nicht zu bestreiten, daß der böse Wille, gesetzlich vorgeschriebnen Arbeiterschutz
im Interesse der Unternehmer unwirksam zu machen, in Preußen in besonderm
Maße zu finden ist, ja vielfach schon offen zur Schau getragen wird, in dem¬
selben Preußen, wo man durch Menschenalter mit Recht stolz darauf war, daß
Gesetze, die nur auf dem Papiere stünden, nicht denkbar wären. Diesen bösen
Willen zu brechen ist des Königs von Preußen erste und wichtigste Aufgabe
im Kampf gegen die Sozialdemokratie; sie ist noch dringender als die Ände¬
rung des Z 153 der Neichsgewerbeordnung.

Eng damit zusammen hängt in Preußen die Gefahr einer Vernachlässigung
der der Gewerbeaufsicht dienenden Institutionen. Es entspricht den reaktionären
Bestrebungen in der Sozialpolitik, die besondre Gewerbcciufsicht als überflüssig
und lustig darzustellen und die Aufwendungen dafür möglichst beschränkt wissen
zu wollen. Eine über den Interessengegensätzen stehende Regierung wird die
außerordentliche Bedeutung, die gerade für die nächste Zukunft der Gewerbe¬
aufsicht beigelegt werden muß, nicht verkennen, sie wird namentlich über den
Wert nicht zweifelhaft sein, den die unparteiische, unbeeinflußte Feststellung
der Wahrheit durch die Gewerbeaufsichtsbeamten sür sie hat. Sie wird sich
deshalb die Erweiterung und Festigung dieser Institution mit Ernst angelegen
sein lassen müssen und mit den dazu erforderlichen Mitteln nicht geizen dürfen.
Das aber geschieht in neuerer Zeit. Es ist gerade bei diesen Beamten un¬
begreiflich, wie man das überall zu bekämpfende Übermaß viele Jahre lang
nicht fest angestellter, sogenannter außeretatsmcißiger Beamten einreißen lassen
kann, wo alles darauf ankommt, das die Unparteilichkeit und Unbefangenheit
sichernde Beamtenbewußtsein zu Pflegen und zu erhalten.

Mehr ernsten Willen wird man — um noch auf einzelne besonders brennende
Fragen als Beispiel einzugehen — auch zu bethätigen haben in dem Kampfe
gegen die Gefahren für die Gesundheit und das Leben der Arbeiter, wie sie
sich in einigen Industriezweigen trotz der modernen Technik infolge der un¬
geheuer gesteigerten Intensität der Arbeit, der Ausnutzung der Naturkräfte und


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[0028] Die Sozialpolitik der nächsten Zeit man gegen die Vergewaltigung der Streikbrecher schärfere Strafen verlangt, so muß man, um ein gutes Gewissen zu behalten, gleichzeitig diesem Unfuge steuern. Die Windrichtung, die man jetzt als die in den obern Regierungs¬ kreisen vorherrschende anzusehen gelehrt wird, ist sehr geeignet, diesen Fehler unten im Übermaß zu steigern. Rücksichtslos wird man deshalb endlich die zahlreichen Polizeiverwalter und Amtsvorsteher, die noch immer in augenfälliger Pflichtverletzung die frivolen Vergehungen gegen die Schutzbestimmungen dulden und vertuschen, zur Verantwortung ziehen müssen, und soweit sich die Schöffen¬ gerichte — vielleicht dank der so viel gepriesenen Mitwirkung des Laien¬ elements — unfähig erweisen, den weiten Spielraum in der Strafabmessung, den ihnen die bestehenden Gesetze durchweg einräumen, gerecht zu benutzen, so ist ungesäumt gesetzlich dem Mißbrauch ein Damm zu ziehen. Es ist leider nicht zu bestreiten, daß der böse Wille, gesetzlich vorgeschriebnen Arbeiterschutz im Interesse der Unternehmer unwirksam zu machen, in Preußen in besonderm Maße zu finden ist, ja vielfach schon offen zur Schau getragen wird, in dem¬ selben Preußen, wo man durch Menschenalter mit Recht stolz darauf war, daß Gesetze, die nur auf dem Papiere stünden, nicht denkbar wären. Diesen bösen Willen zu brechen ist des Königs von Preußen erste und wichtigste Aufgabe im Kampf gegen die Sozialdemokratie; sie ist noch dringender als die Ände¬ rung des Z 153 der Neichsgewerbeordnung. Eng damit zusammen hängt in Preußen die Gefahr einer Vernachlässigung der der Gewerbeaufsicht dienenden Institutionen. Es entspricht den reaktionären Bestrebungen in der Sozialpolitik, die besondre Gewerbcciufsicht als überflüssig und lustig darzustellen und die Aufwendungen dafür möglichst beschränkt wissen zu wollen. Eine über den Interessengegensätzen stehende Regierung wird die außerordentliche Bedeutung, die gerade für die nächste Zukunft der Gewerbe¬ aufsicht beigelegt werden muß, nicht verkennen, sie wird namentlich über den Wert nicht zweifelhaft sein, den die unparteiische, unbeeinflußte Feststellung der Wahrheit durch die Gewerbeaufsichtsbeamten sür sie hat. Sie wird sich deshalb die Erweiterung und Festigung dieser Institution mit Ernst angelegen sein lassen müssen und mit den dazu erforderlichen Mitteln nicht geizen dürfen. Das aber geschieht in neuerer Zeit. Es ist gerade bei diesen Beamten un¬ begreiflich, wie man das überall zu bekämpfende Übermaß viele Jahre lang nicht fest angestellter, sogenannter außeretatsmcißiger Beamten einreißen lassen kann, wo alles darauf ankommt, das die Unparteilichkeit und Unbefangenheit sichernde Beamtenbewußtsein zu Pflegen und zu erhalten. Mehr ernsten Willen wird man — um noch auf einzelne besonders brennende Fragen als Beispiel einzugehen — auch zu bethätigen haben in dem Kampfe gegen die Gefahren für die Gesundheit und das Leben der Arbeiter, wie sie sich in einigen Industriezweigen trotz der modernen Technik infolge der un¬ geheuer gesteigerten Intensität der Arbeit, der Ausnutzung der Naturkräfte und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/28>, abgerufen am 04.07.2024.